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Dez
01
Sub umbra floreo
© Bernd Schneid

Späte Nacht. Geisterstunde. Lisa schlummerte mit leichtem Schlaf, halb wach, halb blind. Unterbewusst nahm sie ein blubbern von Wellen wahr. Was würde ihre Zukunft bringen? Dann machte es bumm! Johannes kam aus dem Schatten. Ganz schnell. Er habe jemanden im Auto. Das sagte er zuallererst. Lisa verstand nicht. Es war seine Art, einfach aufzutauchen. Wie ein Verbrecher.

So hatte alles begonnen. Oder geendet. Für Lisa.

Der Anfang: In der Freundschaftsbörse all-my-friends.de hatte Johannes unter dem Pseudonym Holofernes76 seine erste Nachricht an Lisa81 geschickt.

"Lisa?", stand da.

Sonst nichts. Aber interessant, zumal Lisa auf Nachrichten wie "Du bist aber eine süße Maus!" keine Lust hatte, zu antworten.

Johannes war anders. Für sich gewinnen, war seine Art. Zwei Wochen dauerte der Nachrichtenverkehr, bis Johannes nicht fragte: "Wir müssen uns treffen!"

Lisa hatte Gedanken: Internetbekanntschaften!

"Was solls!", dachte Lisa. Sie machten ein Treffen aus.

Nach Kino, Pommesbude und Tiergarten, leicht beschwipst, küsste Johannes Lisa. Johannes Lisa nahm seinen Lauf. Lisa fragte nicht. Sie wollte genießen. Zusammen zu sein.

Johannes hatte mit vierzehn Jahren seine Eltern verloren. Wie Lisa. Deren Eltern bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kamen. Sie war sieben. Als es geschah, war sie bei ihrem Großvater. Über die Ferien. Wie auch die folgenden Jahre. Sie redete nicht gern über die Zeit nach seinem Ableben. Sie war neunzehn. Der Großvater war verschieden. Mit 84. Danach lief alles in einer Bahn. Gerade. Die Jahre waren nichts als eine Aneinanderreihung von Tagen. Sie hatte nie den Mut: zu tun, zu leben. Irgendwas.

Es hatte ihr niemand gezeigt.

Johannes Eltern verunglückten bei einem Autounfall. Unfallverursacher: ein alkoholisierter Fahrer auf der Gegenbahn. Die Geschichte zu erzählen, fiel ihm schwer. Lisa nahm Johannes in den Arm, während er ein paar Trän en in ihren Schoß fallen ließ. Zumindest wünschte sie sich das.

Johannes und das Gesetz: Eine Sache für sich. Er stahl mit Lisa die berühmten Kirschen in Nachbars Garten, hier ein Bier am Kiosk, da ein Geschenk vom KaDeWe. Lisa mochte Gaunereien, da auch sie nicht viel von den Folgen des Spätkapitalismus hielt. Lisa kam aus Ost-Berlin. Nie mehr in diesem Deutschland leben. Ein Traum. Für sie. Zu grau. Und grau war jede Maus.

Johannes redete bald von seinen Träumen. Denen in Gedanken, nicht im Schlaf. Er träumte vom Meer. Das Meer. Meereszeit. Als Johannes fragte, ob Lisa ihm nicht Die kleine Seejungfrau von Andersen vorlesen könnte, fand sie das kindisch. Johannes Mutter hatte ihm das Märchen vorgelesen. Damals. Lisa liebte es sofort. Also lasen die beiden durch die Tage und Wochen.

Johannes war fasziniert vom Meer. Er wollte ursprünglich Meeresbiologie studieren, hatte sich aber aufgrund seines Realitätssinns - "da könne er ja gleich Philosophie studieren!" - für ein Informatikstudium entschieden. Darin war er Meister. Als 12-Jähriger hatte er den Jufo-Bundeswettbewerb mit einem Verwaltungssparprogramm für Schulen gewonnen. Sein Vater ging mit ihm ein Wochenende ans Meer: Tauchen.

Johannes hatte keine Zeit für Mädchen. Die Materie war uninteressant. Der erste Sex mit 21 beeindruckte ihn nicht weiter. Eine Nebentätigkeit.

Warum Johannes und Lisa sich verliebten, wussten sie nicht. Johannes war der Typ, der sich besser mit sich selbst beschäftigte. Lisa wiederum genoss gerade das.

Eines Tages aber - und der Tag war grau - erklärte Johannes seinen Plan: Er habe sich bei der Deutschen Bank in den Zentralrechner gehackt und könne sich dort durch den Innenraum des deutschen Kapitals bewegen. Johann es wollte weg. Eine Flucht. Karibik. Er könne Geld überweisen, Lisa und er unter Palmen am Meer leben. Lisa war zuallererst geschockt. Wer hätte das gedacht? Ein wenig stolz war sich auch.

Lisa fragte nach den Betroffenen, denen Johannes das Geld stehlen würde.

Johannes verstand und war froh über die Frage.

"Ich überweise zuerst Geld auf unser Konto. Eins! Wie viel, weiß ich noch nicht. Genug! Zwei: Das Geld ist von Großindustriellen. Also vom Kapital. Keine strickenden Omis. Bonzen!"

Johannes war sich sicher.

"Niemand erwischt mich! Gleichzeitig überweise ich Beträge auf Hilfsorganisationen in ganz Deutschland. Drei! Die Liste."

Johannes zeigte Lisa die Liste. Beeindruckend!

"Unmöglich zurückzuverfolgen. Das Wirtschaftssystem Deutschland wird zusammenstürzen. Zumindest ein Teil."

"Echt?" fragte Lisa.

"Versprechen kann ich nichts. Die Organisationen müssen das Geld zurückgeben. Wahrscheinlich. Aber in Deutschland wird etwas passieren. Denk mal: Hilfsorganisationen. Großkapital! Schlagzeilen auf der ganze n Welt. Etwas verändern. Wenn auch nur die Diskussion!"

Lisa konnte nicht glauben, was Johannes erzählte. Aber sie war dabei. Weshalb? Ein neues Leben? Sie hatte keine Ahnung von ihren Gefühlen für Johannes und von seinen für sie. Aber wer schon?

Johannes führte in den kommenden vier Wochen das Notwendige durch. Am 17. September (dem Todestag seiner Eltern) sollte der Stichtag sein. Johannes würde Deutschland verlassen und in ein anderes Leben fliegen. Lisa an seiner Seite, hatte sie sich geschworen.

Und dann?

Es kam wie begonnen: Johannes stand also spätnachts in Lisas Zimmer.

"Was ist los?" fragte sie. "Ist was passiert?"

"Alles gut. Nur noch ein paar Stunden." Johannes zögerte: "Du musst allein gehen. Ich muss etwas tun!"

"Ich versteh nicht."

"Ich muss mich von jemandem ... verabschieden! ... den ich lange nicht mehr gesehen habe. Es geht um meine Eltern. Er war mein... Ersatz! Und... Er ist im Auto. Es wird nicht lange dauern. Auf Wiedersehen sagen! Es muss sein. Ich komme nach. Die nächste Maschine. Ein, zwei Tage. Freu dich!"

Lisa wurde schwindlig. Leise stammelte sie.

"Ich kann das nicht."

"Lisa! Hör mir zu: Es muss sein. Morgen schwimmen wir im Meer. Du!"

"Ich hab Angst."

"Du bist eine wunderbare Frau." Das hatte noch niemand zu Lisa gesagt.

"Dann warte ich auch." kam es entschlossen wie nie aus ihrem Mund.

"Nein! Ich erkläre es dir. Später. Vertrau mir."

"Aber..."

"Lisa!!! "

Und damit war alles geregelt. Für Johannes. So hatte er noch nie mit Lisa gesprochen. Er war entschlossen. Aber sie vertraute ihm. Lisa war noch nie geflogen. Aus bekannten Gründen. Flugzeuge! Und nun allein?

Lisas Herz war voller Popcorn, kurz vor dem platzen, drei Stunden später, im Taxi zum Flughafen. In ihrem Gepäck: Ein paar Euro. Das Startkapital aus Johannes und Lisas Ersparnissen, für den Anfang. Die Daten und Papiere für das Konto. Inklusive einem Kuss von Johannes. Alles in einem Sportrucksack. Bis auf den Kuss, natürlich.

Der Flughafen und das Einchecken waren schwierig, aber wie in Trance manövrierte Lisa durch die Formalitäten und befand sich, ehe sie es sich versah, im Flugzeug, über den Wolken, Destination: Belize.

Lisa hatte keine Angst. Der Fluglärm erinnerte sie an Fönanlagen im Schwimmbad. Die Welt unter ihr war unbedeutend und schwer. Sie dachte durchgehend an Johannes. Keine Furcht!

Nachdem Lisa eine Weile geschlafen hatte, tauchte unter ihr das blaue Meer der Karibik auf. Kleine Inseln lagen da wie schwimmende Kerzen im Wasser und Boote strichen wie Flugzeuge über die Wellen.

Der Rest verlief gut. Lisa konnte es nicht glauben. Der gestrige, war der längste Tag ihres Lebens. Schwer fiel sie am noch frühen Abend, angezogen, in das Hotelbett - Ein neues Leben? Johannes! - und schlief ein.

Am nächsten Tag spazierte Lisa über den Strand, spürte die feinen Körnchen in den Zwischenräumen ihrer Zehen und daran, wie sie hier leben würden.

Zurück in der Stadt kam Lisa auf eine Idee. Im Hotel gab es aufgestellte Internetautomaten, die man mit Scheinen aktivieren musste.

Alles stimmte. Da stand es. Deutschland: Die Meldungen waren unglaublich. Lisa war stolz auf Johannes.

Am folgenden Tag wurde Lisa unruhig. Dann kamen die Schweißausbrüche und Atemnot. Am vierten Tag begannen die Tränen. Johannes tauchte nicht auf. Lisa wartete am Strand bis zur Dämmerung. Hoffnung! Johannes Art: Wie ein Einbrecher. Unerwartet aus dem Wasser tauchen. Aber nichts. Nur Phantasien.

Lisa durchsurfte das Internet nach Hinweisen, ob jemand verdächtigt wurde. Doch die Meldungen waren leer. Ein purer Akt des Terrors, stand da. Ein Ruck ging durchs Land. Jedenfalls nach Wunsch der Zeitungen. Johannes Plan ging auf. Lisa suchte auf den Seiten der Boulevardblätter nach Unfallmeldungen oder Flugzeugabstürzen.

Bald stockte ihr Atem:

21. September: Ins Auto gefesselt! Junger Mann (29) entführt Finanzchef Herbert K. (68). Mit 240 km/h gegen Betonmauer. Beide sofort tot. Um sicherzugehen, hatte der junge Mann K. einen Strick um den Hals gebunden. K. wurde enthauptet. Motiv der Tat: Rache! Das Opfer K. wurde mit dem 17 Jahre zurückliegenden Unfalltod der Eltern des Täters in Verbindung gebracht. K. stand damals unter Alkoholeinfluss und hatte Mitschuld an dem Unfall.

Lisas Kopf war leer.

Also ging sie ins Wasser. Kann das Meer ein Ort sein, der ähnlich dem Schlafzimmer, ein Ort zum schlafen ist? Oder würde man wie die kleine Seejungfrau als Tochter der Luft dahin treiben?

Lisa spürte das Loch in sich, das in einer Ecke ihres Körpers war. Sie ließ sich rücklings treiben, nahm den Himmel wahr, die Kondensstreifen der Flugzeuge, die Sonne, die ungemein brannte und versuchte sich abzuschalten.

Lisa schloss ihre Augen und sah durch die Lider wie in Dämmerlicht Johannes.

Lisa tauchte unter. Sie arbeitete sich tief ins Wasser. Stück für Stück. Als sie die Augen öffnete, sah sie Korallen und Fischschwärme. Eine farbige Welt. Selbst das Grau war nicht das Grau einer Betonmauer. Sie wusste nicht, weshalb Johannes sich in sie verliebt hatte. Sie spürte keinen Schmerz. Plötzlich, durch den Druck, hörte sie ihren Herzschlag. Gleichmäßig. Pochen. Submerian. Die letzte Luft stob aus ihrer Nase. Es war nichts mehr da. Jetzt wusste sie es.

Was machst du hier? Ich bin hier. Im Meer. Lisa? Lisa!

Als ihr Kopf aus dem Wasser schnellte, war da nur die Sonne, die ihr das Haar trocknen würde. Nie wieder im Schatten leben, dachte sie. Nie mehr.

Sub mari floreo ...

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