Unser Buchtipp Weihnachtsgeschichten

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Eingereicht am
26. März 2007

Weihnachtsgedränge

© Thomas Kleine

Seit auch in Singapur, Saigon und Schanghai Weihnachtsmänner im Dezember vor den Geschäften stehen, herrscht in der himmlischen Zentrale zur Vermittlung adventlicher Hilfskräfte rege Betriebsamkeit, um nicht zu sagen aufregende Hektik. Bereits im Oktober werden alle einsetzbaren Nikoläuse, Weihnachtsmänner, Santa Clauses, Sinterclaase und, wie sie sonst auch immer heißen, zusammengerufen. Auch Engel aller Art müssen sich einfinden. Danach bekommt der Betriebsrat die Einsatzlisten vorgelegt, Überstunden werden beantragt und notfalls Leiharbeiter angeheuert. Manchmal stöhnt der für die Planung zuständige Engel Adventius leise vor sich hin und sehnt die gute, alte Zeit zurück. Gnadenlose Überfüllung herrscht Ende November in der Abfertigungshalle kurz vor der Aussendung.

Und dieses Jahr passierte, wovor die Fachleute - auf die auch im Himmel niemand so recht hören mag - gewarnt hatten: Beim Hinausdrängen stolperte ein alter Nikolaus über sein Gewand, die Weihnachtsmänner jüngerer Generation fielen über ihn, Panik breitete sich aus und die Engel schwirrten wie ein aufgescheuchter Bienenschwarm über den Gestürzten. Schließlich purzelten alle in Richtung Erde.

Gott sei Dank war nicht viel passiert. Nur ein Nikolaus und ein Engel fanden sich in ziemlich lädiertem Zustand auf der Königsstraße in Stuttgart wieder. Wo ist mein Sack? Der Nikolaus wurde blass wie der Pelz an seinem Mantelsaum. Was ist ein Nikolaus ohne Sack? Wie der Bahnhofsturm in Stuttgart ohne Mercedesstern, wie die Heilbronner Straße ohne Stau, wie das Mehrfamilienhaus ohne Kehrwoche, wie Spätzle ohne Soße, wie ein Schwabe ohne Bruddeln.

Alle Suche half nichts. Der Sack blieb verschwunden. Schlimmer jedoch hatte es den Engel getroffen. Sein linker Flügel war abgebrochen. Trotz heftigen Flatterns und Wedelns mit dem übrig gebliebenen Flügel konnte sich das himmlische Wesen keinen Millimeter mehr von der Erde abheben.

Da standen sie nun mitten im vorweihnachtlichen Trubel, die zwei bedauernswerten Gestalten, der Nikolaus ohne Sack und der Engel ohne Flügel.

Was tun? Vor einer Kirche stand ein Schild "Wir haben Zeit für Sie". Eine freundliche Nonne reichte den beiden zur Beruhigung erst mal wärmenden Tee. Aber irgendwie sind auch Ordensfrauen nicht mehr das, was sie mal waren. Sie weigerte sich, die himmlische Herkunft von Engel und Nikolaus anzuerkennen. Stattdessen schickte sie die beiden zur Notübernachtung der Caritas.

Dort störte sich niemand an dem ungewöhnlichen Aussehen der Himmelsboten. Der Nikolaus nahm dankbar einen großen Schluck aus der Flasche, die ihm ein alter Mann wortlos unter die Nase hielt, während der brave Engel bei einem Punk auf der Matratze saß und die erste Zigarette seines Lebens rauchte.

Als die beiden dann morgens beim Frühstück von ihrem Missgeschick erzählten, trat große Stille ein. Keine Tasse klapperte mehr und kein Messer klirrte. Denn keiner war im Raum, der da nicht mitfühlen konnte. Jeder hatte schon mal verloren, was ihm lieb und teuer war. Jeder stand schon mal ohne Sack und Pack da, nur mit den Klamotten, die er am Leib trug. Und jeder von ihnen hatte einen geknickten Flügel, jeder war mal abgestürzt, lag hilflos am Boden. Jeder hatte große Träume gehabt und sich Hoffnungen gemacht, wurde dann aber aus der Bahn geworden, abgedrängt, verletzt.

"Ein Nikolaus ohne Sack, das geht doch nicht!", sagte der Mann, der am Abend zuvor schon seinen Schnaps geteilt hatte. Er zog aus seinem speckigen Parka eine riesige Plastiktüte heraus und ging damit wie ein Pastor bei der Kollekte durch die Reihen. Jeder kramte in seinen Taschen und so mancher Schatz verschwand in der Tüte:

- eine Packung Streichhölzer mit Werbung für ein Café in der Innenstadt,
- eine Opferkerze aus der Kirche St. Eberhard,
- zwei Luftballons mit dem Aufdruck C&A,
- Papierservietten von McDonalds,
- ein Kondom, das die Aidshilfe am Vortag verteilt hat,
- ein Stück Seife von der Heilsarmee,
- eine Tasse mit dem Emblem der Vesperkirche,
- eine alte, verbogene Blechgabel, wie sie früher in Kantinen verwendet wurden, und ein Plastikmesser aus einem Schnellimbiss,
- eine viertel Rolle Klopapier aus dem Breuningerkaufhaus,
- zwei leere Plastikflaschen für den Pfandautomaten bei Lidl,
- ein Strohstern aus der Dekoration des Adventsnachmittags der Leonhardgemeinde,
- frisch gewaschene Socken aus der Kleiderkammer der Caritas,
- ungewaschene Socken aus dem Altkleidercontainer am Rathaus,
- ein Rosenkranz aus der Franziskusstube,
- ein Handtuch mit einem verblassten Aufdruck

und vieles mehr, Dinge eben, die sie gefunden hatten oder die ihnen geschenkt worden waren. Einer legte sogar seinen kostbarsten Besitz in den Sack, ein Schweizer Taschenmesser.

Für den Engel bastelten die Männer einen neuen Flügel aus Goldpapier und Pappe. Einer organisierte sogar noch einige Taubenfedern. Woher er die hatte, wollte der Engel lieber nicht wissen. Der Flügel sah aus wie echt, nur bewegen ließ er sich nicht. Aber besser als nichts, dachte sich der Himmelsbote, der etwas Hoffnung schöpfte.

So stellte sich das seltsame Paar wieder auf die Königsstraße. Schon kamen die ersten Kinder herbei gerannt und griffen ungefragt in den Sack. Verdruckstes Kichern oder blankes Entsetzen - je nach Temperament der Kinder - machte sich breit. Die Erwachsenen aber fingen, nachdem sie einen Moment echt sprachlos waren, furchtbar zu schimpfen an. Das dürfe man doch mit Kindern nicht machen! Das sei doch schädlich für deren empfindsame Psyche! Eine zutiefst traumatische Situation sei das. Kinder wollten Süßigkeiten und keinen Schweinekram.

Immer mehr redeten sich manche Erwachsenen in Rage, einige Mütter versuchten jetzt zu beruhigen, dafür brüllten die Väter umso lauter, Kinder gingen im Gewühl verloren, ein Tumult brach aus, den auch die Polizeistreife, die anfangs demonstrativ in die andere Richtung geschaut hatte, nicht länger ignorierten konnte. Die Staatsdiener verlangten die Ausweise von Nikolaus und Engel und die amtliche Genehmigung, an öffentlichen Plätzen auftreten zu dürfen. Keines von beidem konnten diese vorlegen, weshalb sie auf die nahe Wache geführt wurden. Kein Polizeicomputer aber konnte Auskunft über die himmlischen Gäste geben. Als die Sprache auf die übernatürliche Herkunft kam, nickten die erfahrenen Beamten verständnisvoll. Insgeheim aber wurde schon mit dem psychiatrischen Krankenhaus telefoniert. Zum Glück wiegelte der Dienst habende Arzt ab, in der Adventszeit seien sie regelmäßig überbelegt, und wenn keine akute Suizidgefahr bestünde, möge man doch von einer Einweisung absehen.

Also ließ man den Nikolaus mitsamt dem Engel, begleitet von Ermahnungen und guten Ratschlägen, wieder springen.

Als sie aus dem Polizeirevier auf den Gehweg traten, liefen sie einem anderen Nikolaus in die Arme, der sich müde und erschöpft von einem langen Arbeitstag nach einem ruhigen Plätzchen umschaute. Ein Kollege von der Polizei aufgegriffen! Wut stieg in ihm auf, als er sich die Geschichte angehört hatte. Was erlauben sich die Menschen eigentlich mit uns Nikoläusen und Weihnachtsmännern! Sehen vor lauter Engeln in der Dekoration das Christkind nicht mehr und haben keinen Respekt vor himmlischen Wesen! Erst erwarten die Menschen, dass wir uns in solche dämliche rote Mäntel zwängen, dann verlängern sie Jahr für Jahr die Ladenöffnungszeiten und lassen uns für denselben Lohn länger schuften, selbst an Sonntagen sollen wir jetzt Dienst schieben. Und jetzt verhöhnen sie uns noch! Statt den unsrigen in ihrer Not zu helfen, beschimpft man sie. Wo soll das alles enden? Sprach's und machte sich laut schimpfend auf den Weg. Keine Spur mehr von Müdigkeit, stattdessen stapfte er durch die Straßen der Stadt und trommelte alle Nikoläuse und Engel zusammen und erklärte seinen Plan: "Eine Stadt, die so mit himmlischen Wesen umspringt, verdient unseren Service nicht länger!" Die anderen nickten zustimmend. Also wurden die Säcke zusammengeschnürt, die Engel nahmen die Nikoläuse und den Engel, der seinen Flügel verloren hatte, an den Händen und geleiteten sie sicher zurück in die himmlische Heimat.

So kommt es, dass seither in Stuttgart weder ein echter Nikolaus noch ein echter Engel zur Weihnachtszeit auf den Straßen zu sehen ist. Höchstens vielleicht in den Wärmestuben für Obdachlose.

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