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Hoffnung in der Finsternis

© Katharina Britzen


Wegen des dichten Schneegestöbers kam er nur im Schneckentempo weiter. Die Augen zu Schlitzen verengt, hatte er sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt, doch der peitschende Wind trieb ihm die Schneekristalle unerbittlich ins Gesicht, wo sie sich in seinen dunklen Augenbrauen und dem struppigen Bart verfingen, dort kleine Eiskrater bildeten. Die löchrigen Strümpfe an seinen Füßen hielten die Kälte in den ausgelatschten Schuhen nicht mehr ab, und durch die nassen Hosenbeine kroch Zentimeter um Zentimeter eine beißende Kälte, die stechende Schmerzen verursachte.
Dieter fluchte insgeheim. Warum war er am heutigen Heiligabend nicht im Obdachlosenasyl geblieben? Bei seinen Kumpels, die jetzt sicherlich gemütlich zu Abend aßen und als mildtätige Weihnachtsgeste eine prallgefüllte Tüte mit selbstgebackenen Plätzchen geschenkt bekamen. Spritzgebäck, Lebkuchen, Zimtsterne und dazu einen billigen Schokoladen-Weihnachtsmann. Ohne jegliche Vorwarnung stieg ihm ein aus Kindertagen wohlbekannter Duft von Weihnachtsgebäck in die Nase. Zusammen mit dem harzigen Geruch von Kaminfeuer, von würzigen Bratäpfeln. Schwefelgeruch von funkenstiebenden Wunderkerzen.
"Was haltet ihr davon, wenn wir heute Abend Weihnachtslieder singen und ich euch auf meiner Gitarre begleite?", hatte die füllige Ruth, eine der Ehrenamtlichen, gefragt, während sie die mannshohe Tanne im Speiseraum liebevoll mit selbstgebastelten Strohsternen, echten Kerzen und Lametta schmückte. Auf den Tischen hatte sie auf Weihnachtsservietten fürsorglich Nüsse, Äpfel und Mandarinen arrangiert. Bis auf zwei der Obdachlosen waren alle gleich Feuer und Flamme. Mancher beschloss sogar, sich zur Feier des Tages zu rasieren und zu duschen. Der vollends abgestumpfte Heiner hatte zwischen seinen schwarzen Zahnstumpen genörgelt: "Lass den sentimentalen Scheiß, Ruth. Für uns Landstreicher gibt es in dieser Gesellschaft kein Weihnachten mehr. Bring mir lieber Schnaps, damit ich vergessen kann."
Auch die gestrauchelte Michaela, genannt Micki, eine studierte Soziologin, hatte zynisch mit verschorften Lippen gelästert: "Heiliger Abend. Dass ich nicht lache. Geschenke. Familie. Freunde. Christmette. Lichtjahre entfernt. Nicht mehr für uns, die neuen Parias der Gesellschaft. Für uns gibt es kein Weihnachten mehr. Nie mehr Hoffnung. Nie mehr Liebe. Nie mehr ein anständiges Leben. Findet euch endlich damit ab."
Aber warum lag nur eine solch schmerzliche Sehnsucht in ihren dunklen Augen? Warum konnte sie ihren Blick nicht von Ruth lösen, wie Dieter wohl bemerkt hatte, als diese auf einen Stuhl geklettert war, um an der Tannenspitze einen Stern anzubringen? Im Strudel vorweihnachtlicher Gefühle hatte Dieter unbehaglich in seinen Bart gegrummelt: "Raus hier. Nichts wie raus" und gleich seinen Rucksack geschnürt. Dass ihn noch eine schlichte Weihnachtsfeier in der Pennerherberge aus dem Gleichgewicht bringen würde, hätte er nicht geglaubt. Er befürchtete, nein, er wusste, hier würden ihn quälende Erinnerungen einholen, gegen die er seit Jahren mit aller Macht kämpfte... Erinnerungen an seine Frau, an seine beiden Kinder, an seine verlorene Arbeit. Erinnerungen an glückliche Weihnachten in eigenen vier Wänden mit Bergen von Geschenken und strahlenden Kinderaugen. Dann der Absturz. Kündigung, Zwangsversteigerung, Scheidung. Arbeitslos. Völlig aus der Bahn geworfen, befand er sich seither auf der Flucht. Auf der Flucht vor sich selber, auf der Flucht vor den verzweifelten Blicken seiner Kinder, auf der Flucht vor der Gesellschaft. Nichts wie weg.
Ruth hatte ihn besorgt vor den Folgen gewarnt: "Bleib um Gottes willen hier, Dieter. Da draußen tobt ein Schneesturm. Wenn du stürzt und dir womöglich ein Bein brichst, erfrierst du. Bitte, Dieter, bleib." Sie hatte gefleht und gebettelt, aber er beeilte sich nur, diesem Instant-Weihnachten zu entkommen, hatte die Tüte mit den Weihnachtsplätzchen abgelehnt, die ihm sie noch rasch zustecken wollte. Eine kurze Umarmung und ein trauriges "Frohe Weihnachten". Den Lumpengestalten ein letztes Mal zugenickt, die Heimtür ins Schloss gezogen, hatte ihn Sekunden später der Sturm, der um die Häuserecke brauste, verschluckt.
Wohin ihn die Straße führte, war Dieter egal. Müde, hungrig, durchgefroren stapfte er ziellos durch die klirrende Einöde, orientierte sich an den Katzenaugen am Straßenrand, die nahezu mit den Schneemassen verschmolzen. Ein Himmel, aus dem der Sturm den Schnee zu bürsten schien, musste sich gegen ihn verschworen zu haben. Daunenweiche Flocken formierten sich zu einer steinharten Mauer, gegen die er sich mit aller Kraft stemmte, um Schritt für Schritt weiterzustiefeln. Resigniert hatte er mehr als einmal daran gedacht, seinem unnützen, sinnlosen Leben ein Ende zu setzen. Und prompt gaukelte ihm seine Phantasie vor, wie schön, wie angenehm es wäre, sich einfach in den Schnee gleiten zu lassen, einzuschlafen und nie, nie wieder aufzuwachen. Tod durch Erfrieren sollte gnädig sein, hatte er gehört. Ein schmerzloser Tod. "Gib endlich auf, Dieter. Hat doch alles keinen Zweck mehr." Die Stimme in seinem Kopf wurde drängender, forscher. "Gib auf! " lockte sie weiter. Doch sein Inneres sträubte sich dagegen, siegte schließlich und trieb ihn hartnäckig weiter.
Ganz nah ertönten Glocken. Wenn ihn seine Sinne nicht täuschten, musste er kurz vor einem Dorf sein. Tatsächlich. Erste Häuser tauchten bereits auf. Es zog ihn weiter in den Ort hinein, dessen Straßenlaternen sich unter der Last des Schnees bogen. Eine gespenstische Leere herrschte auf den Straßen, aber durch hell erleuchtete Fenster blinzelte er in so manches Wohnzimmer. Einmal blieb er wie ein Voyeur gebannt an einem Fenster nahe der Straße stehen. Vater, Mutter, Kinder, Geschenke, ein dekorierter Weihnachtsbaum. Eine Idylle, wie er sie auch kennengelernt hatte...
Wie von Furien gehetzt stürzte er weiter und befand sich plötzlich vor einer Kirche, in die es ihn gegen seinen Willen hineinzog. Eine festlich geschmückte Kirche mit einer liebevoll gestalteten Krippe vor dem barocken Altar, an dem der Küster gerade die Lampen entzündete. Gleich darauf läuteten die Glocken, die an diesem Heiligabend die Christmette ankündigten. Er überlegte, ob er weiterziehen oder einfach daran teilnehmen sollte. Lichtjahre mussten es her sein, dass er zuletzt in einer Kirche gewesen war. Genau genommen an Weihnachten, bevor sein Leben in einer finalen Demontage endete. Seine kleine Anne war damals vor Übermüdung auf seinem Schoß eingeschlafen.
Sich seiner verwahrlosten Gestalt auf einmal bewusst, schämte er sich. In diesem Aufzug konnte er unmöglich an der Weihnachtsmette teilnehmen. Unübersehbar die Banderole mit der Aufschrift: Penner, Obdachloser, Gestrauchelter, für den die Straße der Mittelpunkt des Lebens geworden war. Am besten kratzte er die Kurve, aber anstatt nach draußen in die Winterkälte zu stiefeln, wurde er wie von Geisterhand ins Seitenschiff direkt hinein in den leeren Beichtstuhl gelotst. Aus dem Schutz des Beichtstuhls heraus beobachtete er verwirrt, wie sich nach und nach die Kirche mit Menschen füllte. Auf vielen Gesichtern ein friedlicher Glanz lag.
Zum Auftakt spielte die Orgel ein altes Weihnachtslied, das die Gemeinde feierlich mitsang und auch Dieter lautlos in Gedanken der Melodie folgte. Aus seiner Zeit als Messdiener war ihm das Ritual der Hl. Messe hinlänglich bekannt und Minuten später gefangen genommen von der feierlichen Stimmung, betete und sang er voller Inbrunst. Warum fühlte er sich auf einmal so geborgen wie seit schon langem nicht mehr?
Als die Orgel "Stille Nacht, heilige Nacht" anstimmte, schossen ihm Tränen in die Augen, und Dieter konnte ein heftiges Schluchzen nicht mehr unterdrücken. Sein weinendes Gesicht in die Hände geschmiegt, lauschte er der ergreifenden und mutmachenden Predigt des Priesters, der von der Geburt Jesu als Hoffnung für die Welt, für die Ärmsten, sprach. Die Worte drangen tief in Dieters Seele, der sich plötzlich erhob, aus dem Beichtstuhl trat, sich zu Menschen in eine Bank zwängte, die ihn erst betreten musterten, dann platzmachend zusammenrückten und ihn freundlich anlächelten. Das erste Mal seit langem schämte sich Dieter nicht. Mit frohem Herzen und in tiefer Andacht nahm er an der Messe bis zum Schlussakkord teil.
Langsam leerte sich die Kirche. Dieter hockte noch immer in der Bank, und auf einmal plagten ihn wieder Selbstzweifel. Wo war das Fünkchen Hoffnung, das während der Predigt Besitz von ihm ergriffen hatte? Zerronnen wie Schnee in der Sonne? Eine deprimierende Hoffnungslosigkeit wollte sich erneut über ihn stülpen, als jemand von hinten auf seine Schulter tippte und eine ihm bekannte Stimme sagte: "Komm mit. An Weihnachten sollte niemand allein sein."
Worauf Dieter erleichtert seinen schmuddeligen Rucksack packte und Alwin, einem ehemaligen Tippelbruder, der als einer der wenigen dem Abgrund entronnen war, nach Hause folgte.



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