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Eingereicht am
05. Juni 2007

Das Backsteinhaus

© Michael H. Schmatz

Der kalte Wind, welcher schon seit Tagen das bunte Herbstlaub durch die Gegend stob, blies Isabel den Regen kräftig ins Gesicht. Endlich hatte sie den Stadtteil erreicht, in welchem Hochhaus um Hochhaus in ihrer Anonymität zu wetteifern schienen. Mit einem vorsichtigen Blick zurück vergewisserte sie sich noch einmal der menschenleeren Straße um dann den Weg zu dem, in spießbürgerlicher Großstadtmanier organisierten Müllsammelplatz einzuschlagen. Hier reihten sich blaue Altpapier-, gelbe Recycling- und schwarze Restmüllcontainer hierarchisch, wie eine angetretene Kompanie der Sauberkeit zum Morgenappell auf. Leicht war das Trommeln der Regentropfen auf den Deckeln der Container zu vernehmen. Isabel öffnete den gähnenden Schlund eines schwarzen Containers, holte eben zu einer schwungvollen Bewegung aus, als ein durchdringendes, hämmerndes "Nein" in ihrem Kopf sie zu einem schlagartigen Abbruch der Bewegung zwang.

"Nein - nicht so!"

Hastig eilte sie zu dem nächsten der schwach beleuchteten Hochhauseingänge und postierte unter dem kleinen Vordach, wohlbehütet unter den unzähligen grinsenden gelben Briefkastenmäulern, ihre Sporttasche samt unerwünschten Inhalts. Dann begann sie zu laufen.

***

Fast konnte Isabel ein Gefühl von Erleichterung verspüren, als sich das alte, rote Backsteingebäude, welches in mitten des ehemaligen Bahngeländes beinahe einen Hauch von Gemütlichkeit ausstrahlte, vor ihr auftat. Seit dreizehn Wochen - seit ihrem überhasteten Davonlaufen von Zuhause - bot ihr dieses Haus Schutz vor Wind und Wetter, ja Sicherheit, war ihr vertraut und Heimat geworden. Der Sommer hier war angenehm zu verbringen gewesen und auch der Herbst war auszuhalten, über den unmittelbar bevorstehenden Winter aber hatte Isabel noch nicht den Hauch eines Gedanken verschwendet. Sie schlüpfte durch das kleine Loch im Zaun, überquerte den verrosteten, wohl schon seit Jahren nicht mehr benutzten Schienenstrang und stieg die Stufen zum Keller hinab, der nur durch einen kleinen Nebeneingang zu erreichen war. Die Tür, irgendwann von irgendwem durch eine einfache Sperrholzplatte ersetzt, öffnete sich begleitend mit dem quietschenden Geräusch eingerosteter Scharniere. Hier, in der hinteren Ecke des etwas feuchten doch windgeschützten Raums, lag sie vor noch wenigen Stunden auf der alten, schmuddeligen Matratze. Allein - auf sich gestellt - mit entkleideten Unterleib. - Wie ein teilnahmsloser Zuschauer sah sie sich jetzt liegen - trotz der Kälte mit Schweißtropfen auf der Stirn.

***

Ihre Finger krallten sich in immer schneller werdenden Zyklen fest in die weiche Decke mit dem Elefantenmotiv, dass sie immer und immer wieder an die glücklichen Tage ihrer Kindheit erinnerte. Damals - als ihr Leben noch behütet und voll Lebensfreude gewesen war - als Papa noch Zuhause wohnte und Mama und Papa sich noch lieb hatten. Der wenig behaarte, kleine Kopf, der sich mehr und mehr zwischen ihren Schenkeln hervor schob, war bei der Dunkelheit des Kellers kaum auszumachen. Die Silhouette ihres Körpers aber sah sie in immer kürzer werdenden Abständen aufbäumen. Schmerz - körperlichen Schmerz, wie ihn ein jeder von uns kennt - konnte Isabel schon lange nicht mehr empfinden; dieser war, durch das in den letzten vier Jahren Erlebte, von ihrer doch noch so jungen Psyche und Seele neu beschrieben und in ihrem Gehirn fest und unabdingbar verankert worden. Noch einmal verkrampfte sich ihr mädchenhafter Körper unter einer gewaltigen Wehe, ehe er ein kleines, schlüpfrig-feuchtes Ding mit einem flutschenden Geräusch auf die Matratze spuckte. Vorbei war es mit der Ruhe des roten Backsteinhauses. Vorüber war die Stille. Anklagendes Kindergeschrei dröhnte in ihren Ohren. Krakeelte in ihrem Kopf wie das kreischende Sägeblatt einer Kreissäge, das sich Zentimeter um Zentimeter in viel zu hartes Holz hineinfrisst. Mit einem Griff zu der verrosteten Schere, die sie irgendwann im Hof des Lagerhauses gefunden hatte, gedachte Isabel für einen Moment das kaum zu ertragende Gebrüll abzustellen, sank jedoch völlig erschöpft und nach Luft ringend zurück auf die Matratze. Ewige Momente des Nach-Luft-Ringens folgten. Ewige Moment des Sich-nicht-bewegen-Könnens. Dann, nochmals alle Kräfte mobilisierend, richtete sie sich auf, griff erneut zur Schere, durchtrennte die noch einzige, zwischen ihr und dem Säugling bestehende Bindung durch einen kratzenden wie knirschenden Schnitt. Mit letzten Kräften verknotete sie die beiden Nabelschnurenden mit einem Stück Bindfaden und sank daraufhin vollkommen entkräftet in sich zusammen. Draußen pfiff der Wind jetzt sein unbarmherziges Lied, begleitend zum anhaltenden Kindergeschrei und da die immense körperliche Höchstleistung vorüber war, begann Isabel von Minute zu Minute mehr zu frösteln. Schließlich zog sie, eher aus einem menschlichen Reflex und mitnichten aus einem Gefühl von Mutterliebe, das kleine, schreiende Etwas an ihren Körper und kuschelte sich so unter die flauschig weiche Elefantendecke. Die mollige Wärme, die sich darunter langsam aber stetig auszubreiten begann, ließ dann endlich auch das Geschrei des Neugeborenen verstummen. Nur der Wind pfiff weiterhin sein kaltes Lied.

Im Halbschlaf sah Isabel deutlich ihre besorgte und leidende Mutter vor sich. Aufgelöst - weinerlich - so hatte sie ihre Mutter nach dem Weggang ihres Vaters häufig erlebt. Doch jetzt nahm Walter, ihr neuer Lebensgefährte, sie zärtlich tröstend in die Arme und setzte seine einfühlsame Leidensmiene auf. "Sie wird wieder kommen - ganz sicher!" Jene Miene, die sich so häufig binnen Sekunden in die Fratze des Monsters verwandelt hatte, mit der er, sobald nur Isabel und er Zuhause waren, über sie hergefallen war.

"Bitte Isabel, vermassle das nicht", hatte ihre Mutter einmal zu ihr gesagt, als sie mitbekommen hatte, dass wohl irgendeine Art Spannung zwischen Walter und Isabel bestand.

- "Vermassle das nicht!" -

Natürlich - für ihre Mutter war alles besser geworden. War es doch Walter, der sie aus den Fesseln der Armut und der Einsamkeit einer Alleinerziehenden befreit und in die gehobenen Kreise seiner geschätzten Rechtsanwaltskollegen eingeführt hatte. Der sie wieder spüren lies, dass sie ein Mensch war und nicht nur eine Mutter. Der nicht nur mit seinem Geld so manchen unerfüllten Wunsch erfüllte. Vielleicht war es Isabels Schuld, dass er ihr irgendwann und ohne Vorwarnung in den Slip gegriffen hatte. Vielleicht hatte sie ihn einfach zu schnell als ihren neuen Vater akzeptiert, sich zu schnell vor ihm ohne Hintergedanken das eine oder andere Mal im Nachthemd oder in Unterwäsche gezeigt. Vielleicht waren es diese kleinen Gegebenheiten, die wohl auch jeden anderen Mann gereizt hätten.

Minuten oder Stunden später, sie fühlte sich ein wenig ausgeruhter, stand Isabel behutsam auf, zog sich ihren Slip und die noch immer vom Blasensprung feuchte Jogginghose an, hüllte das kleine Nichts - den Bastard - der noch immer seelenruhig zu schlafen schien, in die Decke und verpackte ihn, zu weiteren Gefühlen nicht fähig, in ihrer Sporttasche. Dann lief sie los.

***

Isabel betrat nun, geschüttelt von der nochmaligen Erinnerung, dem noch einmal Durchlebten, den Raum ihrer ungewollten Niederkunft, fiel erschöpft auf die Matratze und sofort in einen komaähnlichen Schlaf.

Sie erwachte, der Wind pfiff noch immer sein schauriges Lied, erst durch die unbarmherzige Kälte der stürmischen Nacht. Bereute längst die übertriebe und nicht bedachte Fürsorge hinsichtlich ihrer Elefantendecke und versuchte erfolglos, durch heftiges Reiben ihrer Arme, ihren zitternden Körper aufzuwärmen. Kalt war es geworden das rote Backsteinhaus. Nichts war mehr übrig von der ausstrahlenden Wärme der roten Backsteine. Entmutigt verließ sie wenig später schlotternd den Keller und betrat das Gebäude diesmal über den Haupteingang. Brutal schnitt der kalte Herbst hier durch die zerbrochenen Fensterscheiben hinein. Sie stieg die Treppe in den ersten Stock hinauf, ergriff das dicke Seil, welches sie in den Sommermonaten als Wäscheleine benutzt hatte, folgte der Stiege ins Dachgeschoß, knüpfte sorgfältig eine Schlinge und fühlte beim Anblick der hölzernen Dachbalken für einen kurzen Moment ein letztes Mal die Wärme und Geborgenheit eines trauten Zuhauses.




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