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Ein Winternachtstraum

© Marcel Fricke


Ich möchte von einem Märchen erzählen, welches aus einem Winternachtstraum entsprang und in jenem wieder endete. Ein Märchen von Feuer, Unbefangenheit und Schmerz.
Es war einmal ein wunderschöner Wellensittich. Er saß in einem Käfig mit vergoldeten Gitterstäben auf seiner goldenen Schaukel und wippte vergnügt hin und her. Jeder, der ihn sah streichelte sein blondes Gefieder, lächelte und ließ ihn ab und an aus seinem Käfig fliegen und erfreute sich an seinem eleganten Flügelschlag. Die meiste Zeit aber saß der hübsche Vogel an einem Fenster und genoss die Frische der Luft, den Duft der Wälder, das Plätschern der Bäche. Er dachte daran, wie die Welt wohl außerhalb dieses Hauses aussehen würde. Ob er vielleicht Dinge kennenlernen könnte, die er bis jetzt noch nicht für sich entdeckte... In Gedanken versunken flog er dann wieder zurück in seinen Käfig, räumte brav seine Körner in die eine und den Rest in die andere Seite.
Er genoss seine Speisen, die ihm jeden Tag aufs Neue frisch gebracht wurden. Es mangelte ihm an nichts und er war sich sicher der glücklichste Vogel auf der Welt zu sein. Von Zeit zu Zeit lebte bei ihm ein anderer Wellensittich und er genoss die schöne Zeit des Umgarntwerdens, der Beachtung und der Geborgenheit. In dieser Zeit saß er bei seinen Rundflügen weniger oft am Fenster, sondern vertrieb sich die Langeweile mit seinem neuen Freund.
Eines Tages mussten beide Seiten jedoch erkennen, dass der Spaß am Spiel endlich war. Der Reiz war erloschen.
Also trennten sich ihre Wege und der Wellensittich lebte von nun an wieder alleine in seinem glänzenden Käfig, wippte auf seiner Schaukel, ließ sich den Hals kraulen und durch sein blondes Gefieder streichen. Wieder saß er lange Zeit am Fenster, blickte verträumt und etwas traurig auf die Felder, die Wälder, die Seen: Wenn er doch so hoch fliegen könnte, dass er die ganze Welt sehen könnte, wäre das nicht wundervoll? So vergingen Tage, Wochen, Monate. Irgendwann saß er wieder an seinem offenen Fenster, als plötzlich ein Adler direkt auf ihn zu flog. Noch bevor er in seinem Käfig Schutz suchen konnte, erreichte ihn der Flügelschlag des Adlers und er setzte sich vor ihm nieder. "Hallo", sagte der Adler, "Ich habe dein wunderschön glänzendes Gefieder gesehen und war so davon fasziniert, dass ich dich mit auf meine Reise nehmen möchte". "Auf deine Reise?", fragte der Wellensittich verängstigt. "Ja, ich fliege schon lange alleine durch die Welt und auch wenn ich so viel Schönes sehe, dein Antlitz ist etwas Besonderes. Nie habe ich etwas Vollkommeneres wahrgenommen. Lass uns zusammen die Welt erkunden und das Leben genießen. Wir werden Spaß haben und uns lieben. Und wenn es uns an einem Ort gefällt, bleiben wir einfach dort, bauen uns ein wunderschönes Nest, bekommen Kinder und leben unbeschwert bis zum Ende unserer Tage." Der Wellensittich war überrascht. Noch nie hatte er jemanden getroffen, der ihm so etwas vorgeschlagen hatte. "Ja weißt du, viele Tage habe ich an dem Fenster gesessen und mich gefragt, wie es wohl sein wird...draußen...in der Welt. Aber nie habe ich mich getraut diese Wohnung zu verlassen. Sieh her: Ich habe einen wunderschönen Käfig, bekomme edelste Speisen, jeder erfreut sich an meiner Anwesenheit, warum sollte ich also mein Zuhause verlassen wollen?", fragte der Wellensittich skeptisch und neugierig zugleich. "Ach mein kleiner Freund", antwortete der Adler, "ist das nicht alles vergänglich? Ist dies wirklich das Leben wie du es dir vorstellst? Was wirst du tun, wenn dir alles genommen wird? Der Käfig, das Essen, deine Federn? Du musst für dich entscheiden, was wirklich wichtig ist... Kommst du mit mir, wirst du hoch fliegen und vielleicht tief fallen. Der Preis wird dein Käfig sein, den du aufgeben musst. Wenn du aber irgendwann feststellst, dass du trotz allem einen Käfig brauchst, werde ich dir einen neuen Käfig irgendwo, wo es uns gefällt errichten." Der Wellensittich dachte nach... "Ich werde in 7 Tagen wiederkommen. Denke darüber nach und teile mir deine Entscheidung mit", fügte der Adler hinzu. Der Wellensittich nickte und flog nachdenklich zurück in seinen Käfig...
Sieben Tage vergingen. Es war eine verregnete Nacht und die Wolken hingen schwer von der Himmelsdecke herab und verbargen jedes noch so helle Sternenlicht hinter sich. Der Adler flog zu dem Haus des Wellensittichs und lugte durch den Spalt des offenen Fensters. Er sah den Wellensittich in seinem Käfig liegen und neben ihm einen anderen Wellensittich. Ein ungutes Gefühl stieg in ihm auf und er schob sich durch das Fenster und flog zu dem Käfig. Der Wellensittich öffnete seine Augen und erblickte den Adler. Traurig setzte er sich auf und seufzte: "Es tut mir leid mein lieber Adler, aber ich konnte dein Angebot nicht annehmen. Zu schwer würde es mir fallen, hier alles aufzugeben. Ich müsste auf alles zu verzichten, woran ich mich gewöhnt hätte. Außerdem habe ich nun einen netten Partner gefunden. Ich bin mir sicher, dass es diesmal der richtige sein wird." Enttäuscht und traurig ließ der Adler seinen Kopf hängen. Seine ehemals mächtigen Flügel hingen schwach an ihm herunter und er meinte: "Nun gut mein hübscher Vogel. Mögest du dein Glück finden und Erfüllung im Leben erlangen. Und vergiss nicht den Vogel, der dir einst das Leben schenken wollte ..."
Dann schwang der Adler ein letztes Mal unter Beobachtung des Wellensittichs seine Flügel und verschwand im Dunkel der Nacht.

Eingereicht am 05. Februar 2007.
Herzlichen Dank an den Autor.
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