Unser Buchtipp Weihnachtsgeschichten

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Eingereicht am
18. März 2007

Das geraubte Weihnachtsfest

© Hans-Joachim Heider

Wie die Großeltern erklären, dass es keinen Weihnachtsbaum gibt

Am dritten Oktober kamen die Großeltern, des Vaters Eltern, für eine kurze Woche zu Besuch. Roland und Maira freuten sich immer über diese seltenen Besuche. Sie hatten sonst keine Großeltern mehr und diese Großeltern waren die besten auf der Welt. Darüber waren sich die Kinder einig. Bei anderen gewichtigen Fragen spielte Roland gern die Weisheit seiner neun Jahre gegen die vorschulische Intelligenz seiner Schwester aus.

Der Großvater kam kerzengerade daher, er trug volles graues Haar, das ihm bei entsprechender Färbung einen jugendlichen Anflug hätte geben können. Nur hätte er sich gleichzeitig die Handbewegung abgewöhnen müssen, mit der er seine widerspenstige Locke aus der Stirn schob. Seine Hände waren durch Gicht wie geschmiedete Schürhaken verbogen.

Maira liebte diese Hände, die Erinnerungsstücke an ein Leben voll ehrlicher Arbeit waren. Sie konnten großzügig die Brieftasche zücken und den Kopf wie ein wärmendes Mützchen bedecken.

"Was wünschst du dir vom Christkind?", wollte Opa wissen.

Bevor Maira einen bescheidenen Wunsch formulieren konnte, beendete ihre Mutter den fast abgeschlossenen Gedanken.

"Maira kommt nächstes Jahr in die Schule. Wir sollten uns auf vernünftige Dinge konzentrieren."

Omi hob versöhnlich die Hand und sagte: "Vera, sie ist immer noch ein Kind, selbst wenn sie bald ihren Rücken für Schulbücher krümmen muss."

"Schau meinen Rücken an, Omi!", rief Roland. "Ich bin immer noch so gerade wie Opa."

Roland hatte seine Großmutter so, wie er sie am meisten liebte - nämlich wenn sie lächelte. Zu Maira hatte er beim letzten Besuch gesagt: "Wenn sie lächelt, sieht Omi wie ein junges Mädchen aus."

"Sie ist immer noch ziemlich blond", war Mairas Antwort gewesen.

"Ich mag es besonders, wenn sie lacht und mich dabei zwischen ihre Brüste drückt. Das kribbelt so angenehm an meinen Wangen. Omi macht mir so warm."

Der Vater kam mit feierlichem Schritt aus der Küche. Mit beiden Händen hielt er einen Dekanter vor sein Strahlemanngesicht. Er betrachtete das Wohnzimmer durch schwappendes Rot. Die Vergrößerung der bauchigen Flasche streckte seine ohnehin große Nase zu einer Hexennase. Sein gerötetes Lächeln zog sich über den Flaschenbauch wie ein aufgerissenes Haifischmaul mit schwarzem Oberlippenbärtchen. Vier Gläser standen auf der weißen Tischdecke. Der Vater träufelte den Wein wie sein eigenes Herzblut in die Gläser, füllte allerdings Opas Glas nur halb.

"Fängst du an, bei mir zu sparen?"

"Wenn du etwas weniger Gicht hättest, würde ich dir etwas mehr Wein einschenken."

Der Vater setzte zum Nachgießen an, aber Großmutter hielt ihre Hand über das Glas. Am Ringfinger der rechten Hand trug sie den schweren Goldring, auf dem ein blauer Edelstein funkelte. Ein winziger Tropfen Rotwein fiel auf ihren Handrücken. Die Großmutter betrachtete diesen Tropfen. Sie lächelte verschmitzt. Dann streckte sie Großvater ihre Hand unter die Nase.

"Wenn du willst, darfst du den Tropfen ablecken!"

Der Großvater hielt seine Brille wie eine Lupe vor die Augen. Er betrachtete Großmutters Hand und spielte dabei mit seiner Brille. Die Großmutter wollte ihre Hand wieder zurückziehen, aber er schnappte sie gierig. Mit beiden Händen führte er sie an seinen Mund und leckte wie ein treuer Hund den Handrücken.

"Pass auf, dass kein Tropfen auf deine Schuhe fällt. Sonst kommst du auf die Idee, ich solle dir die Füße lecken."

Die Großmutter legte ihren linken Arm um seinen Hals und küsste Großvaters Mund. Die Kinder betrachteten die Szene und wussten nicht, wie sie die Herzlichkeit der älteren Leute einordnen sollten. Opa spannte seine Arme um Omis Schultern und riss sie mit sichtbarer Aufwallung an sich. Roland zwinkerte seiner Schwester zu.

Der Vater schaute irritiert zur Mutter. Er lächelte zwar, aber Roland spürte die Unsicherheit seines Verhaltens.

"Sie lieben sich noch nach vierzig Jahren", erklärte die Mutter. "Nimm dir ein Beispiel, du herzloser Schuft."

Der Vater eilte zur Mutter, zog sie aus ihrem Stuhl hoch und schlang sie in die Arme. Sie küssten sich ausgiebig.

"Sollen sich die Kinder jetzt auch noch küssen?", fragte Roland laut vernehmlich.

"Wenn es nicht ausartet, wie bei euren Großeltern", entgegnete der Vater.

Dieser Satz kündete sozusagen das Ende der Küsserei an und Roland blieb das Küssen seiner Schwester erspart. Sie streckte ihm den zu einem Hasenmäulchen gespitzt Mund entgegen, blieb aber ungeküsst.

"Weshalb sprechen wir eigentlich über Weihnachtsgeschenke?", wollte die Mutter wissen.

Oma und Opa setzten sich wieder sittsam auf ihre Stühle. Opa meinte, dass sie bestimmt erst wieder nach Weihnachten beisammen sein werden.

"Die Entfernung ist zu groß! Zudem macht ihr wohl, wie jedes Jahr, euren Winterurlaub zwischen Weihnachten und Neujahr", fügte Oma hinzu.

Mit einladender Geste rief sie ihren Enkel zu sich.

"Willst du deiner Omi ein Küsschen geben?"

Beide spitzten ihre Münder und tupften vorsichtig die Lippen aneinander. Roland strich über Großmutters Haar, das noch weicher war als Mutters Haar.

"Wisst ihr", sprach sie weiter. "Wir werden uns keinen Baum mehr kaufen. Für uns beide ist das zu viel Aufwand."

Großvater meinte, dass der Kauf zu anstrengend sei und die spätere Entsorgung geradezu eine Qual werde.

"Es sind nicht nur die gefallenen Nadeln", ergänzte er, "auch das Entfernen des Baums wird jedes Jahr schwieriger. - Ja, wenn wir einen Garten hätten ...!"

Es folgte ein versonnener Blick, der durch Mauerwerk und Zeit zu dringen schien.

Roland nahm Mairas Hand. Er führte sie zur Terrassentür. Der rotblumige Vorhang, der sich über die gesamte Fensterfront spannte, war zurückgezogen, sodass sie klare Sicht in den Garten hatten. Dort standen turmhohe Tannenbäume. Das Geäst war durch Läusebefall so durchsichtig geworden, dass hinter dem Garten zwei Häuser erkennbar waren. Eine gewaltige Eiche stand, wie ein brustgeschwellter Recke, vor den Tannen. Die starken Arme ragten nach allen Seiten. Beide liebten diesen Blick. Sie lehnten aneinander - das blonde Mädchen reichte gerade bis zu seinen Schultern. Maira betrachtete das Spiegelbild in der Glastür.

"Passen wir nicht gut zusammen?", fragte sie leise.

"Wie Schwester und Bruder. Schau dir Oma und Opa oder Mami und Vati an."

Maira betrachtete in der Spiegelung den hell möblierten Raum. Die vier Personen hatten die Gläser gehoben.

"Was ist mit denen? Die passen doch auch gut zusammen."

"Sie gleichen sich nicht, wie wir uns gleichen."

Maira betrachtete Roland mit verkniffenen Augen. Schließlich meinte sie, dass er so groß wie Vati werden könne. Roland zuckte unsicher die Schultern.

"Du bist doch jetzt schon groß!"

"Und du wirst bestimmt so schön weich wie Mami."

"Ich will auch so groß wie Mami werden. Ich will so einen Busen bekommen."

"Vatis Hände hätte ich gerne - vielleicht auch noch andere Sachen."

Roland nahm Maira an der Hand und führte sie zum Tisch zurück. Maira nahm am oberen Tischende Platz. Roland setzte sich ans untere Ende. Er betrachtete die beiden Paare zu seiner Linken und zu seiner Rechten und schmunzelte. Sein Vater hatte den versonnenen Blick bemerkt und fragte Roland nach dem Grund seines Lächelns.

"Ich habe nur gedacht, dass die Liebespaare beieinandersitzen."

Die Großmutter strahlte Roland an, dann streichelte sie über seinen Blondschopf.

"Ja, du hast recht. Wir sind immer noch ein Liebespaar."

Wie die Eltern erklären, dass es keinen Winterurlaub gibt und wie Maira ein Geheimnis machen will

Leichter Wind säuselte durch die kahlen Äste der gewaltigen Eiche. Vor drei Jahren hatte der Vater ein Baumhaus so geschickt ins Geäst gebaut, dass er den Baum nicht verletzen musste. Im Sommer war es ein sicheres, grünes Versteck. Seit Herbst zeigten sich verwitterte Holzbohlen zwischen den entlaubten Ästen. Die Kinder hatten von ihrem Baumhaus heruntergespäht und stiegen eilig die schwingende Holzleiter hinab. Die Eltern standen in der offenen Terrassentür. An den Scheiben kroch matte Kälte hoch. Mutter lehnte am Vater, ihr linker Arm hing an seiner Schulter, seine rechte Hand fasste ihre Taille. Beide lächelten. Die Mutter winkte mit der freien Hand. Maira und Roland rannten erhitzt aus dem kalten Garten. Unter ihren Schuhen knisterte eisstarres Gras. Zwischen Wollmützen und Mantelkragen leuchteten kleine Gesichter wie Haltesignale.

"Gibt es schon Abendessen?", fragte Maira.

"Kommt rein", sagte der Vater.

Sie folgten den Eltern ins Wohnzimmer. Roland schob die Glastür zu, damit die mollige Wärme im Zimmer bleiben konnte. Langsam löste sich der Dunst von den Scheiben. Pizzageruch schwebte aus der Küche.

"Wir werden dieses Jahr keinen Winterurlaub machen. Die Hotelzimmer habe ich bereits abbestellt."

Maira betrachtete Roland, den diese Nachricht nicht zu berühren schien.

"Ist es wegen deiner Erkältung?", fragte Roland, als sein Vater donnernde Nieser mit einem karierten Taschentuch dämpfen wollte.

Die Mutter zog Roland an sich. Sie roch wie ein aufgebackenes Brötchen. Roland legte seinen Kopf an die Brust, unter der ihr Herz schlägt. Sie streichelte seinen Haarschopf. Roland hätte tagelang so verharren können, mit dem gleichmäßigen Takt ihres Herzens im Ohr. Er hätte auf sein Pizzastück verzichtet und nie gefragt, welchen Grund ihre zärtliche Duldsamkeit habe.

"Es ist wegen mir", sagte sie.

Maira drängte sich an Mutters andere Seite, drückte ihren Kopf unter die andere Brust und das Ohr gegen Mutters Bauch. Beide hatten ihr halbes Gesicht an die Mutter gepresst, sodass sie sich nur mit einem Auge anblinzeln konnten. Sie fühlten sich herrlich geborgen.

"Mami, was ist mit dir?", wollte sie wissen.

"Ich bin schwanger. Ihr bekommt ein Geschwisterchen."

"Oh Mami!", jauchzten Maira und Roland gleichzeitig. "Wie herrlich!"

"Ihr freut euch?"

"Darf ich heute bei dir schlafen?", fragte Roland.

"Ich auch!"

Mit zwei langen Schritten näherte sich der Vater der familiären Verschwörung.

"Und ich?", fragte er ängstlich.

Roland bot ihm sein Bett an.

Die Begeisterung über Mutters wunderbaren Zustand hielt bis zum Abendessen unvermindert an. Während des Abendessens wurde das Freudenfeuer ein wenig gedämpft. Immer wieder streichelten die Kinder Mutters Locken, küssten ihren Mund, umarmten sie.

Die Kinder legten sich um acht Uhr in Mamis Bett. Sie strengten sich an, wach zu bleiben. Sie wollten auf ihre Mutter warten. Sie sollte zwischen Maira und Roland schlafen. Um die Zeit zu vertreiben, tuschelten sie.

"Könnten wir dann nicht Oma und Opa besuchen?"

"Sie könnten uns besuchen, denn sie haben nur zwei Zimmer."

"Im Hotel ist es auch nett. Wenn wir tagsüber bei den Großeltern sind und nur zum Schlafen ins Hotel gehen."

"Wir könnten den Großeltern einen Baum bringen und nach einer Woche wieder mitnehmen."

So sprachen sie hin und her, bis der Traum eines gemeinsamen Weihnachtsfestes geboren war und sich zu einer unumstößlichen Idee verfestigte.

Als die Mutter gegen zehn Uhr ins Bett kam, schimpfte sie, weil Roland und Maira noch miteinander quasselten.

"Was liegt ihr noch wach und schwätzt? Wir müssen morgen früh aufstehen. Habt ihr Kindergarten und Schule bereits vergessen!"

Die Kinder versuchten noch, der Mutter ihre großartige Idee schmackhaft zu machen. Allerdings würgte sie die kindliche Euphorie mit einem Machwort ab. Roland und Maira streichelten ihren Bauch, dessen Zunahme sie schon bemerkt hatten. Jetzt verstanden sie endlich die Ursache.

"Wenn es wichtig ist, was ihr mir zu sagen habt, dann wird es auch morgen noch wichtig sein."

Beide kuschelten an der Mutter. Sie schliefen im Bannkreis mütterlicher Wärme, und nichts konnte sie in dieser Nacht wecken. Einige Traumfetzen erinnerten an ihre großartige Idee, die auch beim Frühstück nicht vergessen war.

Der Vater meinte, dass er nicht wisse, wie sich seine Erkältung in zwei Wochen gemacht habe.

"Ich werde den Großeltern nichts von unseren geänderten Urlaubsplänen sagen."

Er schenkte sich Kaffee ein und verrührte ein Stück Zucker. Seine linke Hand war nach der Zeitung ausgestreckt, hing aber nachdenklich in der Luft.

"Wir könnten sie überraschen, wenn es dir an Weihnachten besser geht. Die wunderbare Nachricht könnten wir ihnen dann an Weihnachten bringen", ereiferte sich Roland.

"Das wäre doch schön!"

Die Mutter wog ihr grüblerisches Haupt.

"Weihnacht ist auch Arbeit", meinte sie. "Die Großeltern sollten damit nicht belastet werden. Man muss so etwas vorbereiten. - Und wenn es Vati nicht besser geht, sollten wir auf keinen Fall eine Reise machen. Wegen der Ansteckungsgefahr dürfen wir die Großeltern auch nicht einladen."

Der Vater nickte hinter der aufgeschlagenen Zeitung.

Der Vater hatte sich beim Frühstück für zwei Tage verabschiedet. Wie jeden Morgen eilte er mit langen Schritten zur Arbeit. Mindestens ein Mal pro Monat machte er eine Geschäftsreise. Eine Viertelstunde nach ihrem Vater gaben Roland und Maira ihrer Mutter schmatzende Abschiedsküsse und trotteten über den frostweißen Gartenpfad. Vaters ausholende Schritte zur Garage hatten mit großen Schuhabdrücken den Raureif zertreten.

Roland brachte die Schwester jeden Morgen zum Kindergarten, der auf seinem Schulweg lag. Sie gingen Hand in Hand, obwohl Schulkameraden sich darüber schon lustig gemacht hatten. Maira suchte seine Hand und er hatte nicht den Mut, seine Hand zu entziehen. Seine Weigerung hätte die Schwester sehr geschmerzt. Die Geschwister verschwanden im Gebäude. Man sollte nicht von der Straße beobachten können, wie er von seiner kleinen Schwester umarmt wurde. Sie forderte jeden Morgen einen Kuss. Roland ertrug die Zeremonien seiner Schwester mit stoischer Würde, erfüllte sie aber auch mit der Feierlichkeit eines Gentleman.

"Wir sollten warten, ob es Vati nächste Woche besser geht."

"Maira? Worauf sollen wir warten?"

"Wegen Weihnachten natürlich!"

"Ja, du hast recht. Wir müssen noch warten."

Maira ging zum Vorraum, wo sie ihre Hausschuhe anzog und Roland verschwand, um seinen Schulweg fortzusetzen.

Mittags war die Enttäuschung groß, denn sie hatten den Abschied ihres Vaters nicht mitbekommen. Ihre Gedanken waren ständig um ihre Weihnachtsidee gekreist, dass sie diese wichtige Mitteilung überhört hatten. Die Enttäuschung wuchs ins Grenzenlose, entwickelte sich zu einem Drama, als Maira die empfindliche Nase im Küchendunst schnüffeln ließ. Mit hängender Unterlippe flüsterte sie: "Sauerkraut".

Roland jammerte: "Mutti, das darf nicht sein. Das kannst du deinem Lieblingssohn nicht antun!"

Die Mutter war unnachgiebig wie der Fels in der Brandung.

"Roland komm, wir gehen zu "Mäcking"!"

Roland eilte wortlos in den Flur. In seine Jacke gehüllt kam er zurück und trug Mairas Mantel über dem Arm. Er hielt den Mantel wie ein Kavalier und Maira schlüpfte hinein. Sie betrachteten ihre Mutter herausfordernd, die weiterhantierte als hätte sie diese Provokation nicht wahrgenommen. Die Kinder wurden mit jeder Sekunde unsicherer. Schließlich suchte die Mutter ihre Geldbörse, zog einen fast neuen Fünfeuroschein heraus und fragte: "Für fünf Euro kann ich der Familie ein Essen kochen. Reicht das auch für einen Schnellimbiss?"

"Du sagst sonst immer Turbofraß", korrigierte Roland seine Mutter.

"Ich will euch nicht abschrecken. Geht ruhig, und lasst es euch wohl schmecken. Dann bleibt noch etwas übrig. Ihr wisst ja: dass sie besonders schwärmt, wenn es wieder aufgewärmt."

Roland half Maira aus dem Mantel und verschwand mit hängendem Kopf in den Flur.

"Wie hat euch das Sauerkraut geschmeckt?", fragte die Mutter nach dem Essen.

Die Kinder sagten übereinstimmend: "Es war viel besser als in unserer Erinnerung."

"Schreibt euch eure Antwort auf, damit ihr sie nächstes Mal vom Blatt lesen könnt."

"Ich kann doch gar nicht schreiben."

"Maira, deinem Gedächtnis hätte ich ohnehin eine höhere Leistung zugetraut."

"Wieso bist du so?", fragte Maira geknickt.

"Weil ich euch kenne, wie ihr seid. Weil ich euch erziehe, wie ihr seid. Weil ich euch liebe, wie ihr seid", beendete die Mutter dieses Gespräch.

Um acht Uhr legte sich Roland ins Bett. Er meinte, die letzten Tage verdienten eine kleine Rückbesinnung. Er lag auf dem Rücken, beide Arme unter dem Hinterkopf gefaltet, um beim Betrachten der Zimmerdecke schwindelerregende Gedanken zu kultivieren. Hinter dem dunkelblauen Vorhang hing ein dürrer Mond im diesigen Himmel. Albtraumhaftes Dunkel schuf Fantasien, die düsteren Welten entstammten. Roland hielt die Luft an, als sich die Tür leise in den Angeln drehte. Er versuchte standhaft, dieses nervzerrende Geräusch zu ignorieren. Füße tappten unbarmherzig zu seinem Bett. Er wollte sich die Ohren zuhalten, aber seine Hände lagen bequem unter seinem Kopf.

"Was machst du in meinem Zimmer?", schnauzte er schließlich.

Maira antwortete nicht. Sie hob die Bettdecke und legte ihren kühlen Körper an die Seite des Bruders. Ihren Kopf bettete sie in den gebeugten Arm, der die Denkaktivität seiner rechten Gehirnhälfte so erfolgreich unterstützt hatte.

"Was soll das?"

Sie verspürte immer noch keine Lust zu antworten sondern kuschelte an den erwärmten Körper.

"Ich will über Weihnachten sprechen."

"Was gibt es da noch zu besprechen?"

"Wir könnten ein Geheimnis machen."

Widerwillig blies Roland seinen Atem zur Decke.

"Geheimnisse werden nicht gemacht. Man kann so tun, als hätte man ein Geheimnis."

"Und wenn wir heimlich einen Weihnachtsbaum aufstellen? Machen wir dann kein Geheimnis?"

Roland war das Kindergeschwätz lästig. Deshalb sagte er: "Ich muss schlafen. Morgen schreibe ich drei Klassenarbeiten."

Maira betrachtete den Hinweis auf Klassenarbeiten nicht als Aufforderung, dass sie Rolands Bett verlassen solle. Sie kuschelte nur noch enger an den Bruder - schwieg aber.

Das Huschen der nackten Füße über die Fliesen des Flurs konnten die Kinder nicht überhören. Sie fürchteten Mutters frostige Stimme und legten schützend die Arme umeinander.

Bereits von der Tür schnitt ihr Tadel ins Zimmer: "Roland - führst du Selbstgespräche?"

Sie tappte ans Bett und hob die Bettdecke, damit sie Mairas versteckte Locken erkennen konnte.

"Ihr liegt im warmen Bett und lasst mich in der Kälte?"

Ohne auf die Einladung zu warten, hob sie die Decke noch höher. Sie legte sich in die Enge des Bettes, das ursprünglich nicht für so viele Personen erdacht worden war. Maira krabbelte über den neuen Gast, denn Mutter musste in der Mitte liegen, damit sie gerecht zwischen den Geschwistern aufgeteilt war.

Maira erklärte der Mutter ihre Idee von dem Geheimnis, das sie machen wolle.

"Wir bringen einen Weihnachtsbaum und stellen ihn heimlich auf."

Die Mutter fing irgendwann Feuer. Sie stellte Fragen, als ob sie diese Kinderei ernst nehmen könne.

Roland hielt die Enge und das Mädchengeplapper nicht länger aus und verließ sein Bett, mit dem großen Teddybären unterm Arm. Selbstverständlich konnte Roland ohne Teddybär schlafen, aber seine Nähe war beruhigend. Den beiden schnatternden Mädchen wollte er seinen treuen Traumspender auf keinen Fall überlassen. Er ging ins Elternschlafzimmer, wo er in Mutters Bett Ruhe suchte. Erst nach einer Viertelstunde war das eisige Federbett auf Körperwärme erhitzt.

Mit dem Wecker hatte er natürlich nicht gerechnet, der ihn eine halbe Stunde vor der sonst üblichen Zeit aus dem Schlaf riss. Verärgert und verschlafen trottete er in sein Zimmer. Mami und Maira waren zu einem Knäuel verknotet. Maira blies Schnarchen in Mutters Gesicht. Roland schubste die Mutter, bis sie schläfrig grunzte: "Ich habe den Wecker gar nicht gehört."

"Dafür habe ich ihn umso deutlicher gehört!"

Wie ein Geheimnis gemacht wird

"Darf man sagen: Da ist der Teufel los?", wollte Roland wissen.

"Nicht eine Woche vor Weihnachten", meinte der Vater.

Maira fragte: "Ist deine Erkältung geheilt?"

Der Vater nickte. Dann sagte er zu Roland: "Zu einer anderen Jahreszeit würde ich dir absolut zustimmen. Die Menschen rennen, als ob es ums Letzte gehe. Man will gar nicht glauben, dass man ohne Eintrittskarte und Vorbestellung in die Kaufhäuser kommt."

Roland kicherte. Mutters Stimme klang reichlich genervt.

"Wir sollten planmäßig vorgehen und auf keinen Fall nach Dingen suchen, die wir erst im Januar kaufen wollen. Für Opa einen warmen Schlafanzug und gefütterte Handschuhe. Für Oma eine rote Wollmütze mit Ohrwatscheln", legte die Mutter fest. "Dann sofort im Lederwarengeschäft Großmutters Handtasche kaufen. Zum Schluss kaufen wir den Baum."

Genau diese Reihenfolge wurde eingehalten. Aber trotz Mutters disziplinierter Planung dauerte es zwei Stunden, bis sie mit einer dunkelblauen Lederhandtasche das Lederwarengeschäft verließen. Die Sonne hatte den Rückzug angetreten und grauem Schmuddelwetter den Vortritt gelassen. Kalter Nebel feuchtete die Gesichter. Jedes laut gedachte Wort riss Dunstwolken aus dem Mund. Frost biss mit kalten Zähnen durch die Winterkleider. Mutter hastete davon. Entgegen sonstiger Gepflogenheit blieb sie vor keinem einzigen Schaufenster stehen. Für eine Strecke, die bei sonnigem Wetter drei Stunden dauert, brauchten sie höchstens zwanzig Minuten.

Erst im Auto fühlten sie sich wohl. Als sie aus dem Parkhaus fuhren, hatte die Klimaanlage die Atmosphäre eines anheimelnden Kachelofens erzeugt.

"Der Baum?"

Der Vater wäre am liebsten direkt ins warme Wohnzimmer gefahren.

Die Mutter sprach energisch: "Wir können nichts mehr auf die lange Bank schieben. Eine Woche vor Weihnachten ist knapp. Wir haben wahrlich mehr zu tun, als uns mit Bäumen aufzuhalten."

Die Kinder nickten zustimmend.

"Wir wollen auch noch Essen und Getränke für die Feiertage kaufen."

"Bekommen wir Cola?", wollte Roland wissen.

Der Vater erwiderte: "Nur wenn ich zwei Flaschen von meinem besten Roten mitnehmen darf."

Maira betrachtete Roland und nickte zustimmend.

"Wir müssen alles noch einpacken. Mir schwirrt der Kopf, wenn ich an die zu erledigende Arbeit denke", jammerte die Mutter.

"Wir helfen dir bestimmt", meinte der Vater und die Kinder nickten bestätigend.

Vor einem Baumarkt hatte ein Baumverkäufer seine Fichten und Tannen auf verschiedenen Stapeln liegen. Die Fichten im Pflanzkübel standen abseits, zu einer kleinen Schonung aufgebaut. Eine stolze Blaufichte lockte Augen und Beine. Sie standen vor dem prächtigen Baum, der den Vater Auge in Auge anblicken konnte. Die Mutter kam als Erste zur Vernunft.

"Wie soll Roland solch ein Monster schleppen? - Du musst auch daran denken, dass wir zu viert fahren müssen."

Die Mutter schlenderte zu einer Blaufichte, die absolut gleichmäßig gewachsen war. Maira stellte sich neben den Baum, dessen Spitze ihren Scheitel nicht überragte. Roland bückte sich. Dann drückte er das Gesicht, mit geschlossenen Augen, zwischen die dichtbenadelten Zweige. Mit blinden Händen suchte er die beiden Griffe. Langsam hob er sich aus der Hocke, den Kübel gegen den Bauch gezogen. Roland versuchte die Anstrengung zu verbergen, die ihm dieser Baumkübel abverlangte.

Der Vater schaute besorgt auf seinen Sohn und fragte: "Geht es? Meinst du, dass du es schaffst?"

Maira streichelte über das blaue Nadelkleid.

"Er ist so samtig", sagte sie.

Roland hatte nach den Worten seiner Schwester keine andere Wahl mehr. Dieser Baum musste es sein und wenn er ihm die Arme bis zum Boden zerren sollte. Roland schleppte den Kübel an eine freie Stelle. Zu viert kreisten sie in unendlicher Prozession um den Baum und bewunderten seinen Wuchs und das schöne Nadelkleid.

"Kleine rote Kugeln und rote Kerzen werden ihn zu einem weihnachtlichen Kunstwerk machen", schwärmte die Mutter.

Wie alles für den Heiligen Abend vorbereitet wird

Roland ging am 23. Dezember um zehn Uhr zum Kindergarten, um Maira abzuholen. Die Kindergartenkinder wiederholten ihr Krippenspiel für Eltern, welche die erste Aufführung versäumt hatten. Roland setzte sich auf einen Kinderstuhl und schaute zu, wie Maira eine Puppe im Arm wiegte. Erwachsene standen an der hinteren Wand, weil nicht genügend große Stühle vorhanden waren.

Als die Kinder zur Mittagszeit heimkamen, roch das Haus bereits am Gartentor nach Zimtwaffeln. Roland zerrte Maira hinter sich her zur Haustür. Rolands Daumen klingelte Sturm. Er hatte keine Zeit, den Schlüssel in seiner Tasche zu suchen. Atemlos erschien die Mutter, ein weißes Tuch um ihren blonden Schopf gebunden. Sie öffnete die Tür weit, damit die wilde Jagd vorbeidrängen konnte.

"Kann ich ein paar essen?", riefen die Kinder und stürmten ins Haus.

Das elektrische Waffeleisen dampfte köstliche Wolken und zischte verführerisch.

"Ich werde keine mehr machen", legte die Mutter entschieden fest.

Jedes Jahr hielt sie an diesem eisernen Entschluss fest. Bis einen Tag vor Heiligabend blieb sie standhaft, um dann doch köstliche Waffeln zu backen. Mairas und Rolands Nasen schwelgten, wenn ihre Mutter mit Zimtaroma vor dem Weihnachtsbaum stand. Das Kopftuch konnte den Duft nicht von ihrem Haar fernhalten. Die Mutter hat nie erfahren, wieso sich ihre Kinder so dicht an sie drängten, sobald sie vor dem Weihnachtsbaum das erste Lied anstimmten. Roland umarmte Mutters Vorderseite, während sich Maira an ihren Rücken klammerte. Sie sogen herrlichen Weihnachtsdunst aus ihren Kleidern, bis sie sich trunken lösten.

"Lasst mich endlich arbeiten!", schimpfte sie.

Auf einem Abkühlrost lagen Zimtwaffeln geschichtet. Die Kinder holten sich je drei dieser knackigen, wohlschmeckenden Köstlichkeiten. Roland trug Mairas Kindergartentasche. Er nahm ihre Hand und zog sie in sein Zimmer. Dort schubste er die Kindergartentasche in die Ecke und setzte sich neben Maira auf sein Bett. Genießerisch verzehrten sie eine Waffel nach der anderen. Dabei betrachteten sie sich mit glücklichem Lächeln.

"Es wird bestimmt schön", begann Maira.

"Morgen ist es so weit."

"Hat Vati mit den Großeltern gesprochen?"

Roland machte ein verschmitztes Gesicht und sagte: "Sie bedauern, dass wir beim Mittagessen nicht dabei sein werden."

Beide kicherten über diesen fein ausgeheckten Plan.

"Der Baum ist riesig schwer. Du musst ihn in den vierten Stock tragen. Ob du das schaffst?"

Roland wölbte seine Brust, um den Zweifel der kleinen Schwester durch Imponiergehabe niederzuschmettern. Sie war beeindruckt von seiner unbeugsamen Stärke.

"Du musst den Baumschmuck und die Geschenke tragen. Das wird auch schwer werden."

"Wir machen auf jedem Stock eine kleine Pause."

Bei diesem Gespräch wurden die kleinsten Kleinigkeiten noch einmal überdacht. Roland zeigte die urtümlichen Schlüssel, den einen für die Haustür und den abgenutzten für die Wohnungstür.

"Vati hat gesagt, dass wir im Hotel ein eigenes Zimmer haben werden."

Die Aussicht, mit Roland unter einer Decke schlafen zu können, war ein Traum schläfriger Wärme. Mit Roland zu kuscheln war noch schöner, als mit Mami zu kuscheln. - An Vatis stoppligem Gesicht zu kuscheln war lustig. Roland zog allerdings den Frauenkörper vor, den er kraftvoll umarmen konnte. Maira wärmte das Bett nicht so gut wie Mami.

"Wir haben ein Doppelbett. Du hast ein Bett für dich allein."

"Will ich aber nicht."

Damit war das Thema noch lange nicht erledigt. Als Schlusspunkt brachte Maira das überzeugende Argument, dass Roland seinen Teddy zu Hause lassen könne, wenn sie ersatzweise an seiner Seite liege.

"Wie viel Zeit haben wir eigentlich?", wollte Maira wissen.

"Vati meint, wir sollen nicht mehr als eine Stunde einplanen."

"Eine Stunde ist mächtig viel."

"Maira, Maira, was hast du für eine Ahnung von Zeit. Wir starten an der Ecke mit unserer Last, wir steigen vier Stockwerke hoch, wir bauen alles auf, verschwinden wieder. Das könnte knapp werden."

Maira staunte über diese präzise Zusammenfassung. Dann streichelte sie seinen linken Oberarm und flüsterte anerkennend: "Bei solchen Muskeln ist das kein Problem."

Die Mutter streckte den Kopf in Rolands Zimmer. Sie hatte das Kopftuch abgelegt. Das Haar klebte glatt gedrückt an Stirn und Wangen.

"Seid ihr schon satt? Habt ihr keine Lust zu essen?"

"Wer hat dein Haar gebügelt?"

Die Mutter jagte beide Hände durchs Haar.

"Besser?"

Roland sagte: "Nach dem Essen werde ich dich kämmen, damit du deinem Gatten ein gepflegtes Haupt präsentieren kannst."

Sie trat ins Zimmer, fasste Roland am Ohr und zog daran.

"Dir werde ich helfen, dich über deine alte Mutter lustig zu machen."

Aber nach dem Essen erinnerte sie Roland an sein Angebot. Die Mutter setzte sich auf den Hocker vor dem großen Frisierspiegel. Maira beobachtete Rolands sichere Hand, wie sie mit Kamm und Bürste Mutters Haar in ein glänzendes Meisterwerk verwandelte. Nachdem die Mutter aus dem Schlafzimmer verschwunden war, rochen die Kinder abwechselnd an den weißen Borsten der Silberbürste. Diese waren in geheimnisvollen Zimtduft gehüllt.

Die Mutter packte die Koffer für die Reise. Nachmittags um vier Uhr kam der Vater müde von der Arbeit. Mutter musste die gesamte Strecke fahren und Vater schlief geräuschvoll auf dem Beifahrersitz.

Wie ein geheimer Plan zu einer geheimen Tat wird

Verspielte Schneeflocken schaukelten zu Boden. Selbst die von ihrer Mutter gestrickten Wollhandschuhe vermochten den Kälteschmerz der Finger nicht gänzlich zu dämpfen. Maira und Roland standen an der Straßenecke. Maira hielt in ihren klammen Händen zwei große Stofftaschen. Roland stand neben der Blaufichte und zitterte. Gelegentlich stampfte er auf den Bürgersteig und beobachtete Vaters Auto. Seit einer kalten Ewigkeit lauerte es vor dem dunkelblauen Haus.

Der Großvater trat zuerst aus dem Haus, blieb aber unter der Tür stehen, um sie für Großmutter offen zu halten.

"Endlich", stöhnte Maira.

"Vier Stockwerke brauchen ihre Zeit."

"Bei uns bestimmt auch."

Die Mutter stieg aus dem Wagen. Sie eilte auf ihre Schwiegereltern zu, umarmte sie, streichelte ihre Wangen, ließ sich die Wangen streicheln. Der Vater kam an die Reihe.

"Können die sich nicht im Restaurant abknutschen", knurrte Roland.

"Lass sie doch. Das machen wir doch auch jeden Tag."

"Da wartet niemand auf uns. Das ist doch wohl etwas anderes."

Der Vater schloss die Wagentüren, nachdem die Großeltern eingestiegen waren. Er machte ein verstecktes Zeichen zur Straßenecke, stieg auch ein und der Wagen reihte sich in den spärlichen Verkehr.

"Vati liebt Geheimnisse. Er macht oft eigene Geheimnisse."

"Meinst du, dass er vor Mami Geheimnisse hat?"

"Für Mami macht er seine Geheimnisse. - Ich mag das auch."

Roland bückte sich nach dem Pflanzkübel. Die Äste waren zusammengeschnürt, dass die Nadeln nicht bei jedem Schritt durch sein Gesicht piekten. Allein das kurze Wegstück bis zum blauen Haus war wie ein Marsch durch zähen Schlamm. Seine Füße schienen zu quellen.

"Kannst du noch?", fragte Roland.

Er wollte Mairas Gegenfrage herausfordern. - Nur wusste er nicht, ob er ihr die Wahrheit gestehen würde oder das Monument des großen Bruders intakt lasse.

"Im Haus muss ich die Taschen ein Weilchen abstellen. Die Griffe schneiden in meine Finger. Die Fingerspitzen erfrieren."

"Ja, das ist eine gute Idee. Ich hätte nicht geglaubt, dass es so schwer ist."

Waldiger Moder stieg aus dem Kübel. Erleichtert tappten die Kinder weiter, denn es ist wohltuend, wenn man weiß, dass alle das gleiche Leid ertragen. Mittlerweile erschwerten Schneeflocken die Sicht, wie beim grießigen Bild eines schlecht eingestellten Fernsehsenders.

Roland stellte den Kübel auf die Stufe der Haustür. Mit den Zähnen packte er die Spitze seines rechten Handschuhs und zog die Hand aus der Wärme. Sofort suchte er in der rechten Hosentasche nach dem Schlüsselbund. Der neue, silbern glänzende Schlüssel passte. Sie drängten ins Haus, das ein Vorgeschmack häuslicher Wärme war. Dort stellten sie ihre Sachen ab. Maira spannte und entspannte ihre Finger, Roland rieb sich Schenkel und Arme. Einige Stockwerke höher schnappte eine Wohnungstür ins Schloss. Müde Schritte tappten die Holzstiege herab.

Maira und Roland nahmen ihre Last wieder auf und kämpften sich Stufe um Stufe in die Höhe. Die Holztreppe war frisch gebohnert und roch nach Wachs. Er schaute am Baum vorbei auf die Stufen, ob sie nicht gefährlich glatt seien. Die Schritte von oben wurden lauter. Erschöpftes Schnauben näherte sich mit müdem Schritt. Wie dichter Schnee sank der Geruch alter Kleider herab. Die beiden Leute, ein alter Mann mit seiner Frau, schauten mürrisch vor sich hin. Roland grüßte widerwillig. Er wusste, dass man in Esslingen "Grüß Gott!" sagen muss, aber die Antwort schien kein menschlicher Laut zu sein. Grauer Stoppelbart lag wie kalte Asche auf dem Gesicht des Mannes. Maira wagte nicht, zu grüßen. Sie quetschte sich mit ihren Taschen dicht hinter Roland. Stufe um Stufe tappten sie ihrem beschwerlichen Ziel entgegen. Tief unten schlug die Haustür ins Schloss. Danach war das Haus still. Ihr eingeschnürter Atem schwoll zu gespenstigem Echo.

Am nächsten Stockwerk ließen sie wieder ihre Last zu Boden. Beide standen kurz vor der Grenze ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit. Sie brauchten lange bis ihre Lungen und Herzen den zügellosen Galopp beendet hatten.

"Auf dem Schild steht: Kehrwoche."

Roland wies auf ein großes Schild, das mit einer Kette an einem Wandhaken aufgehängt war.

"Was ist das?"

Roland zeigte seine Unwissenheit durch Schulterzucken.

"Haben wir's bald geschafft?"

Roland schaute ins Treppenhaus hinab und schätzte die Zahl der erklommenen Stockwerke.

"Wir haben es bald geschafft. Wir sollten die Namen an den Klingeln anschauen."

"Ich kann Maier lesen, wenn ich es sehe."

"Das ist gut, denn mit einem Baum vor den Augen, kann ich schlecht lesen."

Maira kicherte.

Sie stapften weiter. Auf dem nächsten Stockwerk schaute sich Maira die Namensschilder an und jubelte unerwartet: "Endlich Maier!"

Sie führte Roland zu der Wohnungstür. Roland setzte den Kübel ab, betrachtete das Namensschild und stöberte in seiner Hosentasche. Der abgenutzte Schlüssel passte ins Schlüsselloch, aber er hakte. Roland wendete mehr Kraft auf, bis sich der Schlüssel drehte und die Tür aufsprang. Sie betraten die Wohnung. Maira ging voraus, um das Wohnzimmer zu öffnen. Roland bugsierte die Blaufichte durch den Flur und achtete darauf, dass die Baumspitze nicht die Lampe von der Decke schlug.

"Stell hier ab."

Sie hatte den besten Platz bereits bestimmt. Roland war mit ihrer Wahl zufrieden, weil er gar nicht die Kraft hatte, einen anderen Platz zu suchen. Er blickte sich nicht einmal im Zimmer um. Seine Hände zitterten nach der Anstrengung, die noch nicht beendet war und unerbittliche Konzentration erforderte. Roland schaute auf seine Armbanduhr, nachdem er die Standsicherheit des Baums geprüft hatte.

"Wir haben höchstens noch eine halbe Stunde."

"Und ich könnte mich ins Bett legen."

Sie behielten ihre Winterjacken an. "Höchstens eine halbe Stunde" war keine Zeitspanne um es sich bequem zu machen. Roland packte die Christbaumkugeln aus und reichte sie Maira. Zuvor musste er die Aufhänger in die zarte Glashülle einstecken. So arbeiteten Schwester und Bruder Hand in Hand, als hätten sie tagelang geprobt. Sein verspannter Rücken erlaubte ihm nicht, sich zu bücken, um tiefe Äste zu schmücken. Nur das Schmücken der Baumspitze gelang ihm, ohne dass sich sein Gesicht zu einem stummen Schmerzensschrei zerknitterte.

Immer wieder traten sie zurück und betrachteten das Werk. Weinrote Kugeln zwischen dem Blau der Nadeln war eine gelungene Komposition. Roland steckte Kerzen und Kerzenhalter zusammen und reichte sie seiner Schwester. Kerzen und Lametta stellten die Krönung des weihnachtlichen Arrangements dar. Sie verharrten gebannt vor ihrem Werk, klatschten leisen Beifall. Beglückt umarmten sie sich.

Maira holte die Geschenke aus der zweiten Stofftasche. Rolands Knie verweigerten jede Biegung. Seine Schenkel schmerzten bereits in gestreckter Haltung.

Maira schob die vier Päckchen unter den Baum. Sie traten zum letzten Mal zurück, um ihr Werk zu verinnerlichen. Dann schlichen sie, nachdem Roland einen flüchtigen Blick auf seine Uhr gewagt hatte, aus der großelterlichen Wohnung. Das Türschloss klickte. Roland betrachtete die grau lackierte Wohnungstür mit ihrem verschnörkelten Fenster. Durch einen weißen Vorhang war der Blick von außen ins Wohnungsinnere verwehrt. Erst hier bemerkte er den Geruch von erkaltetem Essen.

"Riechst es hier nach Sauerbraten?", fragte er Maira, die jeden Geruch erkennen kann.

"Mami kocht besser!", war ihr Kommentar.

Ein großes Orchester mit weihnachtlicher Musik pochte wie der Herzschlag des alten Hauses aus einer Wohnung des untersten Stockwerks. Sie stiegen mit der Bedächtigkeit älterer Herrschaften die Stufen hinab. In der Haustür blickten sie sich kurz um, bevor sie endgültig auf den Bürgersteig traten. Roland trug in der linken Hand eine Stofftasche mit den leeren Pappschachteln und der geleerten Stofftasche.

Kälte schnappte nach ihren Fingern, die sie sofort in den wärmenden Jackentaschen verschwinden ließen.

"Gib mir deine Hand", sagte Roland.

Diese Bemerkung sollte wie eine beschützende Geste klingen, aber Roland spürte, dass er etwas vermisste. Seine rechte Hand steckte nutzlos in der Tasche. Sie zogen sich einen Handschuh an, hielten sich aneinander fest und hetzten weiter zum Hotel. Straßen und Gehsteige waren unter einer dichten Schneedecke verborgen. Im frischen Schnee quakte jeder Schritt wie die Teichfrösche im Gartenteich, die letzten Sommer nach ihren Weibchen gerufen hatten. Unablässig trieben Flocken in ihre Gesichter, die kühl zerschmolzen.

Wie gespenstische Ruhe von Jubel zerschnitten wird

Das Hotel schlief weiter, als die Kinder über den roten Filzboden zum Empfang schlichen. Bei ihrer Ankunft, gestern Abend, hatten sie Unruhe hereingetragen, die mittlerweile entflohen war. Der Mann hinter dem Tresen hob den Blick aus einer Zeitschrift. Seine Augen rollten wie schläfrige Untertassen. Er stand auf, setzte die dickglasige Brille ab und verstaute die Zeitschrift unter dem Tresen. Die Kinder grüßten ihn, er grüßte zurück. Dann wendete er sich zum Schlüsselbrett, hängte einen Schlüssel ab, den er in Rolands ausgestreckte Hand legte. Maira hatte bereits den Aufzug gerufen, der mit offenem Schlund auf Roland wartete.

"Wenn ihr wollt, könnt ihr mit mir zu Mittag essen!", rief er ihnen nach.

Roland betrachtete Maira kurz und unsicher. Sie nickte zögerlich.

"Wir kommen sofort wieder herunter!"

"Fragt nach Herrn Sauberer!", rief er lachend. "Sauberer mit S!"

Die Kinder machten sich Gedanken, wieso der Mann ihnen ein Mittagessen angeboten hatte. Dies erschien Roland ungewöhnlich.

"Vielleicht kennt er unser Geheimnis und weiß, dass wir noch nichts gegessen haben?"

Mairas Vermutung zeigte eine gewisse Plausibilität, der Roland nicht widersprechen wollte.

"Vielleicht."

In ihrem Zimmer legten sie die dicken Jacken über Stühle. Im Bad wuschen sie das klebrige Baumharz von den Händen. Roland betrachtete sein Gesicht im Spiegel, denn er vermutete eine irreparable Verstümmlung. Die widerborstigen Nadeln hatten während des Treppenaufstiegs sein Gesicht gepiesackt. Er hatte noch einmal Glück gehabt. Nur seine Frisur war derangiert, ein Schaden, den er mit zwei Kammstreichen beheben konnte.

Maira rannte aus dem Bad, Roland verfolgte im Spiegel, wie sie ins Zimmer der Eltern verschwand und gleich darauf zurückeilte. Sie trug die Silberbürste in der Hand, die sie Roland reichte. Er verstand ihr Begehr. Innerlich wusste er, dass er der Leibknappe seiner Schwester war, aber über diese Stellung war offiziell nie gesprochen worden. Deshalb kläffte er missgelaunt: "Was soll ich damit?"

"Du musst mich kämmen. Ist das so schwer zu verstehen?"

Roland erkannte den herablassenden Tonfall einer Herrin, der ihn zermürbte und erfreute.

"Ich bin müde."

"Ich auch."

Unter weniger eiligen Umständen hätte er eine Prestigefrage inszeniert, die ihm erst nach ehrerbietigster Huldigung gestattet hätte, das Haar der Schwester zu kämmen. Sie stand vor dem Spiegel und lächelte ihr Spiegelbild an. Mit keckem Wackeln ihres Gesichts schüttelte sie die blonden Locken auseinander. Roland kämmte und bürstete mit Hingabe. Auch die Großmutter war eine Verehrerin seiner Frisierkunst. Roland konnte blind das Haar seiner drei Verehrerinnen unterscheiden -, am Gefühl und Geruch. Als er seinen Dienst beendet hatte, strahlte Maira golden. Sie stürmte zur Tür, merkte aber, dass Roland nicht folgte.

Roland betrachtete Maira unsicher und fragt: "Sollen wir nach unten gehen?"

"Roland, was stellst du für eine Frage?", rief Maira resolut. Dann mit nachlassender Überzeugung: "Sollen wir hier auf die Eltern warten?"

"Es ist wahrscheinlich nur die dicke Brille."

"Bestimmt!"

Der Mann vom Empfang, Herr Sauberer, hatte in einer Ecke der Halle, auf einem runden Tischchen, drei Gedecke aufgelegt. Weihnachtsklänge erfüllten den Raum mit musikalischer Beschaulichkeit.

"Die Herrschaften können schon platz nehmen."

Maira erkannte den Blick, der ihr Haar bewunderte. Als Dankesgeste machte sie einen kleinen Hofknicks -, wenigstens das, was sie dafür hielt. Roland geleitete sie am Arm zu einem Platz, an dem ein Wasserglas stand. Er setzte sich zum anderen Wasserglas.

"Wieso laden Sie uns zum Essen ein?", wollte Roland wissen.

Der Mann balancierte ein Tablett die Treppe vom Frühstücksraum hoch, das er auf einem Nebentisch abstellte.

"Eure Eltern haben mir die Geschichte erzählt, die mich tief berührt hat. Ich finde es wunderbar, welche Liebe ihr für eure Großeltern empfindet. - Deshalb habe ich eure Eltern gebeten, euch ein Essen anbieten zu dürfen."

"Haben unsere Eltern alles erzählt?"

"Ich glaube schon, denn sie waren richtig aufgewühlt von eurer Idee. Es macht ihnen Spaß, bei diesem schönen Spiel mitmachen zu dürfen."

"Wann haben sie das erzählt?", fragte Maira unsicher. "Wie kann das sein?"

Der Mann lächelte sie bewundernd an. Maira fühlte sich geschmeichelt.

"Ihr ward schon im Bett, da sind eure Eltern heruntergekommen. - Es ist momentan nichts los, da bin ich froh, wenn gut gelaunte Gäste mich zu einem Glas einladen."

Die Kinder nickten verständig. Sie betrachteten sich gegenseitig. Es tut gut, Erwachsene zu kennen, die nicht von so schrecklich weit oben sprechen. Roland musste nach den ersten Bissen seine Bewunderung zeigen. Rindsgulasch mit hausgemachten Spätzle und einem grünen Salat, der eine nussige Note trug. Selbst ein Dessert konnte er auf dem Tablett erkennen.

"Haben Sie selbst gekocht?"

Der Mann lächelte stolz. Roland beobachtete sein Lächeln, das aus glänzenden Augen und einigen Fältchen geformt war. "Er ist viel älter als Vati", dachte er. "Seine Frisur erinnert an weihnachtliche Glaskugeln."

"Meine Frau bringt mir für die langen Sonderschichten Essen vorbei. Meist essen wir gemeinsam."

"Und heute?"

"Heute musste sie zurückeilen, damit sie das Fest vorbereitet. Meine Kinder und Enkel kommen. - Zehn Personen werden kommen."

"Sie sind Großvater?", schloss Maira aus seinen Worten.

"Eben deshalb hat mich eure Geschichte so berührt."

"Sie ist eine gute Köchin."

Der Mann nickte bestätigend.

"Kocht eure Mutter auch?"

Beide Kinder lächelten und nickten lebhaft.

Schneeflocken wirbelten in die Halle. Kälte schwappte wie eine Welle an den Tisch.

"Da kommen sie", sagte Herr Sauberer.

Die Eltern traten mit den Großeltern in die Halle. Der Empfang war nicht besetzt. Die Vier blickten irritiert in die Halle und sahen den Tisch im dunklen Teil. Herr Sauberer hatte sich erhoben, aber der Vater winkte ihm, sitzen zu bleiben. Die Großeltern zeigten ungestüme Freude, als sie die Enkel am dämmrigen Mittagstisch erkannten.

Der Großvater rief bereits von der Tür: "Was für eine Freude! Eure Eltern haben solch ein Geheimnis gemacht, dass wir geglaubt haben, wir sehen euch heute gar nicht mehr!"

Die Oma eilte voraus und küsste den Kindern die Hinterköpfe. Sie saßen über ihren Nachtisch gebeugt, weil sie ihre lachenden Gesichter verbergen mussten.

"Eine größere Freude könntet ihr uns gar nicht machen."

Die Mutter meinte: "Warten wir's ab."

"Soll ich Kaffee auftragen?"

Der Vater wehrte ab.

"Erst müssen sie ihren Teller leer essen."

Eltern und Großeltern setzten sich an einen Tisch, den sie herangeschoben hatten. Nach dem Essen trug Herr Sauberer eine Kanne Kaffee und Tassen aus dem Frühstücksraum hoch.

Die Großeltern wollten wissen: "Wieso seid ihr nicht mitgekommen?"

Die Kinder flunkerten die Geschichte von den alten Spielkameraden, die sie sich vor einer Woche ausgedacht hatten.

"Darf ich jetzt endlich meine Überraschung loswerden?", rief die Mutter ungeduldig.

Alle schwiegen. "Uns ist ein Kind geboren", klang es aus dem Lautsprecher. Der Moment war zu feierlicher Stimmung verdichtet.

"Ich bin im fünften Monat schwanger!"

Oma und Opa sprangen elektrisiert von ihren Stühlen hoch und stürzten auf ihre Schwiegertochter. Aus Sicherheitsgründen musste sie sich ebenfalls erheben. Der Vater stand auf, die Kinder standen auf, Herr Sauberer eilte vom Tresen herbei. Freudengeheul übertönte die Lautsprecher, kein Wort war zu verstehen, nur Begeisterung hallte durch die Hotelhalle. Dann ging es hin und her, wieso die Mutter dieses Geheimnis so spät preisgegeben habe. Opa rechnete an seinen Fingern nach, dass sie bereits letzten Oktober schwanger gewesen war. Zu guter Letzt hatten die Kinder den Eindruck, dass... .

Eigentlich wurde der tiefe Sinn der weiteren Diskussion nicht klar. Erst als Herr Sauberer mit einer kältebeschlagenen Sektflasche und fünf Sektkelche auftauchte, kehrte Ruhe zurück.

"Das ist eine erstklassige Idee", lobte der Vater.

Nach dem Sekt gingen die Eltern der Kinder aufs Zimmer. Sie kamen mit Tüten sowie den Winterjacken zurück.

"Wir haben keine Geschenke vorbereitet. Das war zu kurzfristig für uns", entschuldigte sich die Großmutter, beim Anblick der schweren Tüten.

Die Mutter lachte: "Das sind keine Geschenke. Wir wollen schließlich bei euch nicht verhungern."

Wie der Raub des Weihnachtsfestes entdeckt wird

Roland stürmte zum blauen Haus, denn er wollte die Haustür öffnen.

"Roland, warte!", schrie Maira hinterher und rannte ihm nach.

Er blieb stehen, schaute zurück und wunderte sich über das erschreckte Gesicht.

"Nicht!", sagte sie, als sie vor ihm stand. "Sonst merken sie alles."

Roland schaute zurück zu den anderen, die von draußen vom Wald zu kommen schienen. Der Vater war erleichtert über Mairas schnellen Einsatz. Auf dem Gehsteig des blauen Hauses lag die Schneelast des Tages. Festgetretene Spuren teilten den Gehweg in der Mitte, aber kein Mensch war erkennbar, der diese Spuren getreten hatte. Im Gänsemarsch stapften die beschneiten Wintermäntel auf die Kinder zu, die neben der Tür warteten, damit Großvater aufschließen konnte. Er hielt den Schlüssel bereit.

Hinter der teilweise verglasten Haustür dunkelte es. Fröhliche Stimmen näherten sich. Großvater wollte die Schlüsselhand ausstrecken, als die Tür von innen aufgezogen wurde. Roland und Maira erkannten die Winterkleidung, die mittags reichlich alt gerochen hatten. Jedoch die Köpfe - der Frau und des Mannes - schienen ausgetauscht. Der Mann war glatt rasiert. Er schwebte in Rasierwasserdunst. Maira befiel -, trotz des fröhlichen Lachens, trotz des Wunsches nach einem gesegneten Weihnachtsfest -, ein unangenehmes Gefühl. Es war genau dieses Gefühl, das sie mittags gezwungen hatte, sich an Roland zu drücken. Roland entsetzte diese unnatürliche Wandlung zur Fröhlichkeit, die beklemmender war als die Barschheit, die er mittags nur als sonderbar empfunden hatte. Beide schoben an den Leuten vorbei ins Haus und hasteten die ersten Stufen hoch, wo sie innehielten.

"Ein gesegnetes Weihnachtsfest", wünschten sich alle der Reihe nach.

"Wo sind Maira und Roland?", fragte der Großvater.

Dann stellte er Mami und Vati vor.

"Meine Schwiegertochter und mein Sohn kommen aus dem Saarland, aus Mettlach. Mein Sohn arbeitet bei Villeroy und Boch."

Der alte Mann lachte herzhaft: "Auf solch einem Produkt sitzen wir jeden Morgen."

Großvater hielt dagegen: "Sie sitzen darauf und wir trinken sogar daraus. - Jeden Morgen."

Der Vater lachte: "Viele Leute kennen "V und B" nur als Hersteller von Sanitärkeramik, aber "V und B" ist auch Porzellan- und Kristallhersteller. Meine Eltern trinken natürlich nicht aus der Toilettenschüssel ihren Morgenkaffee."

Mit weihnachtlicher Fröhlichkeit verabschiedeten sie sich.

Roland betrachtete Maira erstaunt. Sie hob ratlos die Schultern.

"Sind das dieselben Menschen, die mittags so mürrisch die Treppen herabgestiegen waren?"

"Solche Wandlung darf ohne Übertreibung als Wunder bezeichnet werden", gab Roland altklug von sich.

"Der muffige Kleidergeruch ist verschwunden."

"Das ist weniger ein Wunder. Nach einer Stunde in frischer Luft verschwindet selbst Zigarettenrauch aus den Kleidern."

Maira schüttelte sich wie ein Hund im Eisbad.

"Die sind so unheimlich."

Die Eltern beklagten sich über die schweren Taschen mit Essen und Getränken, die sie hochschleppten. Maira spürte immer noch den Schnitt der Griffschlaufen an ihren Fingern. Roland wurde bei jeder Stufe durch das Zerren der Beinmuskulatur an den früheren Aufstieg erinnert. Die Kinder zwinkerten sich zu.

"Haben wir das nicht auch schon mitgemacht", flüsterte Roland.

Selbst ohne Taschen waren die Treppen schmerzhaft. Roland quälte sich von Stufe zu Stufe. Maira stapfte an den anderen vorbei.

Vom oberen Stockwerk rief sie herunter: "Endlich Maier!"

"Wie schafft ihr das nur jeden Tag?", fragte Roland anerkennend.

"Treppensteigen hält jung", meinte die Großmutter.

Die Mutter lachte: "Dann werden wir bald den gleichen Geburtstag feiern."

Bevor sie die Wohnung betraten, machte der Vater ein unauffälliges Zeichen. Er konnte seine Anspannung kaum verheimlichen. Die Mutter streichelte beruhigend seine Wangen. Besonders langsam entledigten sich die Kinder ihrer Jacken, um sie noch besonders langsamer über Bügel zu streifen. Auch sie hielten die Spannung kaum aus, wollten aber die Überraschungsschreie der Großeltern voll genießen. Die Eltern brachten ihre Stofftaschen in die Küche. Die Kühlschranktür wurde geöffnet, Päckchen und Flaschen wurden in den Kühlschrank gepackt. Gemächlich schritten die Großeltern auf die Wohnzimmertür zu.

"Jetzt!", dachten die Kinder und machten sich bereit, die Großeltern zu bestürmen.

Die Großmutter drückte den Türgriff, hielt inne und fragte in die Küche:

"Soll ich euch helfen?"

"Wir sind bereits fertig!", rief der Vater zurück.

Die Großeltern verschwanden im Wohnzimmer, die Kinder warteten auf die begeisterten Rufe. Der Vater streckte den Kopf aus der Küchentür und hob fragend die Schultern. Die Mutter stellte sich in den Flur, auch sie erwartete angespannt die Freudenrufe. NICHTS. Die Kinder hielten es nicht länger aus. Sie stürmten ins Wohnzimmer, blieben angewurzelt stehen, schauten links, schauten rechts. Die Eltern drängten nach.

"Wo?", fragte die Mutter.

"Wo ist er?", fragte der Vater.

"Wo ist wer?", wollte Opa wissen.

"Hier!", sagte Maira und deutete auf eine Stelle am Boden, die auch dem schärfsten Adlerblick keine Besonderheit bot.

Mehr konnte lange Zeit nicht gesagt werden. Alle starrten den Boden an. Die Großeltern schüttelten die Köpfe. Ratlosigkeit hatte den Eltern die Unterkiefer sinken lassen. Die Kinder stierten aus schreckgeweiteten Augen. Roland versuchte eine Erklärung, aber nur unverständliche Laute gurgelten in seinem Rachen. Die Großeltern vermuteten bereits Anzeichen von Zerrüttung. Sie blickten zu Boden und schwiegen erschüttert.

"Hier haben wir heute Mittag den blauen Christbaum aufgebaut!"

Mairas ausgestreckter Zeigefinger deutete auf die Stelle am Boden, die sie so sorgfältig ausgewählt hatte. Hier war mittags der Baum zu einem Kunstwerk erblüht.

"Ja, genau hier", bestätigte Roland.

Omi lachte: "Und der ist jetzt weggeflogen?"

"Solche Wunder passieren an Weihnachten immer wieder. Das ist ein bekanntes Phänomen", behauptete der Großvater, mit einer Ernsthaftigkeit, die geradezu lächerlich war.

"Vater, es ist, wie die Kinder sagen. Sie haben heimlich eine Blaufichte aufgestellt und geschmückt", bestätigte die Mutter.

"Wann denn?"

"Als wir zum Essen waren. - Sie waren nicht bei alten Spielkameraden."

Wieder wurde lange geschwiegen, dann verließ Großvater das Zimmer. Sie hörten, dass er die Schlafzimmertür öffnete. Er kam gleich wieder zurück. Es gab kein weiteres Zimmer, in das er hätte schauen können. Roland rutschte auf dem Boden.

"Nichts", hauchte er. "Absolut nichts."

"Was sollte sein. Was erwartest du zu sehen?"

"Tannennadeln, Lametta, irgendetwas. - Keine Spur."

Roland richtete sich mühselig auf und beobachtete ängstlich die Erwachsenen. Er spürte, dass etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Maira zitterte, denn die Unfassbarkeit der Vorkommnisse lauerte noch im Zimmer.

"Der Baum und alle Geschenke", stöhnte er.

"Jemand hat unser Weihnachtsfest geraubt!", jammerte Maira.

"Jetzt gilt es Ruhe zu wahren", sagte Großvater und schritt kerzengerade zu einem Stuhl, auf den er sich kerzengerade niederließ. Die anderen Erwachsenen verteilten sich auf andere Sitzmöbel. Nur die Kinder zappelten aufgeregt durchs Zimmer. Nach diesen unheimlichen Geschehnissen wollten sie sich nicht setzten. Immerhin könnte es ihnen wie dem Baum ergehen.

"Wir sollten die Polizei anrufen und Anzeige gegen Unbekannt machen", meinte der Vater.

"Gemach, gemach", antwortete der Großvater.

Die Erwachsenen diskutierten die Vorkommnisse, ohne die Kinder in ihre weiteren Überlegungen einzubeziehen. Ab diesem Punkt ging es um Raub, Einbruch, Diebstahl und solche gewichtigen Dinge, die kein Kindervergnügen sind. Der Großvater stand während einer allgemeinen Denkpause auf und schritt gravitätisch zu seiner Bücherwand. Dort zog er ein dickleibiges Werk aus einem Regal. Mit krummem Zeigefinger winkte er Roland heran und zeigte ihm das Buch, damit er den Titel lesen konnte.

"Die neuen Abenteuer des Sherlock Holmes?"

"Schon von ihm gehört?"

Roland nickte.

"Wir sollten einfach seine Methode anwenden, damit wir der Polizei gleich die Verbrecherbande ausliefern können."

"Verbrecherbande?", hauchten Roland und Maira fröstelnd.

"Glaubt ihr allen Ernstes, ein einzelner Mensch könne einen Raub dieser Schwierigkeit und mit solch atemberaubender Präzision machen? Keine Nadel! Nichts!"

Diese Schlussfolgerung war mehr als einleuchtend.

"Wir gehen euren gesamten Weg noch einmal. Schritt um Schritt machen wir diesen Weg. Prüfen jede Abzweigung, schauen hinter jede Ecke. - Wir werden sie schnappen!"

Großvaters Stimme war zu tiefem Groll gesenkt, dass sie Beklemmung und Gänsehaut erzeugte.

"Die alten Leute waren so fröhlich!", platzte Maira heraus.

"Welche alten Leute?"

"Die aus dem Haus gekommen sind, als wir hineinwollten. Sie waren verwandelt. Heute Morgen waren das richtige Scheusale."

Damit hatte Roland begriffen, wer den Raub begangen hatte. Jetzt lag alles sonnenklar auf der Hand.

"Das ist die Bande, nach der wir suchen. Ganz bestimmt!", rief er.

Der Großvater ließ sich von solcher Euphorie nicht anstecken.

"Das ist ein Verdacht, den wir mit Beweisen erhärten müssen. - Wir müssen an Sherlock Holmes denken. Ich weiß nicht, ob diese Leute im Haus wohnen. Zugegeben war ich von dem Überschwang der beiden Verdächtigen sehr überrascht."

Nach den beängstigenden Worten des Großvaters überwanden sie nur langsam das große Unbehagen und stiegen die Treppen hinab.

An der Straßenecke sammelten sie sich. Mit zusammengepetzten Augen spähten sie durch dichtes Schneetreiben zum blauen Haus.

"Hier war der Startpunkt?", wollte der Großvater wissen.

Roland und Maira nickten bestätigend.

Langsam tappten sie in der ausgetretenen Spur. Im Gänsemarsch näherten sie sich dem Haus.

"Ist vorn nichts Auffälliges?", rief der Großvater von hinten.

"Nichts!", rief Roland zurück.

Es war Roland klar, dass sie sich mit jedem Schritt ungeahnter Gefahr näherten.

"Schließ auf", sagte der Vater.

Roland zog den Schlüssel aus der Tasche und stocherte mit zittriger Hand nach dem Schlüsselloch. Schnee wirbelte ins Treppenhaus. Der Vater betrachtete das Klingelbrett, wo ein Name fehlte. Er zeigte darauf.

Die Großmutter sagte: "Viele Gesichter und Namen kennt man ohnehin nicht. - Vor einer Woche ist ein Umzugswagen vor dem Haus gestanden."

Mit gedämpften Schritten stiegen sie die Holzstiegen hoch, die trotz ihrer vorsichtig gesetzten Schuhe gelegentlich knarrten. Sie sprachen kein Wort. Auf jedem Stockwerk blickten sie sich vorsichtig um. Der Großvater schnüffelte wie ein Polizeihund, der auf Blaufichten abgerichtet worden war. Maira versuchte es auch. Auf Zehenspitzen arbeiteten sie sich Stockwerk um Stockwerk hoch und fanden keine einzige blaue Nadel. Roland und Maira rannten enttäuscht das letzte Stockwerk hoch. Die Sache war aussichtslos. Sherlock Holmes hatte versagt.

"Kinder kommt vorsichtig herab", flüsterte es vom dritten Stock.

"Was ist?", flüsterten sie zurück.

"Kommt", flüsterte Großvater wieder.

Widerwillig tappten sie die Holzstiegen hinab.

"Was ist?", fragte Roland ungläubig. "Hast du die Räuber?"

Großvater streckte einen Zeigefinger gegen die Klingel der Wohnung, die genau unter der Wohnung der Großeltern lag. Roland stieg die letzten drei Stufen herab und trat näher.

"Meier", las er.

"Die heißen ja wie wir!", rief Maira aus.

Opa legte, zum Zeichen des Schweigens, den Zeigefinger an die Lippen.

"Nicht ganz", flüsterte der Vater. "Meier mit "e" und Maier mit "a" ist so verschieden wie Rotkohl und Weißkohl. Roland hätte es erkennen müssen."

"Aber der Schlüssel?", fragte Roland.

Der Großvater tippte mit dem Zeigefinger auf das erste "e" von Meier und es drehte sich um sein Schwänzchen. Es hing unter dem Namen, aber sah einem "a" sehr ähnlich.

"Ah!", staunten alle.

Roland war zuerst geknickt gewesen, aber dann stürmte er erleichtert vor.

"Soll ich klingeln?"

Der Großvater hielt Rolands ausgestreckte Hand zurück.

"Wir werden die weiteren Schritte zuerst beraten."

Wie ein Weihnachtsfest geschenkt wird

Der Vater kam mit einer entkorkten Rotweinflasche aus der Küche. Es war eine dieser besonderen Flaschen, von denen er zwei Holzkisten voll gekauft hatte. Damals hatte sich die Mutter entsetzt ins Sofa fallen lassen, nachdem der Vater ihr den Preis ins Ohr geflüstert hatte. Chateau irgendwas stand auf dem Etikett. Die Großmutter nahm aus der Vitrine vier geschliffene Weingläser, die sie mit einem frischen Tuch auswischte.

"Was machen wir jetzt?", wollte Roland wissen.

"Wein trinken. Das siehst du doch."

"Und der Baum?", fragte Maira enttäuscht. "Wir können den Baum und die Geschenke nicht diesen Leuten lassen!"

Opa machte Hängeohren und fragte: "Bekomme ich diesmal ein volles Glas?"

"Wir könnten doch ein Glas gemeinsam leeren", schlug Roland vor.

Die Mutter wiegte nachdenklich den Kopf. Sie sagte nichts, wiegte nur den Kopf.

Der Großvater lachte: "Da warten wir lieber noch ein Weilchen."

Diesmal bekam die Mutter nur ein halb gefülltes Glas.

"Sparst du jetzt an mir?", fragte sie entrüstet.

"Wenn ich schwanger bin, werde ich keinen Tropfen Wein trinken", sagte der Vater.

Die Mutter nickte und sagte: "Du hast ja recht, mein Liebster."

"Auf ein gelungenes Weihnachtsfest!"

Der Großvater hob sein Glas und wartete, bis die anderen Erwachsenen ihre Gläser erhoben hatten.

"Auf ein gelungenes Weihnachtsfest!"

"Und unser Baum?", wiederholte Maira. "Die Geschenke?"

"Ist es so nicht viel spannender?", meinte der Großvater.

Gegen sechs Uhr kam der Vater auf die Idee, es wäre Zeit, Weihnachtslieder zu singen. Dieser Gedanke war nicht leicht umzusetzen. Sonst sangen sie in Richtung des erleuchteten Baumes. Sonst strahlten die Kerzen. Es dauerte einige Zeit, bis sie sich orientiert hatten. Omi hatte das Wohnzimmerlicht gelöscht. Dämmerlicht schimmerte durch die halb geöffnete Küchentür. So sangen sie sich gegenseitig an, schauten sich in die Augen und jedes Lied verstärkte die Schönheit dieses Festes. Der fehlende Baum, die fehlenden Geschenke erhielten eine sonderbare Bedeutung. Die Kinder hatten Geschenke erhalten, sich aber geweigert, diese auszupacken. Anschließend deckten die Mutter und die Kinder den Tisch. Sie trugen Leckereien auf, die sie in ihren Tüten mitgebracht hatten.

Sie plauderten beim Abendessen über die Ereignisse des Tages. Diese hatten spannend begonnen, waren traurig geworden und hatten letztlich einen versöhnlichen Charakter angenommen. Die Kinder erkannten versteckten Sinn in der Verwechslung der Türen.

Roland rätselte: "Ob die ahnen, wer den Baum aufgestellt hat?"

Der Großvater schüttelte den Kopf.

Die Mutter meinte: "Woher sollten sie es wissen. Ihre Vermutung wird ganz sicher in eine andere Richtung gehen."

"Sie waren glücklich", erinnerte sich Maira.

"Genau das war auch mein Eindruck", sagte Opa. "Aus diesem Grund wollte ich diese unerwartete Überraschung nicht zerstören. Unsere Freude wäre bestimmt nicht so groß gewesen, wie ihre Freude ist. Wir hätten ihre Freude zerstört, was bestimmt nicht im Sinn von Weihnacht wäre."

Alle nickten stumm. An Großvaters Worten konnte nichts verbessert werden.

Gegen elf Uhr erklang von der unteren Wohnung ein Weihnachtslied, von einer brüchigen Männerstimme und einer warmherzigen Frauenstimme getragen. Der Würfel klapperte noch zwei Mal und blieb mit einer Sechs liegen. Das Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel ruhte. Im vierten Stock lauschten sechs Zuhörer und empfanden die Lieder wie eine heimliche Danksagung. Es war erhebend die Inbrunst der Stimmen zu erkennen.

"Wenn ich die nur sehen könnte", sagte Maira.

Mutter und Großmutter nickten lächelnd. Sie lauschten vier Liedern. Die Männerstimme verlor Kraft, Stille pochte von unten.

"Alles schweigt, einsam wacht", flüsterte Roland.

"Mir ist als höre ich das Rascheln des Papiers, wenn sie die Geschenke auspacken", meinte die Großmutter.

Alle lauschten. Freudenschreie. Omi hatte wirklich das Papierrascheln gehört.

"Und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen", sagte der Vater.

Roland kannte den versteckten Zynismus seines Vaters. Er betrachtete ihn tadelnd und schämte sich seiner falschen Einschätzung. Der Vater hatte feuchte Augen. Er war gerührt. Roland wusste, dass er dieses Weihnachtsfest immer sein schönstes Fest nennen würde. Es war klar, dass er später seinen Kindern von diesem Fest erzählen werde.

Alle erhoben sich von ihren Plätzen und traten aufeinander zu, als folgten sie einem geheimen Ritual. Sie umarmten sich, sie weinten, weil sie wussten, dass sie jemand das Fest aller Feste bereitet hatten.

Wie der Vater den Tannenbaum zurückkauft

Eigentlich konnte es gar nicht anders kommen. Roland und sein Vater, also die Maiers, trafen Herrn Meier auf der Treppe. Herr Meier trat hemdsärmlig aus seiner Wohnung, als hätte er auf dieses Zusammentreffen gelauert. Roland wollte sich ängstlich verdrückten, aber sein Vater hielt ihn fest an der Hand.

"Hatten Sie ein gesegnetes Weihnachtsfest?"

"Mehr Segen, als ich verdient habe", antwortete Herr Meier.

Dann fragte er ohne Übergang, ob der Vater zu Hause in Mettlach einen Garten habe. Vater machte eine ausholende Armbewegung, und erklärte Herrn Meier, welche Bäume sich im Garten wohlfühlen.

"Würde da noch eine Blaufichte dazwischenpassen?"

"Ehrlich gesagt habe ich mir schon immer eine Blaufichte gewünscht."

"Kommen sie mit in unsere Wohnung."

Herr Meier drückte die angelehnte Tür auf. Roland folgte seinem Vater in die Wohnung, die er wiedererkannte. Er sah zur Flurdecke hoch, wo die Lampe hing, der er mit der Baumspitze ausgewichen war. Wie hingehaucht roch Sauerbraten. Die Tür zum Wohnzimmer stand offen. Der blaue Baum mit roten Kugeln, den Maira herrlich geschmückt hatte, der Stern an der Baumspitze, den er selbst festgemacht hatte - alles war wie am Heiligen Abend. Roland schämte sich für den Fehler mit der falschen Wohnung.

"Ein schöner Baum", hörte er die Stimme seines Vaters durch den Dunst seiner Gedanken. "Absolut gleichmäßig. - Wieso haben Sie einen Baum mit Wurzeln gekauft, wenn Sie nichts damit anfangen können."

Ohne Umschweife bot Vater zwanzig Euro für den Baum.

"Oder haben Sie mehr gezahlt?", fragte der Vater als Reaktion auf das verlegene Gesicht.

Herr Meier erzählte eine wundersame Geschichte, für die er keine Erklärung hatte. Er stand vor einem Rätsel, wie jemand in seine Wohnung gelangen konnte und überhaupt, wer sollte so etwas machen?

"Sie wollen nicht ans Christkind oder den Weihnachtsmann glauben?", fragte Rolands Vater mit ernster Stimme.

"Wenn wir keine andere Erklärung finden, werden wir diese Deutung gern akzeptieren."

Frau Meier kam ins Wohnzimmer, mit Wintermantel bekleidet. Das braune Haar bedeckte eine dunkelrote Wollmütze mit Ohrwatscheln, die für ihren Kopf gemacht schien. Ihre rechte Hand umschloss ein schwarz gebundenes Gesangbuch. In der Armbeuge schlenkerte eine neue blaue Handtasche. Sie schritt den Gästen glücklich strahlend entgegen.

"Haben Sie keine Verwandte, haben Sie keine Freunde, denen Sie solch eine Überraschung zutrauen würden?"

Die beiden alten Leute schüttelten die Köpfe.

"Niemand."

"Unser Sohn ...", fing die alte Frau an, dann unterbrach sie den begonnenen Satz und sagte: "Ich muss mich sputen. Ich will zur Kirche gehen."

"Ich komme nach! Jetzt hast du unsere Gäste neugierig gemacht. Ich muss auch die traurige Geschichte erzählen."

Es folgte eine Geschichte von einem Sohn, der sich vor zwanzig Jahren mit seinen Eltern zerstritten hatte. Dieser Streit war so endgültig, dass sie nie mehr miteinander gesprochen hatten - obwohl sie höchstens fünfzehn Kilometer voneinander entfernt wohnten.

"Es war meine Schuld. Ich bin sicher, dass es meine Schuld war. Zwanzig Jahre sind für verschmähte Liebe eine Ewigkeit."

"Ist ihr Sohn verheiratet? Haben Sie Enkelkinder? Lebt er glücklich?"

Auf jede Frage schüttelte Herr Meier traurig das Haupt.

"Ich weiß, dass er in Stuttgart wohnt - mehr nicht."

Sie saßen zu dritt um den Tisch und sprachen über den Weihnachtsbaum, der unerwartet das Wohnzimmer geschmückt hatte. Er stand selbstbewusst auf seinem Platz - ein unlösbares Rätsel. Bei Gedanken an seinen Sohn, bei der Schilderung des Streits, tupfte der alte Mann Tränen von seinen Augen.

"Nur Ihr Sohn kommt in Frage. Wer sonst sollte heimlich einen Weihnachtsbaum bei Ihnen aufstellen. Rufen Sie ihn an, bedanken Sie sich für die Geschenke."

"Diese Idee passt zwar wunderbar zu Weihnachten, aber sie wäre fürs wirkliche Leben viel zu wunderbar - oder glauben Sie nicht auch?"

Der Vater spielte mit Herrn Meier andere Ideen durch, die alle keinen Bestand hatten. Am Schluss blieb die einzige Möglichkeit übrig, dass sich der verlorene Sohn diese Überraschung ausgedacht hatte. Natürlich zog Rolands Vater die unglaubwürdige Möglichkeit, dass Kinder die Tür verwechselt hatten, bei den gemeinsamen Überlegungen nicht heran.

"Ich muss das mit meiner Frau beraten. Beim Gedanken, nach zwanzig Jahren mit meinem Sohn zu sprechen, überkommt mich Furcht."

"Sie sollten das unbedingt mit Ihrer Frau besprechen", bestätigte der Vater.

Anschließend wurde über Kinder und Enkel geplaudert, über Eltern und Großeltern, bis sich der Vater gewaltsam von seinem Stuhl erhob.

"Herr Meier, wir müssen gehen. Ich werde den Baum am ersten Januar holen."

Sie umarmten sich wie Freunde. Roland ließ sich auch umarmen. Eigentlich war das ein sehr gutes Gefühl.

Wie der Tannenbaum doch nicht verkauft wird

Am ersten Januar hatten die Maiers lange geschlafen. Bunt zerberstende Raketen waren vom Balkon abgeschossen worden. Anschließend folgte ein Mitternachtsfrühstück, wie es sich für einen gelungenen Einstieg ins neue Jahr geziemt. Alle waren mit den vergangenen Tagen zufrieden. Die Kinder schliefen bei den Großeltern, während die Eltern am frühen Morgen ins Hotel zurückgingen. Bereits um zehn Uhr stand der gepackte Wagen vor der Tür. Die Kinder erwarteten die Eltern vor dem Haus. Sie hatten den roten Passat an der Straßenkreuzung erkannt und waren sofort die Treppen hinabgestürmt.

Für den Pflanzkübel war Platz reserviert. Eigentlich waren Roland und Maira froh, dass sie wieder zurückfuhren, denn das Pendeln zwischen Hotel und Großeltern war anstrengend. Sie stiegen gemeinsam die Treppen hoch. Dieser Kraftakt war mittlerweile zur täglich mehrfach wiederholten Routine geworden. Der Vater klingelte bei Meier. Frau Meier öffnete die Tür und bat die Maiers in die Wohnung.

"Es tut mir so leid", begann sie bereits im Flur.

"Was ist geschehen? Ist der Baum abgebrannt?", fragte die Mutter erschreckt.

"Unser Sohn hat uns mit seiner Familie besucht."

"Das hört sich doch sehr gut an - oder war die Begegnung unfreundlich?", fragte der Vater.

Sie gingen ins Wohnzimmer, wo Herr Meier auf einem Stuhl saß. Beim Eintritt der Gäste erhob er sich sofort, um ihnen mit ausgebreiteten Armen entgegenzueilen. Seine Augen waren tränenfeucht, sein Gesicht verriet Hochstimmung, seine Stimme vibrierte glücklich. Er umarmte Vater.

"Ihr Sohn war mit seiner Familie hier", begann der Vater. "Was ist vorgefallen?"

Herr Meier löste die Umarmung, eilte auf die Mutter zu, nahm ihre Grußhand in beide Hände. Schließlich umarmte er Roland und nahm Mairas Hand in seine welken Hände.

"Ich habe ihn angerufen um mich zu bedanken, wie Sie mir empfohlen hatten. Zuerst war mein Enkel am Telefon. Er rief seinen Vater. Unserem Horst versagte die Stimme, er weinte, ich weinte. Meine Frau, die das Gespräch mithören wollte, weinte auch. Sie wollte mit Horst sprechen, ihn beruhigen, und das Geheule fing erst richtig an. Wir konnten kein Gespräch führen."

Nach diesem Wortschwall, bei dem ihm wieder Tränen aus den Augen kullerten, machte er eine Pause.

Der Vater fragte ganz aufgeregt: "Und dann? Was ist danach geschehen?"

Frau Meier sprach gefasst: "Seine Frau, unsere Schwiegertochter, nahm den Telefonhörer und sagte, dass die gesamte Familie uns besuchen wolle. Dann legten wir auf."

Die Nervenanspannung war nach diesen Worten abgeflaut, aber niemand wollte sprechen. Roland suchte Mairas Hand, die bereits auf diese Geste gewartet hatte und sich an den Bruder drängte. Die Eltern betrachteten sich lächelnd. Der Mann streckte beide Arme seiner Frau entgegen, die seine Hände zärtlich faßte.

"Am zweiten Weihnachtstag sind sie gekommen. Es war herrlich. Kein Wort von der alten Geschichte. An so viel Harmonie kann ich mich nicht erinnern", rauschte es aus Frau Meier.

Es folgte eine Pause, die nicht einmal der Vater unterbrach. Herr Meier beendete das Schweigen.

"Mein Sohn sagte: Gleichgültig von wem dieser Baum stamme - er wolle ihn in seinen Garten pflanzen. Dieser Baum solle Mahnung und Erinnerung sein."

"Und Sie? Sie können nicht sehen, wie der Baum zu einem Monument wächst", meinte der Vater.

"Wir können in ihrem Haus wohnen, in einer Einliegerwohnung, die frei geworden ist", sagte Herr Meier.

Seine Frau jubelte: "In meinem ganzen Leben war ich noch nie so glücklich!"

Der Vater legte besondere Feierlichkeit in seine Stimme. Die Kinder hatten keinen Zweifel an dem Schlusswort, das lautete: "Und Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!"

Alle umarmten sich wieder.

Die Kinder wussten, dass die Verwechslung der Tür kein Zufall sein konnte. Anders als durch göttliche Fügung konnte Roland diese Weihnachtsgeschichte nicht erklären. Er besprach nur mit Maira diese Überlegung, die bestätigend mit ihren goldenen Locken wippte.

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