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Eingereicht am
13. März 2007

Wie eine Feder

© Tom Pascheka

Mit einem Ruck fuhr Lisa aus dem Schlaf hoch. Sie lauschte in die Stille, und obwohl sie nicht hätte sagen können, was sie geweckt hatte, brach ihr plötzlich der Schweiß aus.

"Lisa?"

Die Stimme ließ sie herumfahren.

Im Dämmerlicht, das durch die halb heruntergelassenen Jalousien fiel, erkannte Lisa einen Mann in der Ecke ihres Schlafzimmers.

"Johannes", entfuhr es ihr. "Was machst du hier?" Der Mann schritt an ihr Bett.

"Hallo Lisa. Ich wollte dich sehen."

Lisa lächelte. Johannes erkannte es aber nicht. Er zögerte.

"Warte, ich mach das Licht an." Lisa streckte ihren Arm aus und schaltete eine kleine Lampe auf dem Nachtschrank ein. Von dem Licht geblendet, versuchte sie die stehende Gestalt von Johannes wahrzunehmen. Wieder lächelte sie. Sie schaute dem Mann in die Augen. Wunderschöne blaue Augen hatte er. Ein blasses Gesicht. Geschmeidige, wellige, dunkelblonde Haare, die gekämmt aussahen. Er trug sein Lieblingshemd, ein weinrotes mit Knöpfen, das er von Lisa zu seinem letzten Geburtstag bekommen hatte. Lisa wusste, er hatte sich für sie in diesem Morgengrauen schick gemacht. Warum er das tat war ihr auch klar. Er liebte Lisa.

"Du siehst gut aus, Jo", lobte sie ihn. Sie nannte ihn oft Jo. Der Name gefiel Johannes seit langem, weil er immer von seiner Familie so genannt wurde.

Johannes kannte Lisa seit 4 Jahren. Er war 25. Sie 22. Sie hatte bereits ihre Ausbildung als Krankenschwester abgeschlossen und wohnte nun in einer kleinen Wohnung im Erdgeschoss eines Mehrfamilienhauses in einer Kleinstadt. Johannes sah sie bei einem Praktikum im Krankenhaus zum ersten Mal, als er eines Nachmittags wegen versuchten Selbstmordes eingeliefert wurde. Einige Stunden später lag er auf ihrer Station. Sie trafen sich bald zufällig auf dem Flur der Station und kamen ins Gespräch, in dem Johannes so tat, er habe Schmerzen. Lisa fand das zwar nicht lustig, aber seit dieser Begegnung mochte sie ihn irgendwie, und vor allem er sie. Lisa war die Einzige von den Schwestern und Ärzten, die erfuhr, warum Jo sich umbringen wollte.

"Mein Leben ist nicht mehr lebenswert. Schon lange nicht mehr. Ich bin krank, verstehst du?" Lisa hatte nicht gefragt, was er habe. Sie wollte es auch gar nicht wissen. Noch nicht. Sie würde es bestimmt bald von ihm hören.

Lisa war sofort klar gewesen, dass Johannes sie sehr mochte, und dass er mehr wollte. Aber ihn konnte sie nicht lieben.

Einmal sagte er es ihr sogar: "Ich weiß, dass ich dich liebe, Lisa, aber ich weiß auch, dass du mich nicht liebst." Dabei schien er so glücklich gewesen zu sein und lächelte sie ständig an. Das Schicksal will es nicht so, dachte Lisa.

"Aber selbst, wenn du mich lieben würdest, hättest du vermutlich keine vernünftige Beziehung mit mir." Er lachte. "Du könntest mit mir gar keine Kinder kriegen." Lisa sah ihn nur fragend an. Von da an wusste sie, wie krank er war.

"Ich habe AIDS, Lisa. Seit vielen, vielen Jahren. Und jetzt bin ich nur noch am Warten.

Oft redeten sie miteinander. Und selbst nachdem er von einer Psychiatrie nach 5 Monaten entlassen wurde, redeten sie. Sie unternahmen gemeinsam viele Sachen, verbrachten seit dem fast jeden Tag zusammen, fühlten sich miteinander wohl.

Und jetzt war wieder einer der Momente, in denen Johannes spontan bei Lisa aufkreuzte. Sie nahm es immer wieder locker und lachte nur darüber. Doch noch nie, ist es in der Nacht geschehen.

"Ich habe mich extra für dich so gut angezogen", meinte Jo und setzte sich aufs Bett. Er hustete. Lisa hatte schon seit einigen Wochen bemerkt, dass sich seine Krankheit immer mehr verschlechtert hatte.

"Gibt es etwas zu feiern?", fragte Lisa freundlich.

"Ich möchte dir gern etwas zeigen, Lisa?" "Was denn?" "Das wirst du schon noch sehen. Komm mit mir." Sie blickten sich für eine Weile in die Augen. Stumm. Jo machte einen solchen wunderbaren Eindruck. Lisa entschloss mit ihm zu gehen. Wohin auch immer? Sie erhob sich und stieg aus dem Bett. Jo machte das Licht aus. Dann kletterte er aus dem Fenster zurück nach draußen. Lisa folgte ihm. Er nahm sie bei der Hand, als sie hinausstieg. Dann sprang sie die wenigen Zentimeter auf den dunklen Rasen und atmete die milde Sommernachtluft ein. "Wo wollen wir hin?", wollte sie neugierig wissen.

"Es ist nicht weit", sagte er bloß. "Komm." Sie fassten sich an die Hände und rannten los, Lisa von ihm geführt.

Es war warm. Lisa hatte keine Schuhe an. Aber das störte sie keinesfalls. Sie starrte zum Himmel. Am anderen Ende war ein heller Streifen zu sehen. Langsam geht die Sonne auf, dachte sie.

Sie liefen eine stille Hauptstraße entlang. Aber nicht lange. Bald bogen sie in ein Waldstück ein. Lisa spürte den Sand unter ihren Füßen kleben. Einzelne Stöcke ließen sie schmerzen. Dann begaben sie sich auf einen Pfad, der aus dem Wald führte. "Kannst du noch?", fragte Jo Lisa. Sie nickte.

"Wann sind wir da?"

"Gleich."

Sie überquerten Wiesen. Die Stadt hatten sie hinter sich gelassen. Die Wiesen zogen sich in die Länge. Das hohe Gras raschelte. "Stell dir vor, du wärst federleicht, Lisa", sagte er plötzlich zu ihr.

"Was?" Lisa verstand nicht.

"Stell es dir einmal vor. Stell dir vor, du könntest fliegen. Du könntest dich einfach vom Boden abstoßen. Für immer in der Luft bewegen. Wie eine Feder, die vom Wind angetrieben wird." Lisa lachte. Sie schloss die Augen. Stellte sich genau das vor, was Jo sagte. Sie vertraute ihm. Solange er sie an der Hand hatte, konnte ihr absolut nichts passieren. Sie war glücklich. Nur noch glücklich. Sie sah ihre Vorstellungen ganz genau. Sie wirkten so real...

Bald verlor sie den Boden unter ihren Füßen und stieg in die Lüfte. Sie sah in ihren Gedanken einen herrlichen, sonnigen Tag. Es war sehr warm. Jo berührte sie. Sie schienen zu schweben. Er küsste sie auf den Mund.

"Wie eine Feder", wisperte er. Lisa wollte sprechen, aber kein einziger Ton kam heraus. War das ein Traum? Sie fühlte sich frei. So unglaublich frei. Wollte nur noch mit ihm sein. Alles vergessen und nur noch bei ihm sein. Für immer. Jo ließ sie los und flog vor. Lisa wollte hinterher. Mit ausgestreckten Armen ließ sie sich von den Bewegungen des angenehmen Windes treiben. Wie eine Feder, dachte sie. Lachend warf sie sich in seine Arme. Johannes! Ich mag dich so sehr. Ich möchte dich nicht verlieren. Jo antwortete nicht. Arm in Arm schwebten sie viele Meter über den Boden. Beide flogen höher. Sie sahen die Wolken. Sie wollten sie erreichen. Lisa fixierte sie. Auf einmal entfernte sich Jo von ihr. Er lächelte. Sie schaute zurück, wollte auf ihn warten, aber irgendwie funktionierte das nicht. Sie flog einfach weiter. Automatisch. Seine Figur verkleinerte sich rasant. Dann war er weg. Vollkommen verschwunden. Für immer. Lisa schrie...Lisa öffnete die Augen. Das erste was sie sah, waren die seichten Wellen eines Sees, die an dem Strand, auf dem sie lag, ihr Ende fanden. Lisa rappelte sich hoch bis sie saß und blickte auf das ruhige, klare Wasser, das ihre Knie erfasste. Für Sekunden war sie überrascht. Dann war ihr alles klar.

Sie entdeckte nur etwa einen Meter von ihr entfernt eine große, einzelne, silberne Feder. Nach kurzem Zögern griff sie sie sich und musterte sie. Einige Male drehte sie die Feder in ihren Händen. Erst später merkte sie, dass Worte drauf geschrieben waren. Sie las sie sich mehrfach durch. WIE EINE FEDER.

Tränen liefen ihr. Geradeaus starrte sie über den See hinweg aufs gegenüberliegende Ufer. Es war fast hell. Ein neuer Tag begann. Ein neuer Tag, nur ohne Johannes . Für immer.

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