Unser Buchtipp Weihnachtsgeschichten

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Eingereicht am
13. März 2007

Klein-Weihnachten

© Mareike Fischer

Meine Schwester und ich, wir kennen kein Maß. Was wir anfangen, muss perfekt werden, und wir fangen eine Menge an. Wir sind wohl auch ziemlich arrogant, denn wir trauen uns sogar im Vorfeld zu, was für andere unerreichbar wäre. Und wir erreichen es immer. Jahrgangsbestes Abitur, zwei Jobs parallel Studium, nebenbei diverse Ergänzungs- und Fernstudien, nur unterbrochen von Auslandsaufenthalten und dem Lernen für Sprachzertifikate. Unser nächstes Ziel ist der Doktortitel, und niemand zweifelt daran, dass wir beide den auch erreichen werden. Unsere Eltern könnten stolz auf uns sein. Andere Eltern wären es jedenfalls, da bin ich sicher. Doch ob es unsere Eltern überhaupt interessiert? Ob sie überhaupt noch einen Überblick haben, wer von uns beiden gerade für welches Ziel lernt? Fragen stellen sie jedenfalls nie.

Unsere Eltern haben noch nie viel gefragt. Sie fragten nie, was wir spielten, und auch nicht wo. Unsere Gegend war voll von Baustellen, zu denen der Zutritt verboten war. "Eltern haften für ihre Kinder", stand da. Das war für meine Schwester und mich immer wie eine Einladung. Oft war das kaum zu übersehen, wenn wir wieder heimkamen, voll von Matsch, manchmal gar Gips oder Farbe. Doch verboten wurde es uns nie. Wir brachten meistens gute Noten aus der Schule mit, doch gab es auch bei jeder von uns Phasen ohne jeglichen Antrieb. Gestört hat das anscheinend niemanden. Für die katholische Privatschule mussten wir Aufsätze schreiben zum Thema, weshalb Videospiele nicht kindgerecht seien. Ich war kurz danach die erste in meiner Klasse, die einen eigenen Gameboy zu Weihnachten bekam. Im Jahr darauf hatte ich meinen eigenen Fernseher. Ich bin einmal nachts wachgeblieben, um einen Horrorfilm zu schauen, nach dem ich wochenlang nicht mehr schlafen konnte. Meine Eltern wissen bis heute nichts davon. Die Weihnachtsgeschenke wurden immer größer, immer teurer. Es kamen im Laufe der Jahre ein Computer, ein Flachbildmonitor, eine Digitalkamera und ein MP3-Spieler dazu. Ich habe immer Grund, mich auf Weihnachten zu freuen, denn ich liebe Technik, und technische Geräte sind für mich das schönste Spielzeug. Weihnachten lohnt sich irgendwie immer.

Meine Schwester und ich wurden immer ehrgeiziger, doch auch immer verbündeter. Wo wir früher vielleicht konkurrierten, sei es um die Gunst der Eltern, sei es um irgendwelche Spielzeuge, sei es um Schulnoten, so sind aus Konkurrenten doch im Laufe der Zeit Mitstreiter geworden. Jedes einzelne ihrer Zertifikate macht mich ebenso stolz wie meine eigenen. Ich sporne sie an für ihr Studium, von dem ich inhaltlich nur wenig verstehe, und sie fördert immer wieder meine Interessen, auch wenn es nicht die ihren sind. Wir fragen nach den Studien der jeweils anderen. Unsere Eltern nicht.

Als wir klein waren, haben wir oft gestritten. Ich glaube, ich war stets neidisch und eifersüchtig. Aus meiner Sicht bekam sie, die jüngere, alles in den Schoß gelegt, wofür ich hatte kämpfen müssen. Und doch haben wir irgendwann erstmals zusammengearbeitet. Es ging um Weihnachten. Es ging um Geschenke für unsere Eltern.

Wir bastelten. Zunächst nur für die Eltern, später für alle Bekannten und Verwandten. Zunächst nur Grußkarten, später Weihnachtsteller aus Pappmaché und Nikolausstiefel aus Filz, die natürlich gefüllt wurden mit selbstgebackenen Plätzchen, für die wir bis Mitternacht in der Küche standen. Wir häkelten und strickten Glücksschweine für Silvester. Wir schlossen unser gemeinsames Spielzimmer wochenlang ab - jedes Jahr. Denn wir brauchten Platz und Zeit für gemeinsames Arbeiten. Und es war Arbeit. Wir haben wochenlang täglich Stunden damit verbracht, Weihnachten vorzubereiten. Vielleicht haben wir damals erstmalig einen gemeinsamen Ehrgeiz entwickelt. Wir hatten dieses Zimmer unter dem Dach, und während wir dort arbeiteten, war uns der Weg in die Küche selbst in Arbeitspausen zu lang. Tee wurde mit lauwarmem Wasser aus dem Wasserhahn des oberen Badezimmers aufgebrüht. Es schmeckte furchtbar, aber es war der beste Tee überhaupt, denn er schmeckte nach Weihnachten.

Am Ende dieser langen Wochen stand ein Heiligabend mit vielen technischen Neuerungen, mit denen wir dann beide einzeln lange beschäftigt sein würden. Irgendwann kamen wir auf die Idee, diesem Nichts entgegenzuwirken mit einer eigenen Weihnachtsfeier. Wir nannten sie Klein-Weihnachten. Wie schon gesagt, wir sind arrogant. Wir waren sicher, im Unterschied zu unseren katholischen Eltern den wahren Sinn von Weihnachten begriffen zu haben. Wir wollten einen eigenen Weihnachtsbaum für unser Spielzimmer. Wir bekamen nur einen aus Plastik, der sehr billig und hässlich war. Doch es war unserer. Wir hatten einen Pakt, dass wir uns nur Selbstgebasteltes schenken durften. Ich verbrachte jedes Jahr viel Zeit mit Überlegungen, was ich ihr basteln könnte, doch immer war es im Grunde Ramsch. Am Nachmittag des Heiligen Abends packten wir den Ramsch gemeinsam aus und tranken lauwarmen Tee und gingen erst aus dem Zimmer, wenn es unten Zeit für die offizielle Bescherung wurde.

Wir sind natürlich aus dem Bastelalter herausgewachsen. Anstatt wochenlang im Pappmaché zu panschen, spornten wir uns irgendwann für Prüfungen an; sorgten wir für die Schönheit des Lebenslaufs der anderen. Ich zog irgendwann weg zum Studieren. Ebenso sie. Irgendwann kamen dann Auslandssemester, aufgrund derer wir nicht einmal mehr am Heiligabend zusammen waren, geschweige denn in den Wochen davor. Und der ein oder andere Mann war auch eine Zeitinvestition. Klein-Weihnachten gibt es schon lange nicht mehr.

Es ist wieder Weihnachten. Meine Schwester ist vorigen Monat gestorben. Ich lasse lauwarmes Wasser auf meinen Teebeutel laufen. Die Thermoskanne nehme ich mit zu ihrem Grab. Dort sitze ich lange, es ist kalt. Meine Hände sind schon rotgefroren. Ich weiß nicht, was ich hier mache, ich weiß nicht, was ich ihr sagen soll. Aber ich denke, vielleicht gebe ich mein Fernstudium auf.

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