Kurzgeschichte - Erzählung - short story
Kurzgeschichte - Alltag - Alltagsgeschichte

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Die Zeiten sind weiblich

© Antonia Stahn

Vor langer, langer Zeit, Lichtjahre entfernt vom blauen Planeten, machten sich drei Damen auf den Weg. Jede von ihnen kam aus einer anderen Richtung des Universums. Ihr Ziel war der Planet Pluto. Dort wollten sie zusammenkommen, um eine wichtige Frage zu aller Zufriedenheit zu klären.

Die Dame namens Zukunft war zu früh. Ungeduldig wartete sie auf ihre Schwestern.

"Die eine wird wieder mal nicht loslassen und die andere sich nicht aus dem Gestern lösen können", sagte sie sich. Hohn und Spott waren geboren. Das scherte die Dame nicht. Bis zum Eintreffen der Schwestern vertrieb sie sich die Zeit mit vorauseilenden Gedanken und spielte auf einer Gitarre Zukunftsmusik.

"Da seid ihr ja endlich!", rief sie und eilte ihren Schwestern entgegen. Diese waren ein wenig müde. Erschöpft ließen sie sich auf einer Bank aus Stein niedersinken.

"Aber, aber, meine Lieben! Wer wird denn hier schlapp machen!", lächelte Frau Zukunft und zog mokant eine Braue hoch. Die Arroganz gesellte sich zu Spott und Hohn.

"Wir stehen vor einer bedeutenden Aufgabe! Habt ihr das vergessen? Ausruhen könnt ihr später. Seht! Die Zeit will uns davonlaufen. Das können wir nicht zulassen. Es ist doch unsere Aufgabe, dem neuen Planeten die Zeit zu bringen. Also, auf meine Damen! Sobald die Frage aller Fragen geklärt ist ...", Zukunft wies auf den blauen Planeten unter sich, "werden wir diese neue Welt in Besitz nehmen."

"Ist es denn so wichtig, wer von uns von größerer Bedeutung ist, Zukunft?", wagte Schwester Gegenwart zu fragen.

Sie warf ihrer Schwester Vergangenheit einen kurzen, fragenden Blick zu. Die Vergangenheit lächelte leicht und nickte huldvoll.

Mutig begegnete Gegenwart der Zukunft lauernden Blick und sagte leise, dabei röteten sich ihre zarten Wangen: "Ja, also. Vergangenheit und ich meinen, dass keiner von uns wichtiger als der andere ist. Nur zusammen können wir dem blauen Planeten dienen. Außerdem glauben wir, die beiden Wesen dort unten leben schon in einer Zeit."

"Pah!", schnaubte die Zukunft und die Verachtung fand ihren Platz.

"Die da unten leben ausschließlich im geschenkten Sein. ER, unser Auftraggeber, hat ihnen ein Paradies geschenkt. Ein Paradies auf Zeit. Zeit, ein unbekanntes Wort für die da unten, die ER Menschen nennt. Doch bald werden diese Menschen ihr glückliches Sein verlassen. Sie wissen es nur noch nicht. Und dann brauchen sie uns! Deshalb ist es unerlässlich festzustellen, wer von uns für sie besonders wichtig ist! Von mir aus brauchen wir darüber nicht zu diskutieren. Ich weiß es schon!" Flink schloss sich die Eitelkeit den Untugenden an.

"Moment! So schnell geht das nicht", empörten sich die Schwestern.

"Gegenwart und ich denken, für die zwei Wesen dieser neuen Welt lohnt der Arbeit Mühe kaum."

Zukunft schüttelte sich, stampfte mit dem Fuß auf und rief zornig: "Da sieht man mal wieder was Kurzsichtigkeit anrichten kann! Ihr zwei seht nicht, was ich sehe! Natürlich nicht! Euch fehlt die Weitsicht! Die beiden da unten sind doch nur ein Anfang. Eines Tages werden Milliarden Menschen diesen Planeten bevölkern! Unser Einsatz ist dann von großer Bedeutung für sie! Versteht ihr nicht? Hätte ich mir denken können. Euch hat es ja seit eh und je an Fantasie oder Zukunftsvisionen gemangelt!"

Boshaftigkeit und Hochmut freuten sich ihres Daseins.

Zukunft strafte ihre Schwestern mit bösem Blick, ließ sich dann aber doch zu einer Erklärung herab: "ER hat die da unten erschaffen. Körper und Geist aus einem Guss. Zugegeben, mehr Körper als Geist. Letzterer wird unter anderem auch über einen freien Willen verfügen. Ich weiß, dass viele Menschen diese Gabe missachten werden. Das liegt nur bedingt am Unverständnis. Der Homo sapiens wird zur Bequemlichkeit, wenn nicht gar zur Faulheit neigen. Denken, geschweige denn Vordenken wird bei manchen Menschen nicht oberste Priorität sein. Etliche werden die Zeit an sich vorüberziehen und Willensentscheidungen anderen überlassen. Ja, ich wage zu behaupten, dass sie sich sogar bereitwillig einer Führung anvertrauen…"

"Und was ist falsch daran, Zukunft?", unterbrach Schwester Gegenwart ärgerlich.

"Sich jemandem unterordnen zu können, setzt doch Entscheidungsfähigkeit voraus. Also werden die Menschen SEINE Gabe annehmen und auch nutzen! Wenn nicht, hätte ER einen Fehler gemacht. Unvorstellbar! Du glaubst, alles voraussehen zu können, Zukunft.

Vergangenheit und ich denken, deine Eitelkeit hat dir den Blick verstellt!"

"Mutig, mutig, Schwester! Der hast du es aber gegeben", flüsterte Vergangenheit und schenkte der Gegenwart ein Lächeln.

"Schon. Aber Zukunft's Einstellung wird sich dadurch nicht ändern. Sie hält sich nach wie vor für die Größte und Wichtigste zum Wohle der Menschen. Schau, wie weit sie sich von uns entfernt! Sie strebt der neuen Welt zu. Weshalb tut sie das? Ohne uns ist sie dort ein Nichts!"

Nachdenklich schwieg die Vergangenheit. Nach wenigen Augenblicken sagte sie gutmütig: "Sie weiß es! Keine Sorge! Sie schmollt nur ein wenig. Dein Einwand hat ihr nicht gefallen, Schwester."

Lange hielt die Zukunft es in ihrem Schmollwinkel nicht aus. Mit tänzelnden Schritten kam sie zurück. Ihr farbenfrohes Seidenkleid glänzte in der Sonne, schien beinahe Funken zu sprühen. Auf den Gedanken, ihr schlechtes Benehmen zu entschuldigen, kam die stolze Frau nicht. Hoch aufgerichtet stand sie vor den anderen und sprach zunächst mit unerwartet sanfter Stimme: "Ihr habt Recht. Nur gemeinsam sind wir stark. Nur gemeinsam können wir mit unserer Arbeit beginnen. Sehe ich ein. Doch ihr zwei habt scheinbar …", plötzlich klang Zukunft's Stimme überhaupt nicht mehr sanft, "das Kleingedruckte nicht gelesen. Ich schon! Im letzten Passus SEINES Vertrags mit uns - zugegeben tatsächlich sehr klein gedruckt - steht ein alles entscheidender Satz. So etwas kann und darf man einfach nicht überlesen!"

Kopfschüttelnd schaute Zukunft ihre Schwestern an, winkte ärgerlich ab, als diese antworten wollten.

"Bloß keine fadenscheinige Entschuldigung. Die bringt uns nicht weiter! Hört lieber zu! Also, sobald wir unsere Frage geklärt haben, wird der neue Planet unsere Heimat sein. Sobald kann von mir aus sofort sein. Meine Meinung kennt ihr. Stimmt mir zu und wir können mit unserer Arbeit beginnen!"

Empört riss Gegenwart den Vertrag an sich und sagte - beinahe schrill klangen die Worte: "Hier steht noch etwas. Das wolltest du uns wohl vorenthalten, Zukunft! Hier steht schwarz auf weiß: Selbst bei Uneinigkeit ist die Arbeit aufzunehmen. Dann werden die Menschen über unsere jeweilige Wichtigkeit entscheiden. Ach, Zukunft! Lass uns einander einfach akzeptieren. Drei Meinungen sind schwer auf einen Nenner zu bringen. Weshalb nur bist du so sehr von dir überzeugt? Nur weil du dich anmalst wie ein Farbtopf und ein herrliches buntes Kleid, gewoben aus Illusionen, trägst? Ich denke, Menschen wollen nicht im Morgen oder Übermorgen leben. Dieses Streben erfordert zu viel Energie! Und wie soll man sein Glück in der Zukunft fühlen können? Die Gegenwart ist Leben! Nichts sonst, denn sie ist die einzige Wirklichkeit. Alles, was dort geschieht ist fühlbar! Mit mir leben die Menschen im Hier und Jetzt!"

"Welch ein Unsinn! Schau dich an, Schwester! In diesem grauen Alltagsgewand mit wenigen Farbtupfern begeisterst du die Menschen auf keinen Fall! Und du …", boshaft herrschte die Zukunft die Vergangenheit an. "Und du in deinem dünnen pastellfarbenen Kleidchen wirst überhaupt niemanden von deiner Wichtigkeit überzeugen! Wer will sich denn im Gestern aufhalten?"

Das war zu viel! Bisher hatte sich die Vergangenheit eher durch Schweigen an der Unterhaltung beteiligt.

"Geduld hat Grenzen", sagte sie sich und baute sich vor ihrer Schwester auf. "Hast du es vergessen, Zukunft? Der Ton macht die Musik! Ich wollte nur Sachlichkeit. Damit kannst du anscheinend nichts anfangen. Also muss ich mich wohl oder übel deinem Genre anpassen. Beleidigende Angriffe sind meine Sache nicht. Du willst es nicht anders, Zukunft. Mein Kleid gefällt dir nicht? Deines hat mir noch nie gefallen! Zuviel Flitter und Tand! So ein Modell werden die Menschen später 'des Kaisers neue Kleider' nennen. Und jeder weiß, weshalb. Außerdem, was soll bei all den Farben der schwarze Saum. Er passt nicht zu diesem Kleid. Ach, für die Zweifler und Ängstlichen? Du bleibst wahrhaftig keine Antwort schuldig. Doch jetzt sage ich dir etwas, was du einsehen musst und ganz sicher nicht wechseln kannst: Dich und …", Vergangenheit wirft der Gegenwart einen um Verzeihung bittenden Blick zu, "und auch dich, liebe Gegenwart, gibt es nur, weil es mich gibt. Ihr seid durch mich entstanden. Denn ich war, bin und werde. Wir alle leben im ständigen Wechsel. Wir sind eins und doch drei! Deshalb ist es völlig unwichtig, einen von uns über die anderen zu stellen."

Vergangenheit erwartete von den Schwestern keine Antwort. Sie wandte sich ab und betrachtete eingehend den blauen Planeten. Ruhig hob sie ihre Hand und winkte.

Neugierig stellten die Schwestern sich neben sie.

"Wem winkst du zu, Vergangenheit?", fragte Zukunft. Mit einem Male klang ihre Stimme sehr sanft. Und die Schwestern glaubten, einen winzigen Hauch Unterwürfigkeit herauszuhören.

"Ich winke zurück. ER dort unten hat mir ein Zeichen gegeben. ER will nicht länger auf uns warten. Es wird Zeit für die Zeit auf dem neuen Planeten. Folgt mir!"

So machten die drei Schwestern sich auf, die Erde in Besitz zu nehmen, ihr die Zeit zu schenken. Von diesem Augenblick an zählten die Menschen die Jahre. Nicht so die Schwestern. Sie waren immer da. Wiedergesehen haben sie sich bis zum heutigen Tag nicht. Zumindest hat man nicht davon gehört! Über ein erneutes Treffen der drei hätten doch alle Medien sofort berichtet!

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