Unser Buchtipp Weihnachtsgeschichten

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Eingereicht am
26. März 2007

Das höchste Gut

© Michael Pick

In den matten, schimmrigen Lichtschein der Straßenlaterne hinein fiel der grieselige Schnee, getrieben von einem kalten, forschen Wind, der durch die kleinste Ritze wirbelte, als bereite es ihm besonderes Vergnügen, alles zu bestreichen und zu durchsuchen. Ein schmächtiger Junge, vielleicht dreizehn Jahre alt, schlürfte rotznasig mit den Händen tief in den Hosentaschen vergraben, die leeren Straßen entlang, den Blick starr nach unten auf den Boden gerichtet, als interessiere es ihn nicht, was um ihn herum vorging.

Der Junge fluchte laut gegen den Wind und dieser Ausbruch bereitete ihm ein kleines Vergnügen inmitten der Bitterkeit, die ihm der Tag bisher gebracht hatte.

An einer Ecke blieb er stehen und schaute grimmig einem Polizisten hinterher, der langsam aus dem Lichtschein der Laterne entschwand. "Hau bloß ab", murmelte er ihm nach und ballte die Fäuste in den Hosentaschen. So'n Uniformierter war das Letzte, was er heute gebrauchen konnte.

Der Mond hatte die Sonne auf ihrem Wachposten hoch oben am Himmel abgelöst, ohne dass es die Menschen unter dem dichten, grauen Mantel der Wolken bemerkt hatten. Der Wind nahm noch an Aufdringlichkeit und Kälte zu und trug seinen frostigen Atem durch die zahlreichen Schlitze und Öffnungen in der flatterigen Kleidung des Jungen.

Das dämmrige Licht der Straßenlaterne erinnerte ihn an ein festlich erleuchtetes Zimmer mit einem gewaltigen Tannenbaum darin, der mit seiner Spitze die hohe Decke des Zimmers streichelte. Der Baum war überreichlich mit glänzendem und süßem Zeug geschmückt und als draußen die Dunkelheit hereinbrach, brannte er in strahlender Pracht. Vor dem Baume knieten drei Menschen. Eine Frau und ein Mann, aneinandergelehnt, Schulter an Schulter und direkt vor ihnen ein Kind, vielleicht drei Jahre alt, emsig damit beschäftigt, den Berg von Geschenken auszupacken, der unter dem Baum aufgestapelt war.

Ein Wagen donnerte vorbei und riss den Jungen aus seinen Träumen, als er die Straßenpfützen auseinander spritzte, wovon der unachtsame Junge einen gehörigen Anteil abbekam.

"Verflucht", der Junge streckte dem Fahrzeug die geballte Faust hinterdrein.

Auf der nassen Haut war der eiskalte Kamerad Wind doppelt schmerzlich auf seiner Haut zu spüren.

Der Junge hockte sich nieder und verschränkte die Arme um die Knie. Er versuchte die Bilder mit dem Baum und den Menschen in seinen Geist zurückzuholen. Doch der Wind und das schmerzlich leere Gefühl in seinem Magen fesselten seine Gedanken an die Wirklichkeit.

Keiner vermochte genau zu sagen, wie lange der Junge auf dem Bürgersteig hockte, als in seinen Blick zwei hochglanzpolierte Schuhe stießen. Akkurat ausgerichtet blieben sie vor ihm stehen, als erwarteten sie ein Zeichen seiner Achtung.

"Verflucht", murmelte der Junge. "Hau ab und lass mich in Ruhe, ja!" ohne aufzublicken.

"Junge", eine warme Stimme, wahrscheinlich hatte der Kerl einen Schal. "Was machst du hier? Hast du dich verlaufen?"

"Blödsinn! Zieh Leine, such dir'n anderen, den du vollquatschen kannst! Bei mir gibt's nichts zu holen!"

"Aber Junge, ich kann dich hier doch nicht alleine und so ungeschützt sitzen lassen! Komm, ich bring dich zu deinen Eltern, zu deinem Heim."

Der Junge würdigte die Stimme mit keinem Blick. "Hau bloß ab, du glattgeleckter Schnösel! Und überhaupt, dass hier is' mein Zuhause und Eltern hab ich keine."

Die Schuhe rückten einen Schritt zurück. "Lieber Junge, das meinst du nicht im Ernst! Du willst nicht in Wirklichkeit behaupten, dass du hier auf dieser kalten und nassen Straße lebst. So etwas gibt es doch gar nicht."

"Was is' mit dir? Schwer von Begriff, was?"

"Schon gut, Junge, schon gut", die Stimme versuchte zu besänftigen. "Also, dein Heim ist die Straße und entsprechend verbringst du Weihnachten hier. Hm, wie würdest du es finden, wenn ich dich heute Abend zu mir einlade? Wir könnten zusammen etwas essen und uns unterhalten. Na, was sagst du dazu?"

"Was ich sage? Hau ab! Ich will allein sein und du bist's, der dabei stört. Ich brauch dein Mitleid nicht. Pack's dir in deine Manteltasche und nimm's mit nach Hause. Verflucht noch mal!"

"Gut, wie du willst", kam es knapp von der öligen Stimme und die glanzpolierten Schuhe drehten ab und tappten hohl die Straße entlang, weg von dem hockenden Jungen. Vor dem vergitterten Schaufenster der Schlachterei, drei Häuser weiter, blieben sie wie beiläufig stehen.

Endlich is' er weg! Für wen der sich wohl hält? Der glaubt doch nich', dass ich mit ihm geh? Die Unterhaltung hatte den Jungen vollends die Konzentration für seinen Traum gekostet. Sein leerer Magen meldete sich energisch. Ein weiteres Mal plusterte der frostkalte Wind das spärliche Hemd auf, das den Körper des Jungen nur dürftig beschützte. Einmal die Hände kurz aufwärmen, wär nich' das Verkehrteste. Verflucht noch mal! Und 'nen fettes Stück Wurst! Sein Magen knurrte genüsslich zur Antwort. Vor den Augen des Jungen baute sich ein Kamin auf, über dessen lustig prasselndes Feuer, eine große, dicke Wurst im Feuer aufplatzte und das Fett in die Glut tropfte.

"He! He, warte mal! Kann ja nich' so unfreundlich sein, heute, wo doch Heiligabend ist. Na ja, hab mir gedacht - wenn dein Angebot ernst gemeint war - geh ich doch mal mit", rief er den polierten Schuhen zu, die interessiert die Fleischstücke besahen, die im Fensterladen aushingen.

Der Junge erhob sich und schlich zaghaft in Richtung der Schuhe. Es stellte sich heraus, dass zu den Schuhen ein Mann gehörte, dessen übrige Kleidung elegant und sauber an ihm herunterhing. Der Mann winkte den Jungen zu sich heran. "Komm, Junge. Schön, dass du es dir anders überlegt hast."

Als sie gemeinsam die Straßen entlanggingen, hielt der Junge einen Abstand von zwei Metern zu dem Mann, der ohne Pause auf ihn einredete. Fünf oder sechs Straßen liefen sie im Grieselschauer, während die Aussicht auf Wärme und Essen den Jungen fast betäubten.

Vor einer festen, dunklen Eichentür, die den Weg zu einem der schmucken Stadthäuser verschloss, blieben sie stehen. Der Mann fingerte aus seiner Manteltasche einen Schlüssel heraus und öffnete die Tür. Er führte den Jungen in ein großes Zimmer mit einer hohen Decke. Während er dem Jungen bedeutete, dass dieser sich in den Sessel setzen sollte, der zu einem schweren, mächtigen Tisch gehörte, begann der Mann umständlich den Kamin zu entfachen, bis fröhliche Flämmchen Wärme auch sichtbar verbreiteten und ein rauchiger Nadelwaldduft zum Jungen strömte, der den Geruch emsig in seine Lungen aufnahm.

Der Junge schmiegte sich in das weiche Leder des Sessels. Der Mann war mit einem Lächeln im Gesicht in einen anderen Raum verschwunden und kam nach einigen Minuten mit einem Braten zurück, der so gewaltig und schwer war, dass er beinahe über die Platte neigte. Der Mann holte noch Teller und Besteck, allerlei anderes Essen und Getränke und setzte sich mit an den Tisch. "Ich hatte den Braten für mich gemacht. Doch so schmeckt er mir noch viel besser", meinte er. "Na dann. Fröhliche Weihnachten. Lang tüchtig zu!"

Der Junge ließ sich dieses Angebot nicht zweimal vortragen und ergriff die dickste Scheibe des Bratens mit beiden Händen. Das heiße Fett triefte zwischen seinen Fingern, doch er schien es nicht zu bemerken und vergrub seine Zähne in das weiße, weiche Fleisch. Mit gierigen Augen beobachte er, wie der Mann sich eine kleine Scheibe auf seinen Teller legte und Stückchenweise verspeiste. Er berechnete, wie viele Stücke er sich noch nehmen konnte, wenn der Mann weiterhin so langsam aß. Wenn es seine knackenden Kiefern zuließen, füllte er die leeren Stellen in seinem Mund mit Käse, Wurst und Früchten, die reichlich aufgetragen waren.

Der Junge hörte erst auf zu essen, als sein Magen überfüllt war. Der Junge sank in den Sessel. Mit halbgeschlossenen Augen, blickte er zum Mann hinüber, der schon lange aufgehört hatte zu essen.

"Danke!", entschlüpfte es dem Jungen.

Der Mann winkte ab. "Ich hoffe, du bist satt geworden."

Für einige Minuten schwiegen sie.

Dann blickte der Mann dem Jungen zuerst forschend, dann hoffnungsvoll, ins Gesicht.

"Junge, hör mal! Hättest du nicht Lust bei mir zu bleiben? Du hättest jeden Tag Essen, Kleidung und ein schützendes Dach. Und ich würde nicht allzu viel von dir verlangen. Vielleicht das eine oder andere Mal, wo du mir aufwarten könntest, gelegentlich nur. Was sagst du dazu?"

Schon als der Mann noch sprach, war der Junge aus seiner satten Stellung aufgehetzt und zum Ende hin, erhob er sich und sprach, "Danke für dein Essen und deine Wärme. Und danke auch für dein Angebot. Doch du verlangst mehr, als ich dir geben kann. Ich müsste dir das geben, was mich am Leben erhält."

Mit diesen Worten verließ der Junge die Wohnung des Mannes und trottete in die Nacht, zu seinem Freund, dem Wind, hinaus.

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