Unser Buchtipp Weihnachtsgeschichten

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Eingereicht am
25. März 2007

Spuren im Schnee

© Bettina Krause

Seine Füße drangen tief in den kalten Schnee ein. Der Wald vor ihm war in der mondklaren Nacht gut zu erkennen. Das kleine Dorf ließ er hinter sich. Er wagte keinen Blick zurück, zu groß war die Angst, verfolgt zu werden. Unweigerlich verrieten die tiefen Spuren im Schnee seine Fährte!

Zudem tropfte die warme Flüssigkeit in den frischen Schnee. Jeder Narr hätte ihn aufspüren können. Er hoffte nur, genug Zeit zu haben, um außer Reichweite zu gelangen, bevor sie sie finden würden. Das junge Mädchen war ihm in die Quere gekommen. Plötzlich standen diese kleinen, wässrigen Augen vor ihm und durchbohrten ihn mit einem starren Blick. In ihrem Gesichtssausdruck erkannte er fürchterliche Angst. Gute Vorbereitung und Beobachtungen hatten ihn so sicher gemacht, allein zu sein. Sie durfte ihn nicht verraten! Sie wollte schreien, doch er ließ es nicht dazu kommen. Er brachte sie mit einem kräftigen Schlag zum Schweigen. Dann sammelte er das ein, weswegen er in die Wohnung gekommen war und verschwand lautlos.

Sein Atem wurde schwerfällig durch die unaufhörliche Anstrengung. Er hob seinen Blick und sah ein kleines Häuschen am Rande des Waldes. Seine Rettung! Er brauchte eine kleine Verschnaufpause, um sich auszuruhen, um sich aufzuwärmen und um neue Kraft für die Flucht zu tanken.

Das Kaminfeuer erfüllte den ganzen Raum mit einer wohltuenden Wärme. Die frisch gebackenen Plätzchen verbreiteten ihren angenehmen Duft bis in jeden Winkel. Auf dem Adventskranz aus grünen Tannenzweigen brannten die vier roten Kerzen. Sie setzte sich in ihren abgenutzten Schaukelstuhl, der mit Kissen und Decken ausgepolstert war, als sie plötzlich ein Stapfen draußen im Schnee vernahm. Regungslos horchte sie nach dem Geräusch, doch kurz danach verstummte es wieder. Sie wandte ihren Blick zu dem Tannenbaum, der bis unter die Decke reichte. Kleine Figürchen hingen an den einzelnen Ästen herunter. Eine kleine Holzfigur an einem unteren Ast fiel ihr sofort ins Auge. Die Figur bestand aus einem grün gekleideten Reiter. Sie konnte sich noch genau an den Zeitpunkt erinnern, an dem sie die Kiste aus dem Ladenregal genommen hatte. Ihre damals beste Freundin überraschte sie an diesem Einkauftag mit einer ungewöhnlichen Nachricht. "Ich werde nach Australien gehen, um zu studieren!" Damals hatte sie sich für ihre Freundin gefreut, doch als sie mit dem Studieren fertig gewesen war, ist sie nie mehr zurückgekehrt! Heute wusste sie nicht, ob sie überhaupt noch lebte. Sie glaubte nicht mehr daran, denn sie hatte seit zwei Jahrzehnten keinen Brief mehr von ihr erhalten.

Ein plötzliches Poltern von draußen störte ihre Gedanken. Das unheimliche Geräusch verstummte nach einem kurzen Moment. Jedoch hallte es noch lange in ihrem geistigen Ohr nach. Schienen ihr die Sinne einen unheimlichen Streich zu spielen? Sie quälte sich aus ihrem Schaukelstuhl, um durch die kleinen Löcher der Rollläden einen Blick nach draußen erspähen zu können.

Immer schwerfälliger wurden seine müden Beine. Der knietiefe Schnee machte ein schnelles Vorankommen unmöglich. Langsam näherte er sich dem kleinen Haus. Aus dem winzigen Schornstein qualmte der Rauch in die klare Winternacht. Als er das Haus erreichte, umrundete er es zunächst vorsichtig, um sicher zu sein, dass er allein hier draußen war. Dann ließ er sich voller Erschöpfung mit Schwung auf die Bank fallen, die an der Hauswand stand. Als er saß, wurde ihm bewusst, dass er nun die Menschen, die in dem Haus lebten, aufmerksam gemacht hatte. Empört über seine eigene Unachtsamkeit, hielt er regungslos inne. Er wagte es nicht zu atmen, geschweige denn sich zu bewegen. Wenn ihn einer sehen würde, könnte er sofort erahnen, welches Grauen auf ihm lag. Seine Jacke war rot besprenkelt und die Stirn voller Schweiß. Die Hände zitterten, sie konnten kaum mehr seine Axt halten, die er verbittert in den Händen hielt. Zu seiner Erleichterung fingen die Glocken im Dorf an zu läuten.

Nun blieb sein verräterisches Atemgeräusch fremden Ohren verborgen.

Sie konnte weder was erkennen, noch etwas hören, da die Kirchenglocken, die zum heiligen Gottesdienst einluden, bis zu ihrem Haus schallten. Mit einem Ruck ließ sie die Rollläden ganz herunter, so dass auch die kleinen Lucken verschlossen wurden. Langsam wanderte sie zu ihrem Stuhl zurück. Der Braten im Ofen fing nun an seine leckeren Aromen mit denen der Plätzchen zu einem wohligem Duft zu vermischen. Durch das gelbliche Licht des Backofens schien der Braten schon dunkelbraun zu sein, doch sie wusste es besser. Viele Braten hatte sie schon in ihrem Leben bereitet, doch keiner ist ihr misslungen. Sie nickte leicht als sie ihren Blick von der Küchennische wieder zu ihrem Baum schwenkte. Die Lichter verteilten sich gleichmäßig über den ganzen Rumpf. Als sie das erste Jahr diese Lichterkette auf einen Baum setzte, war sie gerade mit ihrem Mann zusammen gezogen. Es war die glücklichste Zeit ihres Lebens.

Wenn sie nun auf den leeren Schaukelstuhl neben ihr schaute, schmückten nur noch die Erinnerungen den Platz, der ihrem Liebsten gehörte. Mit ihrem Arm hauchte sie dem Stuhl wieder ein bisschen Leben ein. Jedes Mal, wenn er sich nach vorne bewegte, gab er ein leises Quietschen von sich -- ein Geräusch, das sie nicht mehr wahrnahm, doch das ihr fehlte, wenn sie es nicht hörte.

Ein lautes Geräusch versetzte ihn in einen tiefen Schreck. Eine Welle von Adrenalin schoss durch seine Glieder. Erst als er sich bewusst machte, dass nur jemand die Rollläden runter gelassen hatte, konnte er sich beruhigen. Er musste jedoch gehört worden sein. Still behielt er Fenster und Tür im Auge, doch so lange er auch wartete, nichts regte sich. Sie mussten Angst haben und deswegen hatten sie die Fenster verschlossen. Das könnte ein Vorteil für ihn sein. Langsam stieg ein wohliger Duft von einem frischen Braten in seine Nase. Ein gutes Essen war genau das, was er jetzt brauchte. Einen saftigen Braten vor einem gemütlichen Kamin. Er schaute zum weit entfernten Dorf, dessen Lichter zu ihm herüber schienen. Ganz friedlich lag es vor ihm, keine ungewöhnliche Regung war zu erkennen, eine Tatsache, die sein Inneres beruhigte. Er umschlang seine Axt fester mit seinen Händen. Eine Entscheidung musste getroffen werden. Um in den Himmel zu kommen, war es bereits zu spät, auf eine weitere Tat kam es nicht mehr an. Sein Blick fiel auf die Tür.

Sie erhob sich aus dem wackeligen Stuhl, um den Baum aus der Nähe zu betrachten. Eine der vielen roten Kugeln stach ihr ins Auge. Ihre Erinnerungen schweiften zu dem Jahr, als ihr kleiner Max gerade mal ein Jahr alt war. Er versuchte mit seinen ersten kleinen Schritten die große Welt zu erkunden. Auf einer großen Familienfeier brachte er mehrere dieser kleinen Kugeln zu Fall. Damals war sie etwas erbost darüber, dass ihre neu gekauften Kugeln zu Bruch gingen, doch nun fiel ihr selbst eine rote Christbaumkugel aus der Hand. Die Splitter überzogen den dunkeln Holzboden. Jetzt tat ihr es Leid, dass sie damals ihrem kleinen Sohn böse gewesen war. Zu lange Zeit war vergangen, dass sie ihn das letzte Mal in die Arme geschlossen hatte. Vor vielen Jahren schon musste sie an dem Grab Abschied von ihm nehmen. Sie hoffte ihn bald wieder zu sehen und ahnte nicht wie bald es sein würde.

Plötzlich hörte sie ein lautes Klopfen gegen ihre Fensterläden. Das bedrohliche Geräusch klang lange in dem kleinen Raum nach.* *"Wer ist da?", rief sie verängstigt. Ihre starren Augen fixierten das Fenster.

Sie hatte sich doch nicht geirrt, dass jemand um ihr Haus geschlichen war. Nach ein paar kurzen Schritten stand sie vor dem Fenster und hielt das weiße Band in der Hand. Sollte sie es wagen die Jalousien ein Stück nach oben zu ziehen? Ihre Hände zitterten. Sie entschloss sich schließlich einen Blick zu wagen. Langsam zog sie an dem Band, um durch die kleinen Löcher nach draußen schauen zu können. Ihre Nase klebte an der Scheibe, während ihre Augen geschwind über die Landschaft huschten.

Nichts! Sie konnte nichts sehen, außer Schnee und kleine Lichter in weiter Entfernung. Keiner würde sie hier hören können! Genau in dem Moment sprang ihre Haustür mit einem lauten Knall auf. Jemand stand in ihrer Tür. Sie konnte seinen Atem hören. Dann vernahm sie die dumpfen Schritte näher kommen. Sie wagte sich nicht umzudrehen. Er kam so nah an sie heran, dass sie seinen feuchten Atem in ihrem Nacken spürte. Ihre Hände versuchten verbittert sich an der glatten Fensterbank festzuhalten, denn ihre Beine schienen jeden Moment nachzugeben. Die Angst floss durch ihren gesamten Körper. Ein kalter Wind zog durch ihre leichte Kleidung. Die gemütliche Atmosphäre entwich einem grausamen Schauer. "Wer sind Sie?", fragte ihre zittrige Stimme. Das stumpfe Hecheln dröhnte neben ihrem rechten Ohr. Sie hörte ihn ausholen und wusste, dass sie keine Zeit mehr hatte, ihren Mörder in die Augen zu sehen. Doch anstatt der Angst, machte sich ein Gefühl von Vorfreude breit. Lange hatte sie auf diesen einen Moment gewartet! Zu lange war sie alleine geblieben. Nichts war, was sie auf dieser Welt mehr hielt.

Eine kleine Sekunde nur noch trennte sie von ihrer Freundin, von ihrem Mann und ihrem geliebten Sohn.

Der Braten hatte gut geschmeckt, seine Sachen hatte er vor dem Kamin getrocknet und sich selbst aufgewärmt. Mit frisch gewonnener Kraft verließ er das kleine Haus, in dem die Ruhe eingekehrt war. Er schloss die Tür mit einem Ruck zu, um dann in die kalte Winternacht hinaus in den Wald zu stapfen. Die Spuren wurden von neuem Schnee verdeckt. Am nächsten Morgen war seine Fährte verschwunden. Nur noch eine traurige Schlagzeile in der nächsten Woche erinnerte an zwei grausam ermordete Opfer, dessen Mörder nicht aufgespürt werden konnte.

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