Weihnachtsgeschichten - Adventsgeschichten
Kurzgeschichte Weihnachten Weihnacht Advent
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Es gab Pudding

© Simone Edelberg

Sieglinde erwachte um sechs, so wie sie es fünfzig Jahre lang getan hatte.

Vogelgesang streichelte ihre Ohren, während sie in die Küche ging. Ein Blick aus dem Fenster zeigte ihr noch jemanden, der auf der Suche nach Frühstück war: Ein Buchfink hüpfte im Futterhaus herum, pickte Körner und sang sein Lied.

Eine Weile sah Sieglinde ihm zu, dann stellte sie die Kaffeemaschine an und huschte über die morgenkalten Fliesen ins Bad. Feinmachen war angesagt, denn heute war der 24. Dezember. Sieglinde stand vor dem Spiegel und staunte einen Moment lang über die Landstraßen, die das Leben kreuz und quer über ihre knochigen Wangen gezogen hatte. Sie seufzte den Seufzer einer Frau, die längst die Symptome des Alters akzeptiert hatte. Und machte sich dennoch ans Werk, puderte ihre zerknitterte Haut, malte ihre dünnen Augenbrauen nach und vervollständigte das Bild mit einem Lippenstrich in zartem Rosa.

Sie kehrte zurück ins Schlafzimmer und ging am Bett vorbei zum Kleiderschrank. Das Bett war ein Doppelbett, aber nur die rechte Hälfte wurde benutzt. Sieglinde überlegte, was heute anziehen sollte. Gestern hatte sie ein blaues Kostüm getragen, aber heute wollte sie festlich aussehen. Sie entschied sich für ihren langen schwarzen Rock und eine weiße Bluse. Dazu Pumps, die mussten schon sein an einem Tag wie heute!

Abschließend schob sie ihren Ehering auf den Finger.

Die Kaffeemaschine machte laut blubbernd auf sich aufmerksam. Sieglinde ging in die Küche und goss sich einen Becher Kaffee ein. Sie belegte ein Brötchen so, wie sie es mochte -- eine Hälfte mit Käse, eine Hälfte mit Wurst, keine Butter -- und trug alles zum Esstisch. Sie genoss ihr Frühstück und sah dabei aus dem Küchenfenster auf das Futterhaus im Garten, in dem sich mittlerweile eine große Vogelschar eingefunden hatte: Finken, Spatzen und Meisen, die sich um die Körner balgten.

"Wie lebendig sie sind", dachte sie. "Hanns hat Vögel immer geliebt."

Sieglinde beendete ihr Frühstück und machte sich ausgehfein. Mit einem Korb über dem Arm verließ sie das Haus. Als Erstes führte ihr Weg sie zur Sparkasse. Sie hob genug Geld ab, um ihre Weihnachtseinkäufe machen und Hanns' Extrawünsche erfüllen zu können, die nicht auf dem Plan des Pflegeheims standen. Und dabei war das Heim so teuer! Sie wünschte, sie könnte ihn Zuhause pflegen. Aber sie hatte keine Kraft mehr.

Zehn Jahre hatte sie ihn gepflegt, hatte fünf Schlaganfälle mit ihm durchgestanden, ihm all ihre Liebe geschenkt. War lächelnd auf seine Launen eingegangen und hatte es ihm so bequem wie möglich gemacht. Aber sie war selbst eine alte Frau mit Arthrose. Als der Hausarzt ihr erklärt hatte, dass Hanns' Gedächtnislücken und Stimmungsschwankungen nicht nur Folgen der Schlaganfälle seien, sondern auf Alzheimer hindeuteten, hatte sie die einzig vernünftige Wahl getroffen.

Es war ja nicht so, als ob es ihm im Pflegeheim schlecht ginge! Die Pflegerinnen kümmerten sich rührend um ihn. Aber Hanns jammerte oft, dass das Essen schlecht sei und es nie Pudding gäbe.

Hanns und sein Pudding! Sieglinde lächelte, während sie ihre Schritte zum Supermarkt lenkte. Es war Pudding gewesen, der sie Weihnachten 1945 zusammenbrachte. In einer Zeit, als ein Pfund Butter 320 Reichsmark kostete, in der es aber fast nie Butter gab, und die Leute in den Läden vor leeren Regalen Schlange standen, hatten sie sich kennengelernt. Ihr Bruder hatte Hanns kurz vor Weihnachten mit auf den elterlichen Bauernhof gebracht. Der große, schlaksige Kerl, dessen umgearbeiteter Wehrmachtsmantel um ihn schlotterte, hatte sich ausgehungert auf das Essen gestürzt, das ihre Mutter an jenem Abend auftischte. Als Bauern ging es ihnen nicht schlecht; sie schlachteten selbst und der Tauschhandel blühte. Unter den Speisen war auch eine große Schüssel mit Pudding gewesen, ihrer Spezialität. Hanns hatte fast die ganze Schüssel allein leer gegessen. Und war danach jeden Tag wieder gekommen, um mehr Pudding zu essen. Am Heiligen Abend dann hatte er um ihre Hand angehalten. Als Verlobungsgeschenk überreichte Hanns ihr einen Glasengel, der seiner Oma gehört hatte.

Sieglinde betrat den Supermarkt und steuerte das Kühlregal an. Sie kaufte Hanns' Lieblingspudding, dann Nougatkringel, Blätterkrokantzapfen und den größten Weihnachtsmann aus Schokolade, den sie finden konnte. Im Blumenladen erstand sie ein Weihnachtsgesteck mit einer dicken roten Kerze. Im Pflegeheim hatten sie zwar einen eigenen Weihnachtsbaum. Aber Sieglinde wollte auch Hanns' Zimmer festlich schmücken. Beim Konditor holte sie den bestellten Nussstollen ab. Nun hatte sie alles beisammen.

Ihr Geschenk für Hanns hatte sie schon vor Wochen gefunden. Sieglinde war gespannt, wie er darauf reagieren würde.

Eine Viertelstunde später erreichte sie das Pflegeheim. "Hallo Frau Groh", sagte Samira, eine der Pflegerinnen. "Sind Sie hier, um Ihren Mann zu besuchen?"

"Natürlich! Immerhin ist heute Heiligabend. Ist er fertig?"

"Mariana ist gerade mit ihm zur Toilette gegangen. Er sollte jeden Moment wieder hier sein."

"Wie geht es ihm heute? Hat er gegessen?"

"Es geht ihm so wie immer", antwortete Samira. "Letzte Nacht war er sehr ruhelos und ist aus dem Bett geklettert. Glücklicherweise ist er nicht gestürzt. Heute war er dann sehr müde, hat aber gut gegessen und getrunken."

Sieglinde seufzte. Hanns' Ruhelosigkeit war nicht ungewöhnlich, aber sehr anstrengend für das Pflegepersonal. Sie war froh, dass die Pflegerinnen so viel Geduld hatten.

"Ich habe meinem Mann ein Geschenk mitgebracht", erzählte sie Samira.

"Das ist nett von Ihnen. Darüber wird er sich bestimmt freuen."

"Ich bin sicher, dass es ihm gefallen wird. Oh, da kommt er ja!"

In diesem Moment bog die Pflegerin Mariana um die Ecke und schob Hanns in einem Rollstuhl vor sich her. Wenige Schritte vor Sieglinde stoppte Mariana und beugte sich über Hanns. "Sehen Sie, Herr Groh, Ihre Frau ist gekommen! Ist das nicht schön?"

Hanns sah verstört zu Sieglinde und zog in dem Bemühen, sie zu erkennen, seine Stirn kraus.

"Hallo Schatz", begrüßte Sieglinde ihn. "Fröhliche Weihnachten!"

"Hallo ... Wer sind Sie?", fragte er.

"Ich bin deine Frau, Hanns. Sieglinde."

"Meine Frau?", fragte er.

"Ja, Hanns. Ich bin gekommen, um Weihnachten mit dir zu feiern. Kannst du dich an Weihnachten erinnern?"

Die beiden Pflegerinnen sahen sich unbehaglich an.

"Meine Frau?", fragte Hanns erneut.

"Ja", antwortete Sieglinde. Sie war nicht traurig; zu oft schon hatte sie Momente wie diesen erlebt. Und doch hoffte sie, dass er sich heute an sie erinnern würde. An irgendetwas erinnern würde.

Hanns schaute sie verwirrt an.

"Ich habe dir ein Geschenk mitgebracht." Sieglinde griff in den Korb, zog ein buntes Päckchen hervor und legte es Hanns in den Schoß. Dann knibbelte sie das Geschenkband ab und öffnete es für ihn. Hanns beugte sich neugierig vor. Auf einem roten Samtpolster lag der Glasengel, den er ihr zur Verlobung geschenkt hatte. Sie hatte ihn entdeckt, als sie vor ein paar Wochen den Dachboden aufräumte.

"Erinnerst du dich an den Engel?"

Lange schaute Hanns den Engel an; sein Gesicht so ausdruckslos, als sei es in Stein gemeißelt. Schließlich, nach einer Ewigkeit, verzog sich sein Gesicht zu einem Lächeln. Ein Funke des Erkennens blitzte in seinen wässrigen Augen auf. Er sah Sieglinde an und sagte: "Es gab Pudding zu unserer Verlobung."

Die beiden Pflegerinnen sahen sich überrascht an. Eine Träne rann langsam über Sieglindes rechte Wange, während sie zärtlich Hanns' Hände streichelte. Es war Monate her, dass er sich zuletzt an ihren Namen oder an ihr Gesicht erinnern konnte. Und nun das! Hanns erinnerte sich. Wie lange hatte sie auf diesen Moment gewartet! Sie wusste, er würde sich vermutlich schon morgen nicht mehr erinnern können. Aber dieser eine Moment war alles, worauf sie gehofft hatte.

Hanns sah Sieglinde an.

"Bist du es?", fragte er. "Bist du Sieglinde?"

Sie nickte, Tränen glitzerten in ihren Augen.

"Du siehst hübsch aus. Ich muss ein glücklicher Mann sein."

"Das bist du ganz bestimmt", antwortete sie, während sie weiter seine Hände streichelte.

"Und ich bin eine glückliche Frau. Fröhliche Weihnachten!"

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