Kurzgeschichten       Kurzgeschichten - Alltag - Alltagsgeschichten - Short Stories

Elviras kleiner Freund – Von Manfred Schröder.

Kindle eBook


eBook epub


Buch

Dez
01
Elviras kleiner Freund
© Manfred Schröder

Als Herbert wieder nach draußen blickte, stand der kleine Junge immer noch gegenüber der Bar. Die Hände in seiner zu großen Jacke vergraben, hüpfte er von einer Stelle zur anderen, als könnte er damit die Kälte vertreiben. Er mochte etwa zehn Jahre alt sein. Vielleicht war er auch jünger. Bei Kindern weiß man es nie so genau. Es war Anfang Dezember und es lag Schnee in der Luft.

Herbert wandte sich an Elvira, die alleine am Tresen saß und sich mit Hilfe eines kleinen Spiegels die Lippen schminkte.

"Siehst du den Jungen da draußen?"

Sie nickte. "Ja, ich sehe." Ihre Stimme klang, als müsse sie auf unnütze Fragen jedes Mal eine Antwort geben.

"Vielleicht wartet er auf jemanden", sagte er.

Elvira schüttelte den Kopf. "Ich glaube nicht. So lange lässt man einen kleinen Jungen nicht bei solchem Wetter alleine im Freien stehn."

Er blickte sie missmutig an. Er ärgerte sich über ihre Allesbesserwisserei. "Und warum steht er da?" Er versuchte wenigstens einmal aus ihren Diskussionen einen Gewinn zu schlagen.

Elvira gähnte. "Weil er nicht weiß, wohin und auf ein Wunder wartet, dass ihn jemand mitnimmt."

Herbert hatte nie etwas von Logik der Frauen gehalten. Obwohl ihn der Junge da draußen nicht sonderlich interessierte, wollte er sich die Sache nicht so leicht aus der Hand nehmen lassen. "Er kann da nicht ewig in dem eisigen Wetter stehen."

"Nein, das kann er nicht", stimmte sie ihm bei. "Hol ihn rein. Er kann sich hier drinnen aufwärmen."

Natürlich war er wieder ins Hintertreffen geraten. Und als hätte er einen Ausweg gefunden, sagte er schnell: "Ich kann ein fremdes Kind nicht so ohne Weiteres hereinholen. Du weißt, wer hier verkehrt. Das gibt nur Probleme. Ich kann die Polizei verständigen. Die kann sich um ihn kümmern."

Elvira steckte den Spiegel in ihre Handtasche zurück. "Die Polizei kannst du immer noch anrufen." Sie wusste, dass sie sich bei Herbert immer durchsetzen würde. "Geh schon. Ich werde ihm etwas zu essen machen. Auch heiße Milch wird ihm guttun." Sie lächelte. "Heißer Kakao ist noch besser."

Herbert versuchte ihren Blick standzuhalten. Doch dann gab er auf, murmelte etwas vor sich hin und trottete nach draußen. Elvira beobachtete, wie er sich zu dem Jungen herunterbückte und auf ihn einsprach. Er versuchte ihn wohl zu überreden, nach Hause zu gehen. Sie standen da, wie Vater und Sohn. Dann gab er auch diesen Kampf auf. Er fasste den Jungen bei der Hand und kam in die Bar zurück.

"Hier." Er schob Elvira den Jungen zu, als würde er eine Last weiterreichen. "Ich bekomme aus ihm nichts heraus. Vielleicht ist er stumm."

Er begab sich wieder hinter die Theke. Die Türe öffnete sich und eine Frau mit vor Kälte geröteten Gesicht trat ein, begleitet von einem Mann.

Sie blickte sich im Raum umher und wandte sich an Herbert: "Der Laden ist ja noch leer. Bring uns zwei Whiskey. Wir setzen uns da in die Ecke."

Sie verzog leicht ihren Mund. "Und keinen billigen Fusel. Der Herr hier ist ein Gentleman." Sie blickte ihren Begleiter an. "Oder?"

Der Mann, ein langes, dürres Wesen mit Pickeln im Gesicht, lächelte verlegen. Die Frau bemerkte Elvira mit dem Kind. "Ist das deiner?" Sie fragte mehr erstaunt, als neugierig.

Elvira überhörte die Frage. Sie legte den Arm um die Schultern des Jungen, lächelte Herbert wie eine Siegerin zu und ging in die Küche.

"Setz dich da auf den Stuhl. Ich mache dir Kakao und etwas zum Essen. Du magst doch Kakao, oder?"

Der Junge lächelte scheu und nickte. Sie beobachtete ihn von der Seite.

Während die Milch warm wurde, belegte sie zwei Brotscheiben mit Käse.

"Wenn es dir zu warm ist, kannst du ruhig deine Mütze abnehmen. Und wie heißt du?"

Der Junge nahm seine Kopfbedeckung ab, sagte aber nichts.

"Na, du kannst es mir ja später sagen."

Sie brachte ihm das Brot und den warmen Kakao.

"So. Jetzt iss und trink erst mal."

Aus der Bar waren jetzt mehrere Stimmen zu vernehmen. Einige von den Mädchen hatten sich wohl einen Freier aufgegabelt. Nach einigen Drinks würden sie mit ihnen nach oben in den Stundenzimmern verschwinden. Als Herbert eintrat, saß Elvira bei dem Jungen am Tisch, der über irgendetwas lachte.

"Was ist mit ihm?"

Sie streichelte sein dunkel gelocktes Haar. "Alles ist in Ordnung."

Herbert nickte. "Da ist ein Verehrer und fragt nach dir." Seine Stimme klang missmutig. Er hasste es, für andere Leute den Laufburschen abzugeben.

Elvira wandte ihren Kopf. "Sag, dass ich nicht hier bin."

Herbert runzelte die Stirn. "Er weiß, dass du hier bist. Ich hab es ihm gesagt."

Elvira lächelte. "Du siehst doch, dass ich schon einen Gast habe. Sag es ihm."

Herbert wollte etwas erwidern. Doch dann schluckte er seinen Groll hinunter und ging in die Bar zurück. Er war weniger wütend auf Elvira als auf sich selbst. Weil er bei ihr immer nachgeben würde.

Kurz darauf kam sie mit dem Jungen aus der Küche. Die anderen Mädchen blickten verstohlen zu ihr herüber, schwiegen aber.

"Wir sehen uns morgen", sagte sie zu Herbert. Und zu ihrem kleinen Begleiter gewandt: "Komm, Tommy."

Als sie nach draußen traten, war die Erde weiß. Es hatte geschneit.

***   ***
© Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Vervielfältigungen jeglicher Art, auch auszugsweise, nur mit Zustimmung der Rechteinhaber.
»»»   »»»   »»»   »»»   »»»

eBook Roman Patricia Koelle: Die Nacht ist ein Klavier Unser eBook-Tipp


Patricia Koelle
Die Nacht ist ein Klavier

Amazon Kindle Edition
ASIN B008LV2HIS

bei Amazon herunterladen

Die zierliche Lucie mit den leuchtenden Augen ist schweigsam und verschlossen. Aber es gibt einen Schlüssel zu ihrer Seele …
Der Student Nick hat nicht nur seine Arbeit verloren. Seine Freundin Isa hat ihn vor die Tür gesetzt. Zum Glück findet er bald einen neuen Job. Gleich am ersten Tag lernt er Lucie kennen, die ihn von Anfang an fasziniert …

© Dr. Ronald Henss Verlag