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Unser Buchtipp

Erzähl mir was von Afrika

Erzähl mir was von Afrika
Hrsg. Ronald Henss
Dr. Ronald Henss Verlag
ISBN 978-3-9809336-2-9

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Paul

© Mike Bravo

Er trat als Letzter das schmale, schwankende Brett von dem Auslegerboot hinunter auf den Strand. Die See war ruhig und schimmerte türkis in der Nachmittagssonne. Die Touristen vor ihm wurden schnell von den verschiedenen Agenten auf die Hotels und Ressorts verteilt, die sich den Strand entlang zogen. Mit ein paar schroffen Worten hatte er sich bereits am Flughafen der Nachbarinsel der Touristenjäger, die von den Provisionen der Hotels lebten, entledigt und schritt nun schnellen Schrittes den kleinen Weg entlang, bis er Marbini's Inn erreichte, eine kleine Ansammlung von Bambushütten, die sich auf einer Linie vom Strand weg ins innere der Insel erstreckten. In der Nebensaison wirkte der Komplex verlassen und einsam. Er suchte sich eine Hütte direkt am Strand aus. Lange würde er ohnehin nicht bleiben und zu erschöpft, um sich auf Verhandlungen einzulassen, bezahlte er einen viel zu hohen Preis für die bescheidene Unterkunft. Marbini, bei dem er schon oft gewohnt hatte, erkannte ihn erst als er mit dem strahlend, zahnlosem Lächeln und offenen Händen die Scheine entgegennahm, die ihm Paul entgegenstreckte. "Paul", sagte der alte Marbini mit einer Geste des Wiedererkennens, "du warst lange nicht mehr hier, du bist doch Paul, oder?" Sein Gast nickte, die Wiedersehensfreude würde aber auch den Preis nicht drücken. Er war sich seiner Veränderung im Aussehen bewusst, es ließ ihn älter erscheinen als vor zwei Jahren, seinem letzten Besuch auf der Insel. Die letzten Monate hatten ihn einiges seiner früheren Jugend gekostet. Die Narbe zwischen seinen Augen war auffälliger geworden, die Sonne hatte sich tief in sein Gesicht gegraben und auch der Ansatz seines tiefbraunen Haares war weit über die Stirn zurückgegangen. Er hoffte das jugendliche Leuchten seiner Augen mochte geblieben sein, doch hatte Marbini das gegen die Sonne blickend kaum erkennen können.

"Ja, ich brauchte eine Weile, aber jetzt bin ich wieder hier und kaum betrete ich diese goldene Insel, durchfährt mich ein sanftes Rauschen." Marbini sah ihn fragend an. Es war zuviel von ihm verlangt, diese Gefühlsregung zu empfinden oder auch nur verstehen zu können. Paul wusste das, es bereitete ihm aber eine schamhafte Freude diesen plumpen Mann mit einer solchen Äußerung zu verunsichern. Er fragte sich ohnehin, wie es diesem Marbini gelang sein kleines Ressort zu managen, aber wahrscheinlich hatte seine grämliche Frau alle Geschäftsfäden in der Hand. Zwei Fischer schleppten mehrere Bananenstauden an einer Bambusstange hinter die kleinen Hütten. Ihre schweißnassen Körper funkelten in der Sonne.

"Es war furchtbar in den letzten Tagen, jeden Tag Regen, morgens bis abends, aber heute die Sonne, sie scheint schon den ganzen Tag. Und wenn sie erst einmal scheint, scheint sie, du kannst sicher sein, es wird jetzt lange schön bleiben", sagte Marbini mit einer von seiner Wettervorhersage zutiefst überzeugten Stimme. Paul aber wusste, er konnte auf die Worte des Alten nichts geben, der nur daran interessiert war seinen Gast möglichst lange hier zu halten und schlechtes Wetter würde dem entgegenstehen, da der einzige touristische Reichtum dieser Insel ihr langer, weißer Sandstrand war und würde dieser nicht von den hochaufragenden Palmen, sondern von Wolken beschattet, war das schlecht fürs Geschäft. So nickte Paul nur mit dem Kopf und richtete seine Augen mit kritischem Blick in den weiten Horizont des Meeres.

"Mister Paul hatte immer diese Hütte, ich werde sie gleich sauber machen lassen und frische Decken bringen." Marbini rief einen Namen in die kleine Gasse zwischen den Hütten hinein, Paul setzte sich auf die kleine Leiter vor eine der anderen Hütten und rauchte. In weiter Ferne zogen zwei Boote mit blauen Segeln vorbei und hielten Kurs aufs offene Meer. Aus einer der zurückliegenden Hütten kam Marbinis Frau hervor, in der einen Hand hatte sie einen kleinen Strohbesen und einen Laken unter den Arm geklemmt, auf dem anderen trug sie ein kleines, nacktes Kind. Sie war die Mutter von 13 Söhnen und einer Tochter, was man ihr ganz unzweifelhaft ansah. Sie schleppte in wiegendem Schritt einen in Speckfalten um sie liegenden Bauch mit sich, ihre schlaffen Brüste lagen wie zwei leere Wasserschläuche darüber und ihr Gesicht verriet eine Ehe, die zwar viele Kinder, aber wenig Worte hervorgebracht hatte. Sie setzte das Kind in den Sand, quälte ihren mächtigen Körper die Stiegen hinauf und begann den Sand durch die Ritzen des Bambusbodens der Veranda zu fegen. Dann machte sie sich im Raum zu schaffen, kurz hörte man das Plätschern von Wasser im Bad, kurz darauf zog sie wieder davon. Kein Wort hatte sie von sich gegeben, weder mit ihm, noch mit ihrem Mann gesprochen.

Paul richtete sich im Zimmer ein, hängte ein Moskitonetz über das breite Bett, legte das Laken auf die Schaumstoffmatratze und bezog die Kissen, wobei er darüber nachdachte, für wen das zweite Kissen bestimmt sein könnte. Sein Gepäck ließ er verschlossen auf dem zweiten Bett liegen, setzte sich auf die Veranda und starrte aufs Meer. Viele Tage hatte er hier schon gesessen, lesend, oder einfach nur das Treiben am Strand und auf dem Meer beobachtend. Dabei hatte er meist mehrere Gläser Rum getrunken, philippinischen Rum, Tanduay, der fast die Farbe von Kupfer hatte und ein angenehmes Kratzen im Rachen hinterließ. Er hatte auch jetzt eine Flasche dabei, wollte mit dem Trinken aber bis zum Sonnenuntergang warten. Auf dem Strand bereiteten sich drei junge Männer auf den Fischfang vor, sie prüften die Spannung der Gummiriemen ihrer Harpunen, schossen probeweise in den Sand und verstauten anschließend ihre Gerätschaften in einem der schmalen Boote, die auf dem Strand lagen. Es war schwer das Alter dieser Fischer zu schätzen, er wusste nicht ob sie Anfang 20 oder gerade erst aus der Pubertät heraus waren. Sie waren nicht groß, aber die Körper gut gebaut und deutlich zeichneten sich die Muskeln unter der braunen Haut ab. Ihre Gesichter wirkten ernst, aber jünger als ihre Körper, sie sprachen bei ihren Vorbereitungen kaum miteinander und wirkten angespannt, als müssten sie sich mental auf die kommenden Tauchgänge vorbereiten. Zu dritt trugen sie das Boot in die Brandung und paddelten in verblüffender Geschwindigkeit davon.

Für einen Moment war der Strand ruhig, die flachen Wellen schlugen leise auf dem Sand auf, und ein sanftes Rascheln war von den im leichten Wind gegeneinander wiegenden Palmblättern zu hören. Die drei Harpunenfischer waren nicht sehr weit hinausgefahren und Paul sah sie gelegentlich auftauchen, um ihre frische Beute ins Boot zu werfen. Sie versuchten ihr Glück an den dem Strand vorgelagerten Korallenbänken. Die harpunierten Fische würden nicht schreien, dachte er, würde er Fische hören, wie Vögel, es wäre laut auf seiner Veranda, vielleicht würde man das eigene Wort nicht verstehen, das Rauschen des Meeres würde in diesem Gesang untergehen. Nun aber kamen laute Stimmen von rechts, eine Gruppe Touristen trat in sein Blickfeld. Drei Pärchen, von denen eines weiter zurück war, schlenderten am Strand entlang. Ihre Haut war fast durchscheinend weiß, auf den Köpfen trugen sie rundliche Sonnenhüte. Ihre hohen Stimmen drangen weit über den Strand, sie scherzten und riefen dem zurückgebliebenen Paar etwas zu. Eine der Frauen schaute zu ihm hoch, ihre dürren Beine steckten verloren in einer viel zu weiten Shorts. Er sah sie an, sie wich seinem Blick schnell aus, stieß ihren Partner an und zeigte mit dem Kopf in Richtung der kleinen Veranda. Ihr Freund schaute auf, sah kurz zu Paul hinüber, sagte etwas, woraufhin die ganze Gruppe zu ihm hinaufschaute, lachte und dann schnell weiterging. Paul sah an sich herunter und betastete sein Gesicht, konnte aber nichts Auffälliges entdecken. Er blickte ihnen hinterher, Koreaner dachte er, es sind bestimmt Koreaner, sie kamen in Scharen auf die Inseln.

Über eine Stunde saß Paul vor seiner Hütte und ließ den beruhigenden Klang des Meeres auf sich wirken. Das helle Blau des Himmels wurde zunehmend von Rottönen durchsetzt, und am Horizont senkte sich die glühende Scheibe langsam ins Meer. Ein Sonnenuntergang aus dem Fotoalbum. Er stand auf und ging den Strand entlang, bis er auf der Höhe der dritten Bootstation in eine kleine Gasse ins Landesinnere einbog. Souvenirläden säumten seinen Weg, vollgestopft mit einer unendlichen Auswahl an Muschelketten, T-Shirts, Sarongs, Schnitzereien und Sonnenbrillen. Er hatte hier noch nie etwas gekauft und war immer nur zu dem kleinen Restaurant neben dem Tatooshop gegangen, zu dem er auch jetzt wieder wollte. Dort saßen hinter einem Tisch, auf dem verschiedene Fische ausgebreitet waren, zwei mürrisch dreinschauende Frauen. Es waren die gleichen Frauen, die ihn schon immer bedient hatten, dabei aber auch noch nie ein freundliches Gesicht gemacht hatten. Er setzte sich unter einen surrenden Ventilator und bestellte Bier und ein Fischmenü. Die Frauen erkannten ihn nicht, dabei war er sehr häufig mit Julieta hier gewesen. Die Frauen hatten sich gekannt, aber ihr Verhalten gegenüber Julieta war eher abschätzig.

Auf einem Teller bekam er vor Fett triefende Krabben, Tintenfisch, dessen Enden angekohlt waren und einen kleinen, leicht bläulichen Fisch, dessen Namen er nicht kannte, der aber einen eigentümlich salzig-fischigen Geschmack hatte. Die Tintenfische waren zäh, aber er liebte ihre gummiartige Konsistenz, ganz im Gegenteil zu Julieta, die dieses Tier verachtete, da man auf ihm rumkaue, wie auf einem Kondom, bis die schwarze Tinte, die dem Fisch seinen Namen gab, aus ihm herausspritze. So hatte er immer die Tintenfische gegessen und ihr die Krebstiere gelassen, die zu essen, ihm sowieso zu lästig war.

Die beiden bedienenden Filipinas hatten sich wieder hinter ihren Tisch gesetzt und starrten missmutig auf die Gasse hinaus. In der Hochsaison drängten sich die Menschen hier durch, aber jetzt interessierte sich kaum jemand für die Läden, nur gelegentlich schlenderten einige Touristen an den Auslagen vorbei. Es war jetzt vollkommen dunkel geworden, und um die nackte Glühbirne über Pauls Tisch tummelten sich einige Mücken, die, kamen sie der Decke zu nahe, von einem Gecko verspeist wurden. Von einer Außentreppe, die ins obere Stockwerk führte, starrte ihn ein junger Mann an, dessen mit Tatoos übersäter Körper kaum von der Hasenscharte unter seiner Nase ablenkte. Er lächelte Paul an, der versuchte seinen Blick von der furchtbaren Hasenscharte, aus der jetzt weiße Zähne hervorblitzten, abzuwenden und in eine andere Richtung zu schauen. Dieses entstellte Gesicht aber zog seinen Blick an und erinnerte ihn an die kieferorthopädische Abteilung eines Krankenhauses, in der er vor Jahren Patient gewesen war und in deren Warteraum Bilder hingen, die kleine Kinder vor und nach der Operation einer Hasenscharte zeigten. Er hatte diese Bilder abstoßend gefunden und gerade deswegen waren sie ihm vielleicht in Erinnerung geblieben. Dieser Mann auf der Treppe hatte wahrscheinlich noch nie von einer solchen Operation gehört. Arme Schlucker, dachte Paul, selbst wenn er sein Gesicht mit Tatoos überdecken würde, dieses Merkmal würde immer hervorstechen, es war nicht zu verdecken oder zu verschleiern. Keine Frau würde ihn küssen wollen, und jeder der ihn ansah, war irgendwie peinlich berührt. Ein Hundeleben. Selbst eine Prostituierte dürfte einen höheren Preis verlangen und würde sich dennoch weigern, ihn zu küssen. Julieta hätte ihn auch nicht geküsst und wenn doch, hätte sie kaum Geld von ihm genommen. Sie nahm selten Geld von Filipinos, sie nannte sich selbst eine barmherzige Fischerin, die ihre Fischer liebte, ihre Freunde vom Meer, in deren Haut sich der salzige Geschmack des Meeres festgesetzt habe. Stundenlang konnte sie über diese Männer schwärmen, ihre Leidenschaft und manch einer dieser Insel dürfte von ihr in die Technik des Beischlafs eingeführt worden sein.

Es war bereits vollkommen dunkel als Paul in der kleinen Strandbar ankam. Zwei junge Engländerinnen saßen an der Theke und tauschten lauthals ihre Reiseerlebnisse aus. Dabei versuchten sie immer wieder, den langhaarigen Filipino hinter der Bar in ihr Gespräch einzubeziehen. Doch weder die Erzählungen, noch die unbedeckten Bauchnabel oder kaum versteckten Brüste schienen ihn zu interessieren. Unentwegt schielte er auf einen kleinen Bildschirm in der hintersten Ecke der Bar. Die Übertragung der amerikanischen Baseballliga reizte ihn augenscheinlich mehr als seine beiden fordernden Gäste.

Paul dagegen wurde von den beiden nicht einmal mit einem längeren Blick gewürdigt, er setzte sich an einen Tisch direkt am Strand und beobachtete die Bemühungen der beiden, dem Filipino näher zu kommen, hatte dabei aber immer den kleinen Weg zwischen Bar und Strand im Auge, in der Hoffnung ein bekanntes Gesicht zu sehen, jemanden zu treffen, den er nach Julieta fragen könnte, ohne gleich als potenzieller Freier angesehen zu werden. Ihm missfiel die Vorstellung, in der gleichen Weise betrachtet zu werden, wie die meisten alleinstehenden Männer, die auf die Insel kamen, um für wenige Pesos die sexuelle Erfüllung in einer tropischen Frucht zu suchen. Diese Männer, denen die Geilheit im Gesicht geschrieben stand, die so unattraktiv waren, dass sie auf dem heimischen Markt leer ausgingen und sich in ihrer Verzweiflung und Suche nach Erfüllung hierher verirrten. Sie alle trugen ihre Bierbäuche vor sich her, ihr geiler Blick ließ kein intelligentes Wesen hinter der Fassade vermuten, ebenso wenig wie einen Spezialisten unter der Bettdecke. Sie führten ihre Filipinas hier aus, wie kitschige, sprachlose Souvenirs. Er machte immer einen Bogen um diese Männer und vergänglichen Pärchen, doch war das schwierig, verfolgten sie einen doch, kamen aufdringlich daher, auf der Pirsch, nicht nur nach braunen Brüsten, sondern genauso nach ihresgleichen, denen sie sich offenbaren könnten, in denen sie Zuhörer für ihre schmutzigen Witze und perversen Geschichten suchten, als müssten sie sich rechtfertigen, indem sie andere fanden, die den gleichen Lüsten nachgingen. Ihre sabbernden Geschichten erfüllten die dunklen Bars und lichten Strände, wabberten über die Insel, zeugten von einem Jenseits des Paradieses, einem Abgrund der nicht in das Blau des Meeres, sondern nur in den Sumpf des triebhaften Geschlechtslebens führte. Die Grenzen zwischen Lust und Ekel waren fließend. Die verdienten Peseten mussten wie ein Schutzfilm um die jungen Frauen liegen, wie ein Sack voll Gold, der von Hoffnung zeugt. Hinaus aus dem kargen Fischerinnenleben, hinaus aus den Kellner- und Putzdiensten, der Dank einer käuflichen Liebe, der Aufstieg zur verehrten Prinzessin, zum verehrten Körper eines deutschen Kleinunternehmers oder Sozialversicherungsangestellten, weg vom isolierten Dorf auf grüner Insel hinaus in die Welt, hinaus nach Wolfenbüttel oder Bamberg. Doch war es auch nur den wenigsten gewehrt, ihre weißen Herren in die Länder der Seligkeit zu begleiten, machte sich doch so eine reizend exotisch-erotische Frucht schlecht im alltäglichen Gesellschaftsleben des kleinen Manns, die Schamgrenze des Wolfenbüttlers war die Grenze der Ferne, die Heimat wollte brav beackert werden, und die Nachbarn bekamen auch nur die Bilder mit dem Taucheranzug zu sehen.

Eine dunkle Gestalt tauchte vor Paul auf, doch er konnte das Gesicht im Gegenlicht der Lampe nicht erkennen. "Paul?", sprach es aus dem Dunkel zu ihm, "Erinnerst du dich nicht. Ich bin's, Henry." Natürlich erkannte er diese prägnant hohe Stimme wieder und erkannte jetzt auch das Gesicht, als sich der Mann zu ihm hinabsetzte und das Licht ihn nicht mehr blendete. "Doch klar, Henry, du bist noch immer hier? Ich habe dich nur dein Gesicht von hier unten nicht sehen können." "Natürlich bin ich noch hier. Gibt es einen schöneren Ort auf der Erde? Wo sollte ich auch hingehen? Ich bin hier groß geworden und werde in nicht allzu ferner Zukunft auch hier sterben. Du warst ewig nicht mehr auf der Insel, was war los?" "Ich könnte jetzt sagen, eine lange Geschichte, weil es das ist, was man immer sagt, aber es stimmt nicht, ich hatte einfach keine Lust mehr, nicht auf weiße Strände, nicht auf Palmen und brühwarmes Meer, einfach keine Lust." Er sprach nicht nur so daher, es war wirklich so gewesen, nichts hatte ihn mehr hierher gezogen und auch jetzt war ihm nicht ganz klar, warum er eigentlich in diesem unbequemen, aus ein paar Bambusstangen zusammengeknoteten Stuhl am weißen Strand von Boracay saß. Er war nur aus einem einzigen Grund hier, und der hatte mit der hatte mit der Bilderbuchlandschaft dieser Insel nichts zu tun.

"Keine Lust? Wie kann man keine Lust auf dieses Paradies haben? Worauf denn sonst? Egal. Wir trinken erst einmal auf deine Wiederkehr." Henry sprang auf, war in wenigen Schritten bei der Bar und ließ es sich nicht nehmen, die beiden Engländerinnen anzusprechen, die kurz darauf mit ihm und einem Tablett mit Gläsern und einer Flasche Rum zu Paul an den Tisch kamen. Sie mussten es aufgegeben haben, den Filipino hinter der Bar zu imponieren, die Baseballliga hatte ihn fest im Griff.

"Meine Damen, das ist Paul. Aus Deutschland und ein netter Mensch. Die beiden hier sind Betty und, oh, entschuldige, wie war dein Name?" "Luca!" "Ja, richtig, Luca aus England. Ich habe Rum für uns, trinken wir auf diese fruchtbare Insel." Er nahm die Flasche und goss die Gläser randvoll, die Eiswürfel knackten leise. Henry war weit über 40 Jahre, hatte aber den Charme eines jungen Fischers Konservieren können. Seine Beschäftigung war Paul nie ganz klar geworden, wann immer er ihn getroffen hatte, streifte er über die Insel, oder saß in einem Pulk junger Frauen in den Bars herum. Die beiden Engländerinnen begrüßten Paul höflich zurückhaltend, aber mit einem lachenden Gesicht. Sie konnten höchstens Mitte 20 sein, wenn überhaupt, und Paul war weniger begeistert von ihrer Gesellschaft, würde das doch nur seine wirklich wesentlichen Fragen, die er Henry gerne gestellt hätte, verzögern.

"Wenn ihr etwas über die Philippinen wissen wollt", sagte Henry nun prahlerisch, "fragt Paul. Er kennt fast jede Ecke in unserem Land, vielleicht besser als jeder Filipino." Die beiden Urlauberinnen hatten noch drei weitere Wochen vor sich und waren auf der Suche nach einer idealen Reiseroute. Doch gab Paul nur kurze, mürrische Antworten. Er kannte viel auf den Philippinen, war aber selten an touristische Orte gereist und es gab wenige Plätze, die er wirklich empfehlen konnte, hatte er doch nie nach Attraktionen gesucht, sondern immer nur nach Motiven, die er nicht wegen ihrem Abglanz von Schönheit, sondern nur wegen ihrer Einzigartigkeit aufgesucht hatte, und die kaum Zielen entsprechen würden, nach denen diese beiden jungen Frauen suchen würden. Er war fast immer nur in Orten gewesen, die in keinem Reiseführer standen, was auch meistens nicht berechtigt gewesen wäre. Die Bilder von diesen Reisen waren seine Erinnerungen an eine Zeit, die er mit niemanden geteilt hatte, und die er ohne diese Bilder vielleicht vergessen würde, oder lieber gar verdrängt hätte. Doch er hütete sich davor, allzu viel zu verdrängen, was doch Teil seines Lebens gewesen war, in dem er mehr schlechte und einsame Zeiten verlebt hatte, und in dem seine Aufenthalte auf Boracay, wie leuchtende Schiffe auf einem dunklen Meer hervorstachen.

Wann immer er sich selbst und seine Reisen nicht mehr ertragen konnte, war er hierher zurückgekehrt, nicht weil es schön war, nur weil er hier einen Menschen getroffen hatte, der diese Insel zu etwas ganz Besonderem machte, und nur deshalb verstand er, warum Boracay den Ruf genoss, etwas Besonderes zu sein und nicht wegen diesem Strand, der sich für ihn in öder Gleichförmigkeit, fast von einem zum anderen Ende der Insel zog.

Henry schenkte nach. In den Blicken der beiden Frauen konnte man die Enttäuschung über Pauls karge Antworten ablesen, und Henry suchte einen zögerlichen Übergang zu einem anderen Thema. "Warum eigentlich weiterreisen?", fragte er, "Dieser Ort hat Alles, was einen Menschen glücklich machen kann. Der beste Strand der Philippinen, prächtige Bars, Fische im Wasser und die schönsten Fischer auf dem Land. Was wollt ihr noch? Sind sie nicht prächtig, diese braungebrannten Jungs, wie sie ihre Harpunen nehmen und auf die See hinauspaddeln? Prachtkerle in der Sonne! Früher war ich ja dabei, aber das ist was für die Jungen, die Energiegeladenen." Lucas Augen schienen sich bei dem Gedanken an die Jungs zu weiten, sie strahlte Henry an, der nach Pauls Wissen, nie Fischer gewesen war. "Du hast ja recht. Ihr Fischer seit die besten Jungs, die mir in ganz Asien über den Weg gelaufen sind, die Jungs sind noch schöner als ihre Insel. Ich könnte den ganzen Tag am Strand sitzen und ihnen zuschauen." "Ohne die wäre die Insel nur halb so schön", gab jetzt Betty zum Besten, "und die ganzen weißen Männer kannst du ja vergessen, notgeile, alte, dreckige Männer mit ihren Spielzeugen, das ist unerträglich." Sie sah zu Paul hinüber. "Natürlich sind nicht alle so. Aber die Fischer - nur stolz sind sie, manchmal habe ich das Gefühl, die wissen gar nicht was eine Frau ist, so wenig Beachtung scheinen sie einem zu schenken."

Paul fühlte sich weder angesprochen, noch war er erpicht darauf, die Schwärmereien der Beiden anzuhören, konnte sich aber kaum vorstellen, dass sie keine Beachtung fänden, sahen sie doch beide sehr reizend aus. Besonders Luca hatte es ihm angetan, die ihre Attraktivität großzügig feilbot, und die er gerne in hellerem Licht bewundert hätte. Nur richtete sich seine Zuneigung rein auf die körperliche Präsenz der jungen Frau, die ihm ohnehin keine Beachtung schenken würde, es sei denn, er würde den Künstler zu Tage treten lassen und versuchte sie mit seiner außergewöhnlichen Betätigung in Bann zu ziehen, schien doch der Beruf des Malers seine Attraktivität ganz ausnehmend zu steigern.

Bis jetzt war er nur mürrisch gewesen, versuchte auch den Gedanken zu verwerfen, sich ihr anzunähern, malte sich aber gleichzeitig aus, wie sie ihm hüllenlos auf seiner Veranda Modell sitzen würde. Sie redeten jetzt über die Vorzüge des Lebens in den Tropen, die Frauen erzählten von ihrer nasskalten Heimat und dem groben Menschenschlag, der dort zu Hause sei. Paul enthielt sich der Unterhaltung fast gänzlich, gelegentlich reagierte er auf einen Kommentar von Luca, lächelte sie an und versuchte Scherze einzubringen. Treibender Redner war Henry, er schwärmte von der Insel, verfluchte philippinische Politiker und erzählte Geschichten von der Insel. Paul erhoffte, er würde aus einer Erinnerung heraus, Julieta erwähnen, aber ihr Name viel nicht, obwohl er nicht selten Begebenheiten erzählte, die ihm andere Prostituierte berichtet hatten.

Vom Meer wehte jetzt ein sanfter Wind, der den leicht salzigen Duft des tropischen Meeres an den Strand wehte und sich unter den Geschmack des Rums mischte. Auf dem Weg vor der Bar gingen jetzt nur noch sehr selten Menschen entlang. Die Schmuckverkäufer hatten schon längst ihre Auslagen zusammengepackt. Paul war müde geworden, er hatte es aufgegeben, Luca zu bezirpen und war in seinem Stuhl zurückgesunken, in dem er jetzt wie ein toter Fisch hing. Jeden Moment wollte er anmerken, dass er jetzt gehe, aber etwas hielt ihn zurück, Luca, Henry, die Fragen, die er Henry stellen wollte, oder der sanfte Wind, der ihn in den Stuhl drückte. Henry hatte weiteren Rum herangeschafft und die Gespräche zwischen den Dreien wurden lockerer und schlüpfriger. Betty berichtete von den Erfahrungen mit einem Callboy, den ihre Freundinnen ihr einst für zwei Stunden zum Geschenk gemacht hatten, während Luca sich über ihren ehemaligen Liebhaber lustig machte.

Paul hörte nur noch mit halben Ohr zu, schielte zu häufig zu Luca hinüber und wollte eigentlich nur noch schlafen, wenn auch nicht unbedingt alleine. Aber er wusste, er würde ohnehin alleine in seine Hütte zurückkehren, ohne Luca, ohne Julieta und ohne die Antwort auf seine brennende Frage. Denn Henry machte nicht den Eindruck, als wolle er sich so schnell von den beiden lösen. Paul beneidete ihn ein wenig. Man sah ihm sein Alter nicht an. Kräftige schwarze Haare fielen in ein Gesicht, das genauso gut erst Anfang 30 hätte sein können, seine hohe Stimme ließ ihn ohnehin jünger wirken, und sein Körper zeigte keinerlei Anzeichen von Alter oder gar Gebrechlichkeit. Sein Reden war ein langsam aber bestimmt daherschwingendes Unterhalten, Geschichten erzählte er mit viel Witz, und ließ den anderen noch Raum zu reagieren, fragte sie nach ihrer Ansicht oder forderte sie auf, sich an ähnliche Begebenheiten zu erinnern. Er war immer mit Touristen zusammen gewesen und hatte sich doch noch immer eine Art an sich, die unverdorben schien, und er würde wissen, das ihn das attraktiv machte, trotz seines Alters. Paul war sich sicher, Henry würde nicht ohne eine der beiden Frauen in seine Hütte oben auf dem Hang, ganz im Norden gehen. Er konnte sehen, wie er sich zwei Optionen offen hielt, wie er sich ins Zeug legte, wie er vorgab jünger zu sein, als er war. Henry war auch ein Hochstapler, aber ein sympathischer, es war nicht nur Neid, es war auch Bewunderung, die Paul für ihn verspürte, für diesen Mann der nie geheiratet hatte, weil ihn das seiner Jugend berauben würde, wie er Paul einmal gestand.

Für Henry war Boracay eine Spielwiese. Für zwei, drei Wochen suchte er sich eine Mitspielerin und er war froh, wenn sie wieder fuhren. Stapel von unbeantworteten Briefen lagen in seiner Hütte, viele Szenen hatte er inszenieren müssen, damit sie nicht blieben, nicht länger als er wollte. Einst hatte es einen Todesfall einer jungen Touristin gegeben, die nicht weit von seiner Hütte unter einem Felsen gefunden wurde, und nicht wenige auf der Insel gingen so weit, hinter vorgehaltener Hand zu behaupten, er habe sie dort heruntergestürzt, weil sie nicht von ihm lassen wollte. Es blieb bei dem Gerücht, niemand zeigte ihn an, niemand würde hier jemanden von der eigenen Insel anzeigen, und den Eltern wurde der Selbstmord ihrer Tochter bescheinigt. Sie waren nie auf die Insel gekommen und außer der örtlichen Polizei, hatte hier kein Kriminalist ermittelt. Henry selbst hatte das Gerücht nie kommentiert. Eigentlich war Henry ein Schwein, er war nicht viel anders, als die, die hierher kamen und die Befriedigung bei den Filipinas suchten; er suchte seinen Sex bei den Urlauberinnen.

Paul verabschiedete sich. Allein schlenderte er am Strand entlang, ließ das warme Wasser seine nackten Füße umspülen, lauschte dem Knirschen der Muscheln unter seinen Füßen und hielt den Blick auf den Mond gerichtet. Es konnten nur noch wenige Nächte bis zum Vollmond sein, der Strand würde dann nachts in einem milchigen Licht stahlen und die Wellenkämme auf dem Meer blitzen. Heute nacht aber war es dunkel, und von den Hunden, die über den Strand streiften, sah er nur dunkle Silhouetten. Vor seiner Hütte hing eine einsame Glühbirne von einer auf Kopfhöhe abgeknickten Palme. Paul ging in die Hütte und legte sich unter das Moskitonetz. Seine Gedanken waren bei Julieta, die wie ein Geist unter dem Netz mit ihm gefangen zu sein schien.

Beim Frühstück sah Paul die beiden Engländerinnen, vom Cafe aus, am Strand entlang schlendern, sie sahen ihn nicht, oder wollten ihn nicht sehen. Er schaute ihnen mit Sehnsucht nach, würden sie doch wenigstens für ihn Modell stehen. Aber auch Henry schien kein Erfolg beschienen gewesen zu sein, sonst würde zumindest eine der beiden noch bei ihm in der Hütte sein. Das befriedigte ihn ein wenig. Die beiden würden den ganzen Tag am Strand sitzen und Fischer beobachten. Er könnte sie dabei malen, mit ihren weit aufgerissenen Augen, ihren spärlich bekleideten Körpern, in einer auffordernden Haltung. Dazu die Fischer, die unbeeindruckt ihrem Geschäft nachgingen und vielleicht nur gelegentlich einen stierenden, aber nicht weniger irritierten, Blick auf die freiliegenden Brüste richten würden.

Er bestellte Kaffee und ein Sandwich bei der Kellnerin, die ihn zwar wiedererkannte, es aber nicht offensichtlich zu erkennen gab und auch nichts sagte. Er war fast immer hier Frühstücken gegangen. Der Platz bot einen wundervollen Blick auf das Meer, und das Cafe umgab eine herbe Gemütlichkeit. Er winkte einem Mann zu, der auf seinen Schultern einen Stapel Zeitungen den schmalen Weg entlang trug, kaufte ihm eine ab, bereute es aber sogleich wieder, und die Zeitung blieb ungelesen auf seinem Tisch liegen. Obwohl er keine Eile hatte, schlang er das Frühstück hinunter, ging an den Tresen, zahlte mit einem Lächeln, war aber nicht wirklich in einer Stimmung, die Kellnerin anzusprechen. Sie gab ihm stumm mit einem fragenden Gesicht sein Wechselgeld zurück. Er würde Henry suchen und sich endlich bei ihm über Julieta erkundigen, wenn sie ihm nicht ohnehin über den Weg laufen würde, aber die Hoffnung hatte er nicht, da sie schon früher mehrere Tage einfach nicht aufgetaucht war, Freundinnen auf Nachbarinseln besuchte oder Touristen auf Touren begleitete.

Er ging über den Strand, vorbei an Bootsjungen, die ihn zu einer Segelfahrt überreden wollten, Koreanern, die sich im Sand eingruben, spielenden Kindern am Wasser und einem deutschen Ehepaar, das sich mit seinen Kindern einen der wenigen schattigen Plätzchen am Strand gesucht hatte. Nur wenige Menschen waren am Strand, die Insel war leer, obwohl vom Himmel eine heiße Sonne den Strand und das Meer in leuchtende, warme Farben tauchte. Er brauchte fast eine Stunde, um bis zur Hütte von Henry am anderen Ende des Strandes zu kommen. Es war heiß geworden, und er genoss es, in den Schatten des hohen Felsens zu treten und so der Sonne zumindest für einen Moment auszuweichen. Er erklomm die in den Stein gehauenen Stufen und hielt sich an einem Seil fest. Auf einem kleinen Absatz stand die erste Hütte, aus der leise Musik klang, sie war bei seinem letzten Besuch hier unbewohnt gewesen, jetzt würde dort wahrscheinlich jemand wohnen, der hier hängen geblieben war und in den Tag hinein lebte. Der zweite Absatz war etwas größer und erstreckte sich über einen Felsvorsprung, der über dem Ozean hing. Von unten ein bedrohlicher Anblick. Hier endete der steile Treppenaufgang an einem winzigen Vorgarten, in dem ein paar Töpfe mit vertrockneten Tomaten standen. Paul ging auf die Tür zu und klopfte zögerlich. Die grüne Farbe blätterte von der Tür und das Holzhaus war in einem erbärmlichen Zustand. Vor zwei Jahren, erinnerte er sich, dieses Domizil traumhaft gefunden zu haben, jetzt war es verkommen, eine feuchte Bretterbude an einen Fels genagelt, nicht wirklich einladend, trotz der berauschenden Aussicht. Niemand antwortete, aber schon beim Klopfen war die Tür leicht nach Innen aufgegangen.

Er gab ihr einen Stoß und trat in den Türrahmen. Ein kleiner Gang führte direkt auf die Terrasse auf dem Felsvorsprung, links und rechts davon ging jeweils eine Tür ab. Die Tür zur Küche war offen. Er sagte ein leises Hallo in den Raum hinein, aber nichts rührte sich. Er schaute in die Küche und ging dann auf den Balkon hinaus. Ein Sonnensegel schützte vor den gleißenden Strahlen. Auch hier kein Anzeichen von Henry. Er war im Schlafzimmer, oder nicht zu Hause, aber dann hätte er sicherlich die Tür verriegelt. Paul ging zurück ins Haus und klopfte vorsichtig an, drückte, ohne eine Reaktion abzuwarten, die Klinke herunter und öffnete die Tür. Er erschrak. Auf dem Bett lagen Henry und eine Frau, die sich in dem Moment, da er die Tür öffnete in seine Richtung gedreht hatte und einen leicht verzerrten Schrei von sich gab, der eher wie ein Ächzen klang, wie von einer tief verrauchte Stimme. Die beiden lagen vollkommen nackt da, und keine Decke war in Reichweite, mit der sie sich hätte zudecken können. Henry schlief einfach weiter. Paul ließ seine Augen etwas zu lange auf dem Bett verweilen, bevor er wieder aus dem Zimmer heraustrat. Sie war nicht so jung, wie die beiden von gestern Abend, aber auch weit entfernt von einer alten Frau. Ihre weiße Haut und die blonden Haare hatten fremdartig neben dem nackten, tiefbraunen Filipino ausgesehen, wie ein andere Rasse, zwei unterschiedliche Tiere hatte Paul kurz gedacht. Ein Schaf und eine Ziege.

Außer dem Krächzen hatte die Frau nichts mehr gesagt. Paul hörte jetzt, wie sie versuchte Henry zu wecken, der sich aber nicht im geringsten zu rühren schien. Unschlüssig trat Paul auf die Terrasse, rief dann in den Flur hinein, dass er nur ein Freund sei und kein Grund zur Sorge bestehe, es ihm leid tue und er gedacht hatte, Henry sei alleine. Er durchschritt gerade den Flur, um zur Haustür zu gelangen, als ihm die Schlafzimmertür fast an den Kopf geknallt wurde. "Macht nichts, ich habe mich nur so erschrocken." Sie schloss die Tür und stand nun in Slip und BH vor ihm. "Ist es schon so spät? Wart ihr verabredet?" "Nein, ich schaue nur so vorbei." Paul schaute durch die offene Haustür gegen die dunkle Felswand.

"Komm ruhig rein. Kennen wir uns?" Sie schaute ihn intensiv von oben bis unten an. Er war ja bereits drinnen und ihre Hand zeigte auch eher hinaus auf die Terrasse. "Nein, oder? Komisch, ich dachte, ich würde seine Freunde kennen." "Ich bin gerade erst auf der Insel angekommen, wir kennen uns von früher und haben uns gestern getroffen, ich wollte Henry nur noch etwas fragen. Aber ich komme später wieder." Sie lachte jetzt etwas dreckig. "Gestern Abend? Mit den beiden Flittchen, was? Er kann die Finger, oder auf jeden Fall die Augen nicht davon lassen. Sturzbetrunken habe ich ihn eng umschlungen mit dem Ding auf dem Strand gefunden. Beide waren sie sturzbetrunken. Herschleifen musste ich ihn. Das Flittchen liegt wahrscheinlich immer noch da." "Hatte sie braune, lange braune Haare?" "Braun? Der Mistkerl steht auf Blonde! Braune und Schwarze kann er auch hier haben."

Es war also Luca. Paul spürte ein Zucken in seinem Magen. Sein feiner Freund hatte ihm sein Modell ausgespannt. Oder war er es, der es nicht geschafft hatte sie zu überreden, sie vielleicht gar nicht wirklich überreden wollte? Wie lange hatte er keinen Akt mehr gemalt? "Ich komme dann später wieder." Er schob sich an der Frau in Unterwäsche vorbei Richtung Eingang. "Nein, bleib doch. Der wacht schon irgendwann auf, und solange trinken wir zusammen einen Kaffee. Ich möchte doch auch Henrys Freunde kennen lernen, oder soll ich besser sagen Komplizen." Sie lachte und schob ihn auf den Balkon. "Setz dich ich mache Kaffee." Überrumpelt setzte er sich auf einen der Regiestühle, die um einen niedrigen Bambustisch herum standen. "Herrlich das Wetter heute wieder, aber das Wetter ist ja immer herrlich hier", bemerkte sie noch und verschwand in der Küche.

Paul sah ihr nach. Die Frau führte sich auf, als wäre sie hier zu Hause und Henry ihr Mann. Das konnte nicht sein, Henry ließ sich unmöglich auf eine richtige Beziehung ein. Auch nicht mit einer Frau, die seine Avancen den jungen Touristinnen gegenüber, vielleicht ganz gelassen nahm. Er hatte wenig Lust mit der Frau ein längeres Gespräch zu führen, und befürchtete, Henry könnte ihm den Einbruch in sein Privatleben übel nehmen. Die Frau kam mit zwei leeren Kaffeetassen und einem Pott Zucker hinaus und setzte sich auf das Geländer am Abhang. Offensichtlich hatte sie nicht vor, sich noch weiter anzuziehen. "Das Wasser muss erst kochen, dauert noch einen Moment. Ich bin übrigens Lydia." Ihr Englisch sprach sie mit einem eindeutig osteuropäischen Akzent, und ihre Haut war auffällig blass, wenn sie schon länger hier war, hielt sie sich nie in der Sonne auf. Ihre hellgrüne Unterwäsche ließ die Haut noch blasser erscheinen. Die Frau passt nicht hierher, dachte Paul, wahrscheinlich ist sie größer als Henry und ihre schönen, aber üppigen Formen, würden ihn unter sich begraben. Wie zwei schwere Farbkleckse hingen die Brüste in den hellgrünen Haltern, die nur einen sehr kleinen Part bedeckten und den Eindruck machten, als würden sie unter dem zu tragenden Gewicht leiden.

"Paul." Er hob zum Gruß die Hand. "Paul - warte, ja, du bist der Maler. Richtig. Henry hat von dir erzählt, kennst du nicht diese Freundin von ihm, diese Juli, Jula, Juta - was ist noch gleich ihr Name? Weißt du, die, die etwas abgedreht ist." "Julieta?" Paul schrie ihren Namen leise heraus, abgedreht, etwas abgedreht. Was meinte sie damit. Es konnte heißen, dass sie Julieta einfach seltsam fand, was ihr nicht unbedingt zu verdenken gewesen wäre, oder aber mit Julieta war etwas passiert. "Ja richtig, so hieß sie, glaube ich, ich glaube, sie hat dich gesucht oder so. Aber ist auch schon länger her. Du bist also der Maler. Ich habe mir dich anders vorgestellt, so mit Bart, dick und gemächlicher." "Was ist mit Julieta, was ist passiert? Warum hat sie mich gesucht?" "Keine Ahnung. Warte, das Wasser kocht." Sie rannte in die Wohnung hinein, die Bohlen knarrten. Paul stand auf, wollte ihr hinterher, sie fragen, besann sich aber dann doch zu warten, bis sie mit dem Kaffee herauskommen würde.

Julieta hatte nach ihm gefragt, sie war die Letzte, die jemanden um Hilfe bitten würde, wenn es nicht wirklich dringend wäre. Und was sollte das heißen, die etwas abgedreht war? Sicher, sie war ein seltsamer Mensch, manche würden sie vielleicht gar für verrückt halten, aber diese Lydia, die vor ihm in ihren hellgrünen Dessous jetzt mit einer Kanne Kaffee herumfuchtelte, normal war die ja auch nicht.

"Hat sie irgendeine Anmerkung gemacht, was sie wollte, und weißt du wo sie jetzt ist?" "Am Besten du fragst Henry, falls er heute noch aufwacht, ehrlich gesagt, hat mich die kleine Nutte nicht so besonders interessiert, obwohl nett war sie ja, eigentlich richtig nett, aber wie gesagt, ganz normal war das nicht." "Was war nicht ganz normal?" Paul wäre am liebsten aufgesprungen und hätte Lydia gewürgt - kleine, nette Nutte, nicht ganz normal - aus ihr herausgefoltert, was sie mit ihrem Gewäsch meinte. "Kein Grund zur Aufregung", sie sah ihn etwas fassungslos an, "die taucht schon wieder auf. Frag Henry, der wird schon was wissen." "Meinst du, wir können ihn langsam wecken?" Paul wurde unruhiger, da war etwas, das wusste er, und deswegen hatte auch Henry Julieta gestern mit keinem Wort erwähnt, obwohl ihm klar sein musste, dass er wegen ihr hergekommen war. "Lass den schlafen, sonst ist er den ganzen Tag schlecht gelaunt." Er hatte Henry noch nie schlecht gelaunt gesehen. "Sag mir lieber, wie wäre es, wenn du mich malst?" Sie setzte sich in eine Pose und reckte den Kopf nach oben. "Es würde ganz gut in unser Schlafzimmer hier passen, du malst doch Akt oder nicht?"

Sie wäre sicherlich kein schlechtes Modell, vielleicht etwas zu unruhig, und es wäre schwer, dem Bild eine besondere Note mitzugeben, wollte man nicht mehr in sie hineinmalen, als in ihr war. Große blaue Augen stierten aus tiefen Augenhöhlen, breite Backenknochen mit pausigen Wangen, die zu einem schmalen Kinn zusammenliefen. Ein Mund, rot und groß. Alles an dieser Frau war irgendwie groß. So groß, dass es nichts geheimes gab, nichts, dass man in diesem Gesicht hätte suchen können, auch die Nase, zwar ungewöhnlich flach für eine Frau aus dem Westen, aber sie zog sich fast genauso breit wie der Mund über das Gesicht. In dieser Visage schlummerten keine aufregenden Details, keine Feinheiten, die er in seinen Bildern so gerne betonte. Das Gesicht erinnerte ihn an das Katalogfoto eines Beziehungsinstitutes. Frauen aus Osteuropa, herbe Schönheiten, aber eben herb. Doch das Gesicht, und diese Frau waren ihm jetzt egal, er wollte mit Henry reden, nicht über diese Frau, sondern über Julieta.

"Ja, später vielleicht, es ist jetzt ziemlich wichtig, dass ich mit Henry spreche." "Wegen dieser Julieta? Nun hab Geduld. Vielleicht wollte sie auch einfach nur gemalt werden, und ich glaube ohnehin, dass Henry sie auch schon länger nicht mehr gesehen hat, der wird dir auch nicht viel sagen können." "Wann habt ihr sie das letzte mal gesehen?" "Keine Ahnung, hier laufen so viele von ihrer Sorte herum, sie war mal hier, kann gar nicht so lange her gewesen sein, so lange habe ich meinen Henry ja noch gar nicht." Sie lachte und fragte nach einer Zigarette. Paul bot ihr eine an und zündete sich dann auch selbst eine an. Unschlüssig wie er nun weiter vorgehen sollte, rührte er in seinem Kaffee herum. Lydia war über den ungeladenen Besuch offensichtlich ganz erfreut und machte keinerlei Anstalten, Henry zu wecken. Er konnte nur warten, wenn jemand Bescheid wusste, dann war es garantiert Henry. "Ist es Wochen oder Monate her?" "Vielleicht sechs Wochen, zwei Monate." Sie antwortete etwas mürrisch. "Wie lange brauchst du so, um mich zu malen? Wir müssen das irgendwo machen, wo Henry uns nicht beobachtet. Ich ziehe mich nicht gerne in seiner Gegenwart vor anderen Männern aus." Paul schluckte und starrte für einen Moment auf den hellgrünen Büstenhalter und die Brüste, die sich ihm daraus entgegenstreckten. "Wir müssen auch keinen Akt malen, wir -", er stockte, damit hatte er quasi eingewilligt sie überhaupt malen zu wollen, "wir können auch, ich meine, ganz normal, im Abendkleid, oder weiß ich nicht, in einer Admiralsuniform." "Nichts da. Wenn malen, dann Akt. Ich habe Zeit. Du kannst dir ruhig Zeit lassen. Welchen Hintergrund wählen wir?" "Hast du Henry von deinen Plänen erzählt? Vielleicht sollten wir ihn erst einmal fragen?" Sie schlug mit der Faust auf dem Tisch. "Ihn fragen? Warum? Bin ich seine Frau? Wenn ich mich von dir malen lassen will, dann mache ich das. Ist es teuer?" "Was?" "Na, sich von dir malen zu lassen?" Er überlegte einen Moment, war sich aber eigentlich im Klaren darüber, dass er ihr, Henrys Freundin, ohnehin kein Geld abnehmen konnte, andererseits könnte er einen unglaublich hohen Preis nennen, den sie niemals dafür zahlen würde und hätte damit diese unangenehme Geschichte vom Hals. Aber wer weiß, vielleicht war es auch reizvoll, sie zu malen, sie mochte plump sein, aber sie hatte auch etwas anziehendes, womöglich war sie doch kein so schlechtes Modell, konnte der Maler mit ihrer Einfältigkeit doch etwas anfangen, sie, die vielleicht ohne eigenen Willen war und sich von ihm würde herumkommandieren lassen, auf seine ganz eigene Art interpretieren. Das Gesicht war Ödnis, aber der Körper glänzte vor Fruchtbarkeit, vor Energie. Julieta war dagegen ein schwieriges Modell gewesen, sie hatte ihren eigenen Kopf, sie ließ sich nichts sagen, wenn sie posierte, dann so wie es ihr in den Sinn kam, nicht wie er es sich ausgemalt hatte.

"Ich male umsonst für Freunde, aber zuerst muss ich Julieta finden." Lydia seufzte wie die Liebhaberin eines Mannes, der seiner ehemaligen Gefährtin hinterher heulte. "Warte nur ab. Was willst du von ihr eigentlich?" "Ich will wissen wie es ihr geht, was sie macht, sie ist eine gute Freundin von mir, ist das so ungewöhnlich?" "Ihr seit nicht irgendwie Liebhaber? Ich meine, du kennst ihren Brotverdienst?" "Auch solche Leute haben Freunde." Er klang etwas ärgerlich. "Sicher, sicher, ich will auch gar nichts gegen sie sagen. Wir müssen alle essen."

Paul schluckte den letzten Satz einfach. Aber es war ihm rätselhaft, wie diese Frau, sich abfällig gegenüber Julietas Gewerbe äußern konnte, schien sie doch selbst nicht ganz weit davon entfernt zu sein. Hätte Paul sie auf der Straße getroffen, er hätte sie sofort als eine Prostituierte klassifiziert und es war ihm überhaupt schleierhaft, wie diese Osteuropäerin in die Hütte von Henry kam. "Woher kommst du? Dein Akzent klingt irgendwie polnisch, oder so." Sie lächelte. "Man hört das noch? Das ist ja großartig. Ich hatte schon Angst, gänzlich veramerikanisiert worden zu sein." Wenn jemand nicht amerikanisch klang, war das ganz gewiss sie. Auf den ganzen Philippinen hatte er niemanden getroffen, dessen Englisch so wenig amerikanisch klang, wie das ihre. "Sprichst du auch Deutsch? Wie kommst du hierher?" Es war sinnlos, sich mit ihr über Julieta zu unterhalten, sie wusste nichts, oder wollte nichts sagen. So stillte er seine Neugier an ihr, in der Hoffnung, Henry würde jeden Moment in der Tür auftauchen. "Ich bin Tänzerin. Ach und glaube nicht, dass ich jemals diese verfluchte Nazisprache lernen werde." "Entschuldige, aber ich komme daher." "Ich weiß, andere Generation und so, nehme ich dir auch nicht übel. Aber ich bin Jüdin und vielleicht verstehst du eine gewisse Abneigung gegen dein Vaterland." Sie nannte seine Heimat Vaterland, er hatte seinen Vater nie gekannt.

Deutschland war für ihn wie jedes andere Land, interessant waren die Abnehmer seiner Bilder, und die saßen nun einmal zum großen Teil in Deutschland. Aber eine Heimat? Er hatte keine Heimat, vielleicht die Philippinen, vielleicht war das seine Heimat. Er würde hier alt werden und wahrscheinlich würde er hier sterben. "Ist mir egal, so lange du es nicht persönlich nimmst. Wo hast du getanzt?" "Erst in Warschau, dann Bombay, Bangkok, Solo und was weiß ich noch wo und zuletzt eben in Manila. Eine bunte Truppe voller Blondinen, auch Deutsche. Doch Henry hat mich da heraus geholt." Sie hatte nicht gerade die Topfigur für eine Tänzerin, aber vielleicht war sie schnell und beweglich auf ihren starken Beinen. Eine tanzende Truppe, für ihn klang das, wie eine Geschichte aus Kolonialzeiten. "Henry war in Manila?" "Nein, nicht wirklich, ich bin schon vorher abgehauen, ich hatte ein Verhältnis mit unserem Chef, oder besser, ich war eines seiner Verhältnisse. Er trieb es zu weit, und ich bin abgehauen. Boracay klang verlockend und jetzt bin ich eben hier." "Und die Geschichte mit Henry?" Paul nahm den letzten Schluck Kaffee aus der Tasse, und stellte sie scheppernd zurück auf den Tisch. Vielleicht sollte er Krach machen, damit Henry endlich aufwachte. "Das war kurz und schmerzlos, nach zwei Wochen hatte ich kaum noch Geld, ich dachte ich könnte hier als Tänzerin arbeiten, aber solche Clubs findest du hier nicht, und die wollen sowieso keine Blondinen, die wollen philippinische Schnecken, dafür kommen sie ja hierher. Jedenfalls habe ich auf dem Strand geschlafen und Henry hat mich aufgelesen."

Sie saß etwas plump auf dem Stuhl, breitbeinig und zusammengesunken. Paul suchte die Tänzerin in ihr, konnte sie aber nicht finden, es fehlte ihr an Zartheit, Geschmeidigkeit. Sie berichtete jetzt von der ersten Zeit mit Henry, und wie sie ihn für sich gewonnen hatte, wie sie ihn, den schweren Alkoholiker auf ein Normalmaß zurückgebracht habe und auch wie sie seine Geschichten mit den Mädchen einfach akzeptiere, sie sei ja auch nur eine Tänzerin und keine Diva. Nein eine Diva war sie ganz bestimmt nicht. Eine Sexbombe vielleicht, das mochte Paul von hier nicht einschätzen. Mit ihrem Alter rückte sie nicht raus, es musste irgendwo zwischen 25 und 45 liegen. Sie war eine junggebliebene Alte oder eine zu schnell alt gewordene Junge. Während er ihrer Erzählung zuhörte und versuchte, seine Gedanken ein wenig von Julieta abzubringen, tauchte Henry in der Tür auf. Er hatte seinen Besuch nicht registriert und stand verwundert und nackt in der Tür zum Balkon. Er sah verkatert aus, rieb sich die Augen und erst langsam wurde ihm bewusst, dass er unbekleidet vor einem Gast stand. Mit einem lauten Stöhnen drehte er sich auf einem Absatz um und kam kurz später mit einer Shorts zurück.

"Oh Entschuldige, ich sehe ihr habt euch schon bekannt gemacht." Sein Blick wanderte nicht anders als Pauls erster Blick etwas fragend über ihren hellgrüne Unterwäsche. "Ich entschuldige mich, bin hier einfach hereingeplatzt. Ich habe auch nur eine kurze Frage." Es musste jetzt heraus, er wollte augenblicklich wissen, was mit Julieta passiert war und sich jetzt nicht noch mit kleinkrämerischen Gesprächsgedünkel aufhalten. "Frage nur, ich bin nur noch nicht ganz wach." Paul wunderte, dass die beiden kein Wort über die letzte Nacht verloren, sondern sich fast verliebt in die Augen schauten, aber womöglich war der Zwischenfall mit Luca schon gestern Abend diskutiert worden, oder diese Ausrutscher gehörten zu den Alltäglichkeiten ihrer Beziehung. "Wo finde ich Julieta, sie hat mich gesucht, sagt Lydia." Henry warf einen mürrischen Blick zu seiner Frau, die sich gerade den BH zurechtzupfte und schluckte. "Ja, sie hat dich gesucht, aber das ist lange her. Ich weiß nicht wo sie ist. Ich habe sie länger nicht mehr gesehen." Paul las in jedem Wort eine Lüge von seinen Lippen, er schwafelte, ohne eine konkrete Antwort herauszurücken. "Warum hat sie mich gesucht?" "Es ging ihr wohl nicht so gut und sie suchte einen guten Freund und dachte ihn in dir zu haben." "Was heißt das, es ging ihr nicht gut?" "Das Leben hier ist härter geworden. Es kommen längst nicht mehr so viele Touristen. Du weißt schon, die ganzen Anschläge, Entführungen. Vielleicht hatte sie Geldsorgen." "Sie hätte sich niemals bei Geldsorgen an mich gewendet, sie hat mich nie nach Geld gefragt." "Vielleicht weil sie es da nicht nötig hatte."

Es musste etwas passiert sein, der sonst ruhige und gefestigte Henry war unsicher, er wusste nicht wohin mit den Händen und nicht wohin mit den Beinen, er zappelte regelrecht auf seinem Stuhl. "Hör zu, du erfährst es ohnehin und vielleicht besser von mir als anderen." "Ist ihr was passiert?" "Nicht wirklich passiert. Sie hat es", er überlegte an jedem einzelnen Wort, "nicht mehr ertragen. Es ist schwer zu beschreiben, sie ist nicht mehr ganz normal." "Was heißt das, sie ist nicht mehr ganz normal und was hat sie nicht ertragen?" Die Sonne brannte jetzt auf das heiße Segel hinunter, Paul lief der Schweiß von der Stirn. Er hatte schon mehrere Tassen Kaffee getrunken und spürte jetzt, wie die Hitze aus ihm herauswollte. Er wischte sich mit dem Handrücken die Stirn ab und sah entsetzt zu Henry hinüber, der jetzt sein Gesicht mit beiden Handflächen bedeckte. Die Frau sah auf das Meer hinaus, tat als sei sie abwesend. "Sie ist verrückt geworden. Sie spinnt, es tut mir leid das sagen zu müssen. Sie hat sie nicht ertragen, die ganzen Männer, diese verrückten aus Deutschland und weiß ich nicht wo, das geht nicht immer gut, das macht dich wahnsinnig mit der Zeit." "Sie aufgehört anschaffen zu gehen?" "Nein, du verstehst nicht. Sie hat nicht einfach aufgehört. Sie ist abgedreht. Sie schwirrt über die Insel wie eine Wahnsinnige, total zerfleddert, sie redet Touristen und ihre Freunde gleichermaßen an, rennt durch die Gegend und schreit Fick mich. Ihre Haare stehen wild vom Kopf, manchmal trägt sie ein Kopftuch, verfilzt und fettig ragen sie darunter her." Paul wunderte sich warum Henry so ein großen Augenmerk auf die Haare richtete. Ihm graute die Vorstellung, seine Julieta eine Wahnsinnige, die über die Insel läuft, herumpöbelt. "Wo ist sie jetzt? Kann ich sie sehen?" "Kein Mensch weiß wo sie wohnt, noch was sie isst. Abgemagert sieht sie aus, sie taucht auf und verschwindet wieder."

Für einen Moment war Stille auf der Terrasse. Henry und Paul sahen sich an, die Polin war in die Küche gegangen. Paul fragte sich, warum sich niemand um sie gekümmert hatte und was wirklich vorgefallen war. Julieta würde nicht einfach so abdrehen, etwas musste passiert sein. Sie stand fest im Leben und niemand nahm den sexuellen Dienst an Männern so leicht wie sie, wer mit ihr schlief, schlief mit einer harten Schale, wer ihren Körper anfasste, ließ seine Hände über leblose Haut streicheln. Er wusste, er würde von Henry nicht viel mehr erfahren, Henry hatte ein schlechtes Gewissen, auch er hatte sie fallen lassen, sie wahrscheinlich vergessen und verdrängt.

"Ich muss sie finden!" Paul sprang aus seinem Stuhl empor und ging Richtung Tür, in der die üppige Polin in ihrer Unterwäsche stand und ihn hilflos anblickte. "Warte! Du kannst ihr nicht helfen, der Anblick würde dich nur schockieren. Es ist zu spät." "Was soll das heißen, es ist zu spät?" Er hatte sich wieder zur Terrasse gedreht und baute sich vor Henry auf, der verkümmert in seinem Stuhl saß und zu Boden blickte. Er roch nach Alkohol, Paul nahm den Geruch wahr, obwohl er Henrys Atem nicht nah war. Eine kümmerliche Gestalt saß dort auf dem Stuhl. Es war ihm in der Dunkelheit der letzten Nacht gar nicht so aufgefallen, aber auch Henry war älter geworden, seine scheinbar ewige Jugend zeigte erste Anzeichen des Zerfalls. Falten zogen sich um seine Augen, die tiefbraune Haut hatte hier und dort merkwürdig dunkle Flecken, und die Haare waren von grauen Strähnen durchzogen. Die Haut an seinen Unterarmen schien zu vertrocknen, wie in einem ausgedorrten Fluss zogen sich Furchen über eine schuppige Haut. Und dennoch. Henry war es, der die letzte Nacht mit Luca am Strand verbracht hat, während er einsame Träume unter seinem Moskitonetz hatte. Aber was dachte er jetzt an eine Luca. Er schüttelte den Kopf, wie um den Gedanken abzuwerfen.

"Ich habe sie länger nicht mehr gesehen", sagte Paul leise, immer noch zu Boden blickend, "vielleicht haben sie sie geholt." "Wer sollte sie geholt haben?" "Ich weiß nicht, Ärzte, ihre Familie?" "Sie hat keine Familie." "Doch, eine Tante auf Cebu, aber die wollte nie etwas mit ihr zu tun haben." "Verständlich." rutschte es Lydia heraus. Sie biss sich auf die Zunge. Paul schaute sie entgeistert an. Was erlaubte sich diese Hurentänzerin über Julieta zu urteilen. Henry löste den kurzen Moment der Spannung auf. "Versuche es auf der anderen Seite der Insel. Dort ist ein Cafe, in der Nähe des Holy Beach Ressorts. Sie hatte dort eine Freundin."

Paul verabschiedete sich nur mit einem Nicken und lief die Treppe hinunter an den Strand. Kleine Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben. Er ging einen Weg zwischen zwei verfallenen Strandhotels durch und stand auf der schmalen Straße des Hauptortes von White Beach. Es war nun keine Eile mehr geboten, da er wusste was passiert war und nur noch mit viel Glück auf eine verrückte Julieta treffen würde. So entschloss er sich, nicht eines der Tricycles, die ihn umworben, zu nehmen, sondern zu Fuß die wenigen Kilometer auf die andere Seite zu gehen. Früher war gelegentlich mit Julieta diesen Weg gegangen, vorbei an den Fischteichen, dann eine Anhöhe hoch durch einen Wald. Ein paar schäbige Hütten säumten den Weg, der kurz vor dem Strand in einer Müllkippe endete. Mit schnellen Schritten ließ er die sumpfigen mit Plastik und Dosen überschütte Lichtung hinter sich und stand an einem schmalen, von Mangroven gesäumten Sandstrand. Das Cafe musste ein Stück weiter nördlich liegen. Hinter einem Felsvorsprung, der fast bis ins Wasser ragte, lag das Holy Beach Ressort. Es sah verlassen aus, die Hütten waren verrammelt und um das ganze Gelände war ein Stacheldraht gezogen. Auch wenn hier kein Mangrovenwald mehr war, hatte der Strand längst nicht das traumhafte Aussehen von White Beach, er war schmal und verdreckt und statt einzelner Palmen zog sich dichtes Buschland bis fast an das Wasser heran. Die Luft war hier stickig und kein Windhauch war zu spüren. Der Schweiß klebte Paul das Hemd an den Rücken, sein linkes Bein schmerzte von der langen Wanderung. Er schlurfte in der Hitze über den Sand, nahm die Füße kaum noch hoch und der Sand kroch ihm in die Sandalen. Aus der Ferne drang leise Reggae Musik an seine Ohren, das musste das Cafe sein.

Ihm war mulmig zumute, er hatte sich nach ihr gesehnt, aber jetzt bekam er Angst vor dem Anblick einer Julieta, die ihn vielleicht nicht einmal wiedererkennen würde. Hinter einer Ausbuchtung konnte er Stühle und Tische auf dem Strand sehen, dahinter in einem kleinen Palmenhain, der sich vom Buschland abhob, standen drei Hütten. Die Musik wurde lauter, aber er konnte keinen Mensch sehen. In weiter Ferne spielten einige Kinder im Wasser mit einem alten Fischernetz. Dort stand eine ganze Reihe von Hütten, vor denen fast überall Wäsche hing. Aber außer den Kindern war auch hier niemand zu sehen. Auf den Tischen und Stühlen lag eine feine Sandschicht, hier hatte schon länger niemand mehr gesessen. Er ging durch ein kleines Gatter in den Palmenhain und stand vor der Hütte, aus der die Musik drang. Die Boxen standen oberhalb der Bar, die mitten durch den Raum lief, zur einen Seite war die Hütte offen. Er trat an die leere Bar und schaute sich um, aber es war niemand zu sehen. Er rief, aber niemand kam. Paul setzte sich auf einen Barhocker und schaute durch die offene Seite auf den Platz vor der Hütte. Dort lagen kaputte Schlauchboote und ein auseinandergebauter Jetski herum. Die Musik überdröhnte alle anderen Geräusche. Er kam sich verloren vor, selbst wenn er Julieta hier finden würde, was würde er mit ihr machen? Er rief ein weiteres Mal und aus einer der Tür im hinteren Teil der Hütte kam eine junge Filipina mit einem strahlenden Gesicht. "Hallo, kann ich ihnen helfen?"

Er bestellte eine Tasse Kaffee, bereute es jedoch gleich, da es viel zu heiß für Kaffee war. Nachdem sie die Musik leiser gedreht hatte, verschwand die Frau wieder aus der Tür, aus der sie gekommen war. Paul trommelte leise mit den Fingern den Takt auf die Theke. Es musste jetzt fast Mittag sein, und er bekam Hunger. Er suchte nach einer Karte, aber auf den wenigen Taschen standen nur Aschenbecher, die lange nicht mehr geleert worden waren. Er musste nur kurz auf seinen Kaffee warten und fragte nach der Karte, aber es gab nichts zu essen, das Cafe sei eigentlich gar nicht geöffnet, aber wo er schon einmal da wäre. Die Frau war zu jung, um Julietas Freundin zu sein, wahrscheinlich ging sie noch zur Schule. "Wo ist die Besitzerin der Bar?" "Meine Mutter? In der Küche, sie kocht, es ist Mittagszeit." "Warum habt ihr nicht auf?", fragte er sie, nur damit sie dableibe. Er mochte hier nicht alleine sitzen und Kaffee trinken. Er fühlte sich einsam in diesem verlassenen Cafe. "Weil ohnehin niemand kommt, die Saison hat lange noch nicht angefangen und seitdem sogar in White Beach die Touristen ausbleiben, kommt hier ohnehin niemand mehr her. Das Hotel nebenan ist pleite und -." Sie sprach, wie eine erwachsene Frau, sehr bestimmt und sicher, nur beenden wollte sie ihren Satz nicht, obschon ihr der Gedanke im Kopf herumging, dass sie die nächsten sein würden, die hier schließen müssten. Stattdessen wischte sie mit einem dreckig-grauen Lappen die Theke ab.

"Kann ich mit deiner Mutter sprechen?" "Warum, willst du das hier kaufen?" Er lachte. "Nein, sicher nicht. Ich glaube ich kenne eine Freundin deiner Mutter." "Meine Mutter hat nicht viele Freunde." Ihre Stimme klang traurig, als würde ihre Mutter hier verkümmern. "Hast du viele Freunde?" "Ich habe gute Freunde", sagte sie mit Trotz und Paul hörte heraus, dass sie hier ziemlich einsam und verlassen war. Da ging es ihr nicht anders als ihm. "Welche Freundin kennst du?", fragte sie. "Das weiß ich nicht, weil ich nicht genau weiß, ob es wirklich die Freundin deiner Mutter ist, deswegen würde ich sie gerne fragen. Vielleicht nach dem Essen?" "Komm doch mit in die Küche, vielleicht kannst du mit uns essen." Sie ging auf die Tür zu und drehte sich um. "Ja, du musst über die Theke springen, es gibt keinen Durchgang."

Paul ließ seinen volle Tasse stehen und kletterte etwas ungeschickt über die Theke. Sie schaute ihm zu und lachte. "Die haben damals den Durchgang vergessen, seitdem klettern wir immer." Er hätte sich das Klettern sparen können, da die Tür nur nach draußen führte und sie nun in eine Hütte gingen, die hinter dem eigentlichen Cafe war. Es war nicht wirklich eine Küche, es war ein einfacher Raum mit einem Wellblechdach, an den zwei Gaskochstellen sah er von hinten eine große Frau, der schwarzes Haar bis fast auf den Po fiel. Sie trug ein langes enganliegendes Kleid, dessen Grün, ihn an die Unterwäsche von Lydia erinnerte. Der Raum war dunkel, von keinem Fenster erleuchtet, und er sah nur die grüne Silhouette mit den langen Haaren vor zwei feuerspeienden Kochstellen. Sie wirkte sehr vornehm und in ihrem Kleid, völlig fehl am Platze. Graziös rührte sie in einem der Töpfe herum.

"Mama, hier ist ein Mann der will dich sprechen." "Sag ihm ich bin beschäftigt, er soll sich zum Teufel scheren, nein, sag er soll später wiederkommen." "Er steht schon hinter dir." Abrupt drehte sich die Frau um und schaute entsetzt auf Paul. "Was machen Sie hier?", fragte sie zornig. "Ihre Tochter war so freundlich mich zu ihnen zu führen." "Was wollen sie? Ich verkaufe nicht." Paul war verwundert, anscheinend gab es Leute, die an diesem verkommenen Anwesen auf dem weniger Attraktiven Teil der Insel interessiert waren. Die Frau trat aus der dunklen Küche, und er konnte ihr feines Gesicht sehen, dessen freundliche Züge so gar nicht zu der groben Begrüßung passten. Doch war sie keine Schönheit, wie etwa Julieta es war, das grüne Kleid überdeckte nur einen matten Körper und der dicke Wulst Haare, der von ihrem Gesicht hing, verbarg ein freundliches, aber nicht gerade reizendes Gesicht. Sie flößte Paul Unsicherheit ein, er hatte jetzt weniger Mut, nach dem Verbleiben von Julieta zu fragen. Er konnte ihre Blicke nur als feindlich interpretieren, sie baute sich vor ihm auf und verschränkte die Arme.

"Ich will nichts kaufen." "Dies ist ein Cafe, wenn sie nichts verzehren wollen, gehen sie wieder!" Die Reggae Musik war zwar leiser geworden, aber sie lag noch immer als ein Hintergrundgeräusch in der Luft, die Pause zwischen ihren Worten, wurden mit fröhlich-rhythmischen Klängen erfüllt, die nicht zu ihrer Konversation passten, und die Paul wie ein lautes Dröhnen in seinen Ohren empfand. "Ich möchte sie etwas fragen." Sie wollte etwas sagen, öffnete aber nur kurz ihre schmalen Lippen und schloss sie wieder. "Man hat mir erzählt sie haben eine Freundin-" "Was soll das? Ich habe viele Freundinnen, was wollen sie von meinen Freundinnen." Paul schaute auf das Mädchen, die schnell ihren Kopf abwendete. "Eine bestimmte Freundin, die ich auch kenne." "Auf dieser Insel kennt so ziemlich jeder jeden und wären Sie nicht weiß, wären Sie mit der Hälfte der Insel verwandt, vielleicht sind sie es trotzdem, oder haben zumindest ihre Spuren in den Familien hinterlassen."

Einen solche Frau hatte er noch nie zuvor auf den Philippinen getroffen. Die meisten waren zurückhaltend, freundlich aber nie offensiv. Diese Frau überrumpelte ihn und sah ihn jetzt an, stellte sich gar schützen vor ihre Tochter. Sie musste für ihn für einen Freier halten, der seine ehemalige Prostituierte suchte. "Ich suchte Julieta!", er platzte jetzt einfach damit heraus. Aber es war ein Fehler, die Frau schickte ihre Tochter in die Küche, drehte sich um, ging hinter ihr her und schrie ihm noch nach, er solle verschwinden und sich nicht wieder blicken lassen. Paul stand etwas ratlos vor der kleinen Hütte, in der die Küche untergebracht war. Er hätte zurückgehen können, um seinen Kaffee auszutrinken, aber das wäre auch albern gewesen. Er setzte sich auf einen umgeknickten Palmenstamm und überlegte. Er musste an diese Frau herankommen, sie kannte Julieta und sie wusste ganz sicher auch, wo sie zu finden war. Er klopfte vorsichtig an die Tür. "Hören Sie, ich bin ein Freund von Julieta, wir kennen uns schon lange, ich habe gehört, dass es ihr nicht gut geht, ich möchte ihr helfen."

Hinter der Tür blieb es still, er konnte das leise klappern von Töpfen hören. "Bitte machen Sie auf, sagen Sie mir, wo ich sie finde." Keine Reaktion. "Ich bin kein Freier von ihr, ich bin ein Freund, ich bin ein Maler, sie wird sich freuen mich zu sehen." "Ich sagte, Sie sollen verschwinden!", schrie die Frau in einer hohen Stimme. Sie war hartnäckig, aber er würde so schnell nicht aufgeben. "Hören Sie, Henry hat mir erzählt, dass Sie mir sagen können, wo ich Julieta finde, kennen Sie Henry?" "Hören sie auf mit diesem Nichtsnutz und gehen Sie endlich, ich kann Ihnen nicht helfen!" Die Stimme klang schon etwas freundlicher, verzweifelter, aber Henry schien nicht die passende Reputation zu sein. "Ich gehe nicht, bevor Sie mir nicht sagen, wo ich Julieta finde." Er musste ihr Druck machen, er kam sich albern vor, mit einer Tür zu sprechen aber, sie konnten ja nicht ewig in dieser Küche hocken. "Was wollen Sie überhaupt von ihr?" "Sage ich doch, ich möchte ihr helfen." "Indem Sie sie missbrachen?" "Ich bin keiner dieser Freier, habe ich Ihnen doch gesagt, ich möchte nur mit ihr sprechen." Er schluckte nach diesem Satz. Er war keiner dieser Freier und doch hatte er einst mit Julieta geschlafen, es war einfach passiert, er hatte mit seiner besten Freundin geschlafen, nachdem er sie zuvor gemalt hatte, es war einmal passiert und sie hatten nie darüber gesprochen, auch wenn es für ihn ein wunderbares Erlebnis war, er manchmal gar davon träumte.

"Hören Sie! Ich komme jetzt hier heraus. Wie heißen Sie eigentlich?" Er sagte seinen Namen und hörte kurz darauf, wie ein schwerer Riegel zurückgeschoben wurde. Aus Angst der Frau zu nahe zu kommen, trat er einige Schritte zurück. "Warten Sie hier, nein besser Sie gehen zurück ins Cafe und warten dort, wir werden dort sprechen." Paul ging um die Hütte herum und setzte sich wieder an die Bar, während die Frau durch die hintere Tür hereinkam. Die Bar stand jetzt wie eine Barriere zwischen ihnen. "Ich weiß nicht, ob ich Ihnen vertrauen kann, aber ich habe keine Wahl, jemand muss sich um sie kümmern und von den Leuten hier spricht keiner mehr mit ihr, sie halten sie alle für wahnsinnig, verhext."

Er wusste nicht, was den plötzlichen Sinneswandel ausgelöst hatte, aber die Frau hinter der Bar war verzweifelt, fast den Tränen nahe. Es musste etwas Schlimmes mit Julieta passiert sein, und er fühlte, wie ein flaues Gefühl in seinen Magen fuhr. "Glauben Sie mir, ich möchte ihr helfen, wir sind gute Freunde." Die Frau erzählte ihm von Julieta, was genau sie in dieses Delirium getrieben hat, konnte sie auch nicht sagen, Julieta, die eine Zeit lang bei ihr gewohnt hatte, wollte nicht darüber sprechen, sie habe nur in der dunklen Hütte gelegen und gejammert. Vor drei Tagen sei sie dann nachts abgehauen und nach White Beach zurückgegangen. Dort streifte sie nachts am Strand und in den Straßen herum, sie wusste nicht, wo sie sich tagsüber aufhalten würde, irgendwo im Innern der Insel, vielleicht in einer verlassenen Hütte. Sie wollte sie zurückholen, aber sie kam nicht mit, sie hätte um sich geschlagen und geschrieen. "Ich weiß nicht mehr weiter, sie verkommt, ich weiß nicht wovon sie gerade lebt, noch was sie macht, gehen Sie, suchen Sie sie, vielleicht spricht sie mit Ihnen. Ich habe Angst um sie. Gestern Nacht muss sich ein Tourist beschwert haben, er sei von ihr bedroht und geschlagen worden, einfach so. Wenn Sie wirklich ein Freund sind, gehen sie jetzt und bringen Sie sie hierher zurück, sie kann hier wohnen, bis es ihr wieder besser geht. Gehen Sie jetzt."

Paul hatte lange nichts gesagt, ihr schweigend zugehört. Er sagte auch jetzt nichts. Betrübt verließ er das Cafe. Auf dem Strand fiel ihm ein, dass er zu bezahlen vergessen hatte, aber das war jetzt auch egal. Er war müde und sah dem Weg zurück zu White Beach mit Grauen entgegen. Sein Bein schmerzte, und die Sonne brannte unbarmherzig vom Himmel. Die kleinen Wolken waren verschwunden. Langsam trottete er am Strand entlang, bis er hinter den Büschen ein Motorengeräusch hörte. Dort musste eine Straße sein, vielleicht würde er zurückfahren können. Das Tricycle brachte ihn in die Nähe des kleinen Marktes von White Beach. Von einem kleinen Laster wurden Bananen und Säcke voll Dünger abgeladen. Das milchige Pulver aus den Säcken setzte sich auf den schweißnassen Rücken der Träger ab, die mit ihrer Ladung in den engen Gassen des Marktes verschwanden. Er ging durch die Gasse mit den Souvenirläden vorbei an seinem Restaurant. Dort saß der Mann mit seiner Hasenscharte auf der Treppe und lächelte ihn an. Er mochte nicht zurücklächeln und ging schnell vorbei. Ekel stieg in ihm auf, er musste aus der bedrückenden Gasse hinaus an den Strand. Seine Schritte wurden schneller, Sand scheuerte in den Schuhen. Mit einer wirschen Handbewegung schüttelte er die Männer ab, die ihm eine Segeltour anbieten wollten und lief auf den Strand hinaus.

Er ließ sich in den heißen Sand fallen und schloss für einen Moment die Augen. Das Tuckern eines Bootsmotors und das sanfte Rauschen der flachen Brandung umgab ihn. Er war auf diese Insel gekommen, um sich zu vergnügen, mit Julieta über den Strand zu spazieren, sie vielleicht zu malen und ihre Geschichten anzuhören, nun sah er sich einer völlig anderen Situation gegenüber, einer Julieta, die nicht ihn aufbauen würde, sondern die seine Hilfe benötigte, die Hilfe eines ruhelosen Malers, der durch tropische Landschaften und Nächte zog, der selbst manchmal am Wahnsinn vorbeischlidderte und dessen Seele angelockt von den Horizonten der Meere, über diese Inseln schweifte. Er war versucht, wieder zu fahren, das nächste Boot zu nehmen, weiterzureisen, auf die nächste Insel, sich eine neue Julieta zu suchen, eine neue, kurze Heimat zu finden. Wie sollte er ihr helfen, er, der doch selbst nach Hilfe schrie? Ihre zarten Brüste, deren dunklen Trauben er auf seinen Bildern so gerne eine leuchtende Kraft verlieh, standen plötzlich starr und gewaltig vor seinen Augen. Er wollte nicht hinblicken, doch wie sollte er mit geschlossenen Augen wegschauen, wie das Bild verwischen? Es war ein Ausschnitt, ein Stilleben der Absurdität. Zart und berauschend, erfüllten sie seine Sinne, verloren der Gedanke an Sorgen, an Leid, ihr Leid, ihre Brüste. Nichts anderes war mehr in seinem Kopf, nur diese zwei Blüten, kein Gesicht und kein Körper. Er sah nicht sie, er sah ein Bild von ihr, sein Bild. Es strahlte ihn an, in all seiner Kraft und jetzt mochte er die Augen nicht mehr öffnen, wie ein Süchtiger stierte er in den Rausch der Farben, in ein funkelndes Braun und ein flammendes Rot. Es war ihm gelungen, wie ihm kein einziges Werk gelungen war und sie hatte es behalten, es sei verzaubert und abartig erotisch, kein Mensch dürfe es sehen. Du hast mir meine Brüste entlockt, hatte sie gesagt, es genommen und war gegangen. Womöglich hatte sie es zerstört, oder in ihrem Wahn verloren. Er wollte es zurück, und so würde er gehen und sie suchen. Als er die Augen öffnete blendete ihn die Sonne, der gleißend weiße Sand strahlte ihn an und das Meer war ein einziges Glitzern. Hungrig suchte er eines der Strandrestaurants auf, aß eine Pizza und trank Bier dazu. Dann schleppte er sich müde zu seiner Hütte und legte sich schlafen.

Kindergeschrei weckte ihn am frühen Abend. Er war benommen von wirren Träumen und brachte einige Zeit bis er die Hütte einordnen konnte. Als er heraustrat, senkte sich die rote Sonnenscheibe ins Meer. Er genoss den Anblick rauchend auf der Veranda. Heute nacht würde er über den Strand und die Gassen von White Beach laufen, er würde sich in keine Bar setzen, einfach immer wieder den Strandweg abgehen, er musste sie finden, auch wenn er keine Ahnung hatte, was er dann mit ihr anstellen würde. Er könnte sie einfach zu ihrer Freundin zurückbringen, aber sie wird nicht ohne Grund von dort weggelaufen sein. Henry war offensichtlich auch der falsche Ansprechpartner, und so war er auf sich allein gestellt. Ihm war es überlassen, eine wahnwitzige Prostituierte zu versorgen, mochte es nun Bestimmung oder Schicksal sein. In seinen nachmittäglichen Träumen stand er immer wieder vor dem einen Bild, als sei Julieta verewigt in ein paar Pinselstrichen, nur noch ein Gemälde, ein Ausschnitt ihrer Selbst. Er ergriff das Bild und konnte es nie erreichen, es schob sich immer weiter in den Horizont hinein, bis er auf Knien flehend zusammengebrochen war, aber das Bild verschwand im Nichts.

Paul holte den Rum aus der Hütte und goss ihn in einen Plastikbecher. Er schmeckte warm, und kratzig quälte sich die goldbraune Flüssigkeit seinen Rachen hinunter. Zwei Gläser trank er in schnellen Zügen, dann sprang er auf, verschloss sein Hütte und machte sich auf den Weg. Er musste sich beherrschen, um nicht zu schnell zu gehen, es war sinnvoller, die Wege und den Strand langsam abzugehen, würde er doch sonst zu bald müde werden. In den Bars saßen wenige Touristen, und auch auf dem sandigen Weg am Strand entlang, war kaum ein Mensch zu sehen. Wenn Julieta hier irgendwo herumlief, konnte er sie nicht übersehen, auch wenn es schwierig werden würde, den fast vier Kilometer langen Abschnitt im Auge zu behalten.

Er lief bereits über zwei Stunden den Weg entlang und war gerade auf den Strand abgebogen, als er in der Ferne eine Gestalt erblickte, deren Bewegungen ihn an Julieta erinnerten. Er beschleunigte seinen Schritt und kam ihr immer näher. In langsamen Schritten bewegte sich die Gestalt in die andere Richtung. Von hinten erkannte er einen zerfetzten hellblauen Rock und ein dreckig-weißes Unterhemd, über dem lange schwarze Haare wie ein dichter Busch hingen. Die Figur und Größe passten zu Julieta, die heruntergekommene Kleidung vielleicht auch. Er verlangsamte seinen Schritt und trat zögerlich von hinten an die Gestalt heran. Sie drehte sich nicht um, sie ging, mit den Füßen den Sand vor sich her wirbelnd, den Kopf zu Boden geneigt. Er überholte die Gestalt, drehte sich um und sah ihr ins Gesicht. Es war Julieta, die jetzt den Kopf hochnahm, aufschrie und davonlief.

Er rief ihren Namen, seinen Namen, bat sie stehen zu bleiben, doch sie rannte wie vom Wahnsinn erfasst am Strand entlang, die Beine überschlugen sich, sie fiel hin, stand wieder auf und lief jetzt durch das Wasser, das hoch neben ihr aufspritzte. Aber sie war nicht wirklich schnell. Paul holte sie ein, blieb aber hinter ihr. Er redete jetzt laut auf sie ein, während sie immer weiter lief. Die Worte tönten über das Meer und wurden von ihm verschluckt. Julieta keuchte, wurde immer langsamer. Sie war außer Atem, stolperte wieder und fiel der Länge nach in die flache Brandung. Vom Wasser umspült, drehte sie sich auf den Rücken und lachte laut heraus. Das Lachen einer Wahnsinnigen. Paul zog sie ein Stück aus dem Wasser, sie ließ es mit sich machen, lachte ihm nur schallend ins Gesicht. Ihre dunklen Brustwarzen leuchteten durch das nasse Unterhemd im Mondlicht. Er schaute nicht wieder hin, er schaute in das Gesicht, das auf dem Sand lag und lachte, ihn aber gar nicht wahrnahm. Er überlegte, ob er ihren Kopf streicheln, oder sie in den Arm nehmen solle, aber er hatte Angst, sie könnte um sich schlagen, nach Hilfe schreien. Der Strand war leer, sie waren fast am Ende angekommen, wo nur noch wenige Hütten standen, bevor ein mächtiger Fels den weiteren Weg versperrte. Er fing wieder zu reden an, sagte zärtlich ihren Namen, bat sie, ihn anzuschauen, aus dem Wasser zu kommen. Sie lachte. Paul hockte neben ihr. Was hatten sie mit seiner Julieta gemacht? Durch ihr Gesicht schien etwas entsetzliches, ein Funkeln in den Augen und ein verzerrter Mund. Das war nicht ihr Lachen, das waren nicht die süßen Lippen, die er in blutigem Rot auf seinen Bilder verewigt hatte, ihr Lachen war entstellt, wie ferngelenkt, ein groteskes, irreführendes Vortäuschen einer Lache. Es war ein Schreien. Julieta schrie vor Entsetzen, vor Angst und doch kam nur ein Lachen heraus. Das verebbte jetzt, wurde zu einem Stöhnen, Jauchzen und Jammern. Und wieder sprach Paul auf sei ein, nicht mehr leise, laut und langsam, sprach er mit ihr, sagte erneut seinen Namen, ihren Namen und dann erzählte er eine Geschichte.

"Julieta, du erinnerst dich an die rote Hütte von Negros? Inmitten der abgeernteten Zuckerrohrplantagen? Es war vor zwei Jahren, wir machten einen Ausflug über das Wochenende, du wolltest mir die Häuser der Zuckerbarone zeigen und dann haben wir uns ein Motorrad gemietet und sind in die Plantagen gefahren, mitten hinein, ein, zwei Stunden, bis wir vor diesem Feld standen. Um uns herum stand mannshoch das Zuckerrohr und nur dieses eine Feld war abgeerntet und mitten auf dem Feld stand ein rotes Haus, es leuchtete in all dem Grün und stand ganz einsam und verlassen. Wir gingen hinein, und mitten im Raum stand eine alte Kinderwiege, das war alles, was die ehemaligen Bewohner dagelassen hatten, eine leere Kinderwiege. Und dann bekamst du Angst, denn du hast geglaubt, der Geist eines verstorbenen Kindes sei in dem Haus, sonst hätten sie die Wiege nicht dagelassen und das Haus abgerissen. Ich habe gelacht und gesagt, das sei Unsinn und du hast gebetet, einen Rosenkranz für das verstorbene Kind. Danach fühltest du dich sicherer. Wir sind hinausgegangen und ein Sonnenstrahl aus einem Wolkenloch strahlte in dem Moment genau auf das Haus. Dieser Strahl, hast du gesagt, führt das verstorbene Kind jetzt in den Himmel. Dein Rosenkranz hat das Kind befreit. Dann hast du dich an das Haus gestellt, vor die strahlende Mauer und ich habe dich gemalt. Du hattest diesen Rock an, das Hellblau hob sich gut von dem Rot ab, ich erinnere mich noch genau, den ganzen Tag über warst du sehr glücklich, wir waren sehr glücklich."

Seine Stimme senkte sich. Während seiner Erzählung hatte er auf das Meer geschaut und sah erst jetzt wieder zu ihr hinunter, ihr Jammern war verstummt und ihre Augen hingen mit einem schrägen Blick an seinen Lippen. Sie setzte sich auf, schob sich aus dem Wasser auf den Strand, stand auf und schaute auf ihn herunter, umrundete ihn in einem großen Kreis, den Blick immer noch auf seine Lippen geheftet. Er vernahm ein leises murmeln, sie sprach Tagaloe, wiederholte aber immer wieder die gleichen Worte, der Rosenkranz, dachte Paul. Sie hielt inne. "Paul", hauchte sie gegen das Meer, wie jemand der einen Namen vor sich hinspricht, um sich das Bild einer Person ins Gedächtnis zu rufen. Er sagte nichts und sah sie nur an. Ihre Kleidung war heruntergekommen, wie ein durchnässtes Straßenkind ging sie um ihn herum, und doch ging von ihr ein Glanz aus, eine Grazie in den Bewegungen, die Formen ihres Körpers und die Spuren ihrer feinen Gesichtszüge, die auch ihre zuckenden Gesichtsmuskeln nicht verbergen konnten.

Der Anblick der um ihn kreisenden und betenden Julieta betörte ihn. Er schämte sich. Er durfte sie jetzt nicht als eine Frau anschauen, sondern wie ein Arzt seine Patientin. Langsam stand er auf und schritt auf sie zu. Sie hielt inne und streckte beide Arme von sich. Paul blieb stehen. "Komm her, setz dich zu mir in den Sand!" Er schritt ein paar Schritte zurück und setzte sich weiter oben in den trockenen Sand. Er spürte die Wärme die von der Tageshitze noch aus dem Boden kam. Zögerlich ging sie auf ihn zu und setzte sich ihm gegenüber. Der Sand klebte an ihrem nassen Rock. "Wir müssen reden!" Sie nickte. "Ich bin auf die Insel gekommen, um dich zu sehen, wir können dich wieder malen, wenn du magst." Ihr stierender Blick ging direkt in seine Augen. Er wollte sie gerne in den Arm nehmen, traute sich aber nicht, ihr näher zu kommen. "Wo wohnst du jetzt?" Sie antwortete ihm nicht. "Ich wohne wieder bei Marbini, in der gleichen Hütte, in der ich immer gewohnt habe, weißt du, die Hütte direkt am Strand, mit Blick auf das Meer." Sie zitterte am ganzen Körper, obwohl es auch nachts hier nicht kalt war. "Ist dir kalt?" Sie nickte.

Es war die erste vernünftige Reaktion von ihr, und in Paul erweckte sie einen Funken Hoffnung. Zumindest zeigte sie noch eine Reaktion, schien ihn zu verstehen und ganz eventuell hatte sie ihn sogar wiedererkannt, oder erinnerte sich, wenn nicht an ihn, so doch an etwas, das sie gemeinsam hatten. "Paul", flüsterte sie leise. "Ja, ich bin es, erkennst du mich? Dein Freund Paul." Er zündete sich eine Zigarette an und legte die offene Schachtel vor sich in den Sand. Sie beugte sich vornüber ergriff schnell die Schachtel, nahm sich eine Zigarette und steckte sie in den Mund und warf ihm die Schachtel wieder vor die Füße. "Ich gebe dir Feuer." Er rutschte etwas vor und hielt ihr die Flamme des Feuerzeugs vors Gesicht. Sie fixierte ihn mit einem Blick und zog seine Hand mit dem Feuer an ihre Zigarette. Ihre Hand war kalt und der Arm zitterte, aber es war ein Zeichen des Vertrauens. Sie saßen im Sand, blickten sich an und rauchten.

Paul wusste nicht, was er sagen sollte, er hatte sie ein Stück an sich herangeholt, war jetzt aber ratlos. Sie nahm tiefe Züge von der Zigarette und blies ihm den Rauch ins Gesicht. Er fing an zu lachen. "Julieta, ich freue mich, dich gefunden zu haben." "Paul", sagte sie wieder leise, doch es klang nicht mehr so fragend, es klang wie ein ihr vertrauter Name. "Sie haben mir weh getan." Sie schniefte. "Wer hat dir weg getan?" Tränen liefen ihr von den Augen, einzelne Tränen, die sie nicht wegwischte. Sie schniefte leise und begann wimmernd zu erzählen

"Ich kann nicht mehr, sie machen mich fertig, ich will nicht mehr. Paul, hol mich hier heraus. Sie sind pervers, es ist nicht richtig, es ist Sünde, ich bin eine Sünderin, es ist zu spät für mich, ich kann nicht darüber sprechen." Sie verstummte wieder und grub ihre Hände tief in den Sand. "Worüber kannst du nicht sprechen, Julieta, du musst mit mir reden, es mir erzählen, ich bin dein Freund, ich helfe dir." Sie fing jetzt heftiger an zu weinen. "Niemand kann mir mehr helfen, es ist zu spät, ich habe es gesehen, alles habe ich gesehen." "Wen hast du gesehen, was ist passiert?" Sie murmelte vor sich hin, wieder in der Sprache der Filipinos, die gleichen Worte wie zuvor. Ein Gebet. Sie schaute jetzt nicht in den Sand und nicht auf ihn, ihr wirrer Blick schweifte über den Strand, sie war schon wieder ganz in sich versunken. "Julieta, sprich mit mir, erzähle mir."

Paul dachte an ihre Freundin, die erzählte, sie hätte den ganzen Tag wimmernd in der Hütte gelegen. Er hätte nachhaken müssen, diese Freundin wusste bestimmt was passiert war, oder hatte zumindest eine Ahnung. "Sie ekeln mich an", sagte sie jetzt. Es musste ihr schwer fallen, die Kontrolle über sich zu wahren, sich zu konzentrieren. "Aber ich bin die Sünderin, die Verführerin, ihr Leib, es ist meine Schuld." Zwei Händchen haltende, koreanische Männer kamen auf sie zu. Paul hatte die beiden schon vorher am Strand im Nachbarressort gesehen, wo sie in der prallen Sonne Bauchmuskelübungen machte. Erst jetzt ging ihm auf, dass die beiden Schwul waren. Sie gingen an ihnen vorbei, als würden sie sie nicht sehen, sie lebten in ihrer eigenen Welt, genossen die Anonymität einer Insel, wo sie niemand kannte und auf der sie ihre Leidenschaft füreinander ausleben konnten. Paul schaute ihnen nach.

Er wurde plötzlich sehr müde, es war anstrengend. Er fühlte sich, als würde er einer Fremden gegenüber sitzen, die ein Fall für einen Psychiater war. Wahrscheinlich war es zu spät, ein Fehler von ihm, hierher zu kommen. Wie sollte er ihr helfen, wusste er doch nicht einmal, was passiert war? "Julieta, was ist passiert, du musst mir erzählen, was passiert ist, sonst kann ich dir nicht helfen." "Niemand kann mir helfen", schrie sie ihn an, "ihr seid alle gleich, ihr kommt in das Paradies, auf der Suche nach dem Paradies, aber ihr werdet es nicht finden, und ich, ich werde es auch nicht mehr finden." Sie hatte recht, es war das Paradies, die Palmen im Mondlicht, das sanfte Rauschen, der Sand. Und doch, fühlte er sich nicht, wie im Paradies, hatte sich nie wie im Paradies gefühlt. Das Paradies reichte nicht aus zum Glück, es machte melancholisch und die Menschen die hierher kamen, blieben für eine Zeit und gingen wieder, aber waren sie glücklicher hinterher? Glücklicher wegen ein paar Palmen? Weil sie mit einer Filipina geschlafen hatten? Was suchten all die Touristen hier, diese lauten, schwanzwedelnden Eindringlinge in ihren Luxusapartments, die tagsüber im Strand und nachts in den Armen einer schönen Einheimischen lagen? Die mit ein paar Dollar einen Menschen zerstörten, für ein paar Stunden Geilheit, waren sie bereit zu opfern. Sie opferten Menschen, die nach der Erregung in Vergessenheit gerieten und allenfalls in ihren feuchten Phantasien eine Daseinsberechtigung hatten. Aber er war nicht anders als sie, er war schlimmer, ein Flüchtling, der gemalte Exotik verkaufte und damit die Wolllust nur noch ankurbelte, Verlockungen schuf, die in kalten Büros und abgeklärten Galerien hingen. Zu oft hatte er sie verkauft, hatte ihr Abbild geschaffen, lebte von ihrem Abbild, was nicht besser war als sie einfach mit aufs Zimmer zu nehmen, er nahm sie nicht für eine Nacht, er bannte ihren strahlenden, lustvollen Körper auf eine Leinwand und teilte sie mit all den anderen, die kamen, sie nahmen und wieder gingen. Sie hatte recht, er konnte ihr nicht helfen, war er doch selbst einer jener, die sie ins Unglück gestürzt hatten, die ihren Körper genommen und sich daran aufgegeilt hatten. Er hatte an ihr verdient. Sein Leben in diesem Paradies lebte er auf ihre Kosten. Er hatte ihren Körper verteilt und irgendwo in Europa starrten Männer jetzt auf ihre Haut, ließen ihre Augen auf ihren runden Brüsten und struppigen Schamhaar weilen, während er hier saß und vorgab, ein rettender Messias zu sein. Sie ahnte nicht einmal, in wie vielen Galerien sie gehangen und Zeitschriften sie abgedruckt war. Er war nicht reich und berühmt mit ihr geworden, aber sie war doch sein Durchbruch. Serien hatte er von ihr gemalt, in Posen, so unvoreingenommen Posen. Julieta I bis IV, Der blaue Rock, Ein Morgen unter Palmen, Fischer mit Julieta und wie hießen sie nicht alle. Und jetzt? Wollte er sie nicht einfach nur wieder malen? Machte er sich nicht einfach nur Sorgen, weil er Gefahr lief, sein Modell zu verlieren, seine Julieta, seinen Erfolg?

"Sie waren hier", sagte sie jetzt wieder und schaute ihn an. "Wer war hier?" "Alle. Und sie fragten nach mir und nahmen mich. Ich ließ sie gewähren, denn ich brachte das Geld." "Wer ist alle?" Ihre zerzausten Haare leuchteten im Mondlicht. "Warum hast du es ihnen gesagt?" Ihre Stimme klang traurig, verzweifelt. "Was habe ich ihnen gesagt?" "Du weißt wovon ich spreche, du warst ein Freund und ich habe dich gewähren lassen. Bis auf einmal habe ich dich gewähren lassen. Aber es ist meine Schuld, ich bin es nicht wert und ich war es nie, es ist der Preis, den ich dafür zahle, hier zu leben, wie ihn alle anderen zahlen." Paul war verblüfft, ihr Reden klang jetzt vernünftig, abgewägt, nicht wie das Reden einer Verrückten. Dennoch wusste er nicht, wovon sie sprach.

"Ich habe es keinem gesagt, ich habe gelebt und für kurze Zeit habe ich gut gelebt. Ich kann nicht mehr Paul, lass mich in Ruhe!" Sie drehte ihren Kopf zum Mond, der groß und rund über dem Meer stand. Paul rückte etwas näher an sie heran, wollte seine Hand auf ihre Schulter legen, doch sie schlug sie weg, ließ sich fallen und heulte in den Sand hinein. "Julieta, was ist, was habe ich dir getan?" Sie heulte laut vor sich hin, ihre schlanken Beine wurden kaum von dem zerrissenen Rock bedeckt und Paul hatte Lust sie anzufassen, ihr über die dunkelbraunen Beine zu streicheln. Und er schämte sich.

Später in der Nacht kehrte er zu seiner Hütte zurück. Er stand schon auf der Treppe zu seiner Veranda, machte aber kehrt und ging auf das Meer zu. Das Wasser, das seine Füße umspülte war warm, Schritt für Schritt ging er tiefer in das Meer hinein, spürte wie sich das Meer in den Stoff seiner Hose saugte, die leichten Wellen gegen seinen Bauchnabel schwappten, seine Brustwarzen hart wurden. Sie waren gekommen, direkt aus den Galerien, hatten sie gesucht und gefunden, erst wenige, dann immer mehr, sie hatten mit ihr geschlafen, sie in ihre Hütten genommen, alleine und mit anderen, aber sie war der Star, die Menschwerdung ihrer Leinwandphantasien, und sie hatte sich willig gezeigt, es genossen, ihrem Ruf gehuldigt. Sie war aus den Leinwänden hinausgetreten und Mensch geworden. Orgien, kranke Ergüsse, Künstler und Fotografen, Schriftsteller, Lustmolche, Potenztiere, Protagonisten sezierter Gier, Kokser, Trinker, die ihren Preis zahlten und Fetischisten. Ihr blauer Rock war zerschlissen, aber sie wollten ihn, bis sie ihn zerrissen, sie zerrissen. Er konnte nicht mehr stehen und schwamm hinaus in das dunkle blau, die Wellenkämme glitzerten in der Nacht und weit vom Strand her konnte er sie hören, sie saßen in den Bars und tranken.

Eingereicht am
04. März 2005

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