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Eingereicht am
01. Juni 2007

Tagesgespräch

© Klaus Herrgen

Es war nicht leicht für den kleinen Mann, mit seinem Fahrrad zwischen den geparkten Autos hindurch zu kommen. Damals, als die Häuser errichtet wurden, die so herausgeputzt an seiner Straße standen, hatte man an Autos nicht gedacht, und später durften die Vorgärten nicht zu Parkplätzen umgewandelt werden, das verbot der Denkmalschutz. Beliebt waren diese Häuser von Anfang an. Sie waren schön, gut gebaut und großzügig, aber nicht billig. Manch einer, der vorbei spazierte, betrachtete sie mit begehrlichem Blick und beneidete die, die hier ein- und ausgingen. Doch hatte man in diesen Häusern auch dunkle Stunden erlebt. Der kleine Mann konnte das nicht vergessen. Zu jener Zeit waren die Mauern rußgeschwärzt - gezeichnet vom großen Brand, der so viele Häuser um sie herum in Schutt und Asche sinken ließ. Die Hausgemeinschaften rückten während banger Stunden im Keller enger zusammen. Für die, die davon gekommen waren und deren Heim das große Inferno überstanden hatte, ging es schon bald so überraschend aufwärts, dass man von einem Wunder sprach. Antennen wuchsen aus den Dächern, und Nachbarn saßen vor den ersten Fernsehgeräten beisammen. Traumpaare auf dem Eis und spannende Straßenfeger halfen, die Schreckensbilder kaum vergangener Tage zu verdrängen und sich der neuen Zeit zuzuwenden. Bald hatte manches alte Haus das Nachsehen gegenüber eilig errichteten modernen Zweckbauten, denen kein Zierrat individuelle Züge verlieh. Auch lockte der Traum vom eigenen Häuschen im Grünen so manchen Nachbarn des kleinen Mannes aus seiner vertrauten Umgebung. Wer geblieben war, wurde von denen verdrängt, die den Charme der alten Häuser wiederentdeckten. Was gestern kitschig war, war heute chic, was eben als erstrebenswert angesehen wurde, galt nun als spießig. Andere ließ die Furcht vor dem Verlust der letzten Busverbindung in die Stadt zurückkehren. Mit dem Verschwinden von Telefonzellen und Briefkästen hatte man sich abgefunden, doch suchte man wieder die Nähe zu den Theatern und Cafés der Stadt, genoss den abendlichen Schaufensterbummel durch die Fußgängerzone. Auch war es beruhigend, zahlreiche Arztpraxen und Apotheken in der Nähe zu wissen. Nicht wenige traten die Landflucht an. Gut verdienend oder gut geschieden konnte man sich die Stadtluft leisten, und so wichen in den schönen alten Häusern die Mieter den neuen Wohnungseigentümern, und an die Stelle der Hausgemeinschaft trat die Eigentümergemeinschaft. Bei den jährlich anstehenden Versammlungen durfte man sich vertreten lassen. Man kannte sich kaum und sah sich wenig. Allein im Sommer, wenn die neuen Bewohner auf ihren üppig begrünten Balkonen saßen, konnten sich die Nachbarn ein wenig beäugen. Dabei fiel er auf, der unscheinbare kleine Mann, der den Exodus der Alteingesessenen überdauert hatte. Er lebte allein und hatte offensichtlich kein Interesse daran, es seinen Nachbarn gleichzutun. Sein Balkon blieb unbepflanzt. Das einzige Grün darauf war ein Eimer, in dem er seine Küchenabfälle sammelte, die er regelmäßig mit dem Fahrrad zu seinem Garten brachte. Er schien sehr pedantisch, denn nichts ging am grünen Eimer vorbei, was kompostierbar war. Dass er bei hellem Tageslicht am besten sehen konnte, war vielleicht der Grund dafür, dass er unter den verwunderten, auch angewiderten Blicken der Nachbarn auf dem Balkon seine Nägel schnitt und dem grünen Eimer zuführte. Besonders mühte er sich mit seinen dicken Fußnägeln, die er mit Schere und Zange bearbeitete. Den Ertrag dieser Mühe brachte er dann zusammen mit Kartoffelschalen und ähnlichen Wertstoffen in einem Einkaufsbeutel zum Garten, aus dem er abends mit Zucchini und Salat zurückkehrte. "Der ernährt sich selbst", spottete eine Dame, die von ihrem Balkon auf den kleinen Mann herabsah. "Das ist auch eine Form von Kannibalismus", lachte eine Nachbarin, der der Kreislauf von Kompost und Ertrag nicht verborgen geblieben war. Im Kiosk an der Ecke, wo einst ein Kolonialwarenladen war und man sich nun mit Zeitschriften und Zigaretten versorgte, witzelte man über den kleinen Gärtner; doch einmal wurde er zum Tagesgespräch in seiner Straße. Der kleine Mann war in die Zeitung gekommen - nicht in die Schlagzeilen, aber immerhin stand im Lokalteil zu lesen, was ihm widerfahren war. Der kleine Mann war Opfer eines Straßenraubs geworden. Auf dem Weg zum Garten hatte ihm ein junger Mensch im Vorbeifahren den Einkaufsbeutel aus dem Fahrradkorb gerissen und war damit schnell entwischt. Was einem doch alles passieren konnte! Die Nachbarschaft war erschrocken. War man denn selbst in dieser guten Gegend am helllichten Tag nicht mehr sicher? Der kleine Mann beklagte sich nicht. Diesen Verlust konnte er verschmerzen. Küchenabfälle gibt es alle Tage, und Nägel wachsen wieder nach. Er hatte hier schon anderes erlebt. Was wussten denn die neuen Reichen davon? Was wussten die von dem Kolonialwarenhändler, dem einst eine johlende Horde die Schaufenster eingeworfen hatte, nachdem schon Tage zuvor seine Tür mit Parolen beschmiert worden war? Hatte dieses Verhalten in der guten Gegend seinerzeit Aufsehen erregt, oder hatte man weggeschaut? Wer hatte sich damals lauthals empört? Wer von den Neuen wusste denn, dass unter frischem Fassadenanstrich Hinweise auf Luftschutzkeller verborgen waren, Pfeile, die einen Weg wiesen, den mancher nicht mehr zurückgehen konnte? Was wussten die Neuen, die ihn auf den Zeitungsbericht ansprachen, über die Geschichte dieser Straße? Was hatten sie zu beklagen? Wie leicht waren sie doch zu erschrecken und wie wenig reichte aus, um es bis in die Nachrichten zu bringen!




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