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Eingereicht am
21. April 2007

Herr Walther war ...

© Michael H. Schmatz

Der Müllsammelplatz im Hinterhof entbot mir seinen Gruß mit dem vertrauten wie penetranten Gestank ziviler Konsumrückstände und einem vollkommen überfüllten, mir höhnisch mit halbgeöffneten Maul entgegengrinsenden Altpapiercontainer. Endlich hatte ich mich überwunden - war meinen Weg, mit einem alten Pizzakarton und einer überwiegend mit leeren Bierdosen gefüllten Mülltüte, die unabdingbar ihr Aroma soeben auch in unserem Treppenhaus verbreitet hatte, über die endlos wirkenden Stufen aus der zweiten Etage zum Erdgeschoß hinuntergegangen. Angeekelt tastete mein Blick zu den Hinterhöfen der Nachbarhäuser hinüber, die die gleiche Unappetitlichkeit, die gleiche Normalität offenbarten. Der penetrante Gestank formte in mir unaufhaltsam das Bild einer riesigen Käseglocke, die, nun einmal abgenommen, den "Duft" ihres Inneren gleichmäßig träge, jedoch mit aller Derb- und Heftigkeit, gleich einer langsam in sich rotierende Kugel, verbreitet. Die Papiercontainer erwiesen sich hier wie dort zu klein um all die Kartons aufnehmen zu können, so dass sich diese en masse nicht in, sondern neben, hinter oder vor den Containern ihrer endgültigen Entsorgung entgegenstapelten. Und mochte sich dieser Anblick für die Bewohner der Nachbarhäuser auch längst schon zur Normalität entwickelt haben, so war doch hinter unserem Haus ein derartiger Papierwust bis vor zwölf Tagen tatsächlich nie vorgekommen. Bis vor zwölf Tagen - seither ist so vieles anders.

Es stinkt hier so lange ich mich erinnern kann, doch seit neuestem - und dies ist das Eigentliche, was mir dieser Tage mehr und mehr den Atem raubt, mischt sich in diesen vertrauten Mief der süßlichherbe Geruch von Leichen - Menschenleichen. Ich gebe zu, niemals in meinem Leben die Ausdünstung von Leichen gerochen zu haben und dennoch bin ich mir so sicher sie nun zu riechen und in aller Klarheit wahrzunehmen, was einerseits natürlich absurd ist und zudem bei dem dominierenden Gestank der Restmülltonne niemals möglich wäre.

Vor zwölf Tagen also kam mir, als ich eben in unsere Straße einbog, aus unserem Innenhof ein langer schwarzer Leichenwagen entgegen. Kunde - und ich bin mir nicht sicher, ob dieser Begriff von Bestattungsunternehmen wirklich in diesem Kontext verwendet wird, war Herr Walther.

Herr Walther - jener gut gelaunt wirkende ältere Herr, der in der Wohnung über der meinen lebt - lebte, hin und wieder an schweren Asthma-Attacken litt und, wenn man ihn mal zu Gesicht bekam, immer mit Stolz und Freude mit dem Zerschneiden und Entsorgen des Papiermülls hinter unserem Haus beschäftigt schien. Jenem Herrn Walther, der auf der Pinnwand neben unserer Eingangstür als Hausvertrauensperson erwähnt war und demnach bei kleineren Mängeln wie kaputten Glühbirnen im Treppenhaus oder ähnlichem, direkt - also quasi von Mensch zu Mensch - kontaktiert werden konnte, ohne das gleich die Hausverwaltung belästigt werden musste. Gemacht - ich mein kontaktiert - hat ihn natürlich nie jemand, denn in einer Wohngegend wie der unseren ist es den Leuten so ziemlich egal, wie sich das Treppenhaus oder sonstige der so genannten Hausgemeinschaft dienenden Örtlichkeiten präsentieren. Die Wohnungen hier sind hellhörig und billig und Herrn Walther konnte ich immer dann hören, wenn es in meiner Wohnung absolut still war, was meist nachts der Fall ist, wenn ich alleine bin und nicht einschlafen kann oder wenn ich nicht alleine bin und mich die Frage quält, wie ich die fremde Frau, mit der ich es eben getrieben habe, halbwegs charmant wieder aus meinem Bett und meiner Wohnung bekomme. Oft waren dann seine schlürfenden Schritte zu vernehmen und immer dann habe ich mich gefragt, was dieser Herr Walther wohl soviel in seiner Wohnung herumzulaufen hat. Manchmal, wenn auch selten hörte ich auch das Stimmengewirr aus seinem Fernseher und andermal das Gerassel und Gerumpel seiner Lungen, welches dann immer von länger anhaltenden Hustenanfällen begleitet war. Hier, in unserem Haus, kennt man sich nicht, ist man ungenannt und frei, und bekannt war mir Herr Walther nur, weil er eben zum einen als Hausvertrauensperson betitelt war und er zum anderen das einzige Namensschild besaß, das ich ohne Probleme richtig aussprechen und vorwärts wie rückwärts buchstabieren konnte. Niemals hatte ich etwas persönlich mit ihm zu tun, mir aber immer wenn ich ihn sah gewünscht, im Alter mit meiner dann vorhandenen Zeit besseres anfangen zu können, als den Papiermüll meiner lieben Mitmenschen zu zerkleinern und in den dafür vorgesehenen Container zu zwängen.

Natürlich - meine Sichtweise hat sich seit Herrn Walthers Tod verändert. Herr Walther war - wie man jetzt deutlich sieht - wichtig, hatte eine Aufgabe, hat Spuren in seiner Welt hinterlassen. Seit dem Tage, als er beim Ausführen seiner eben geschilderten Tätigkeit verstarb, denke ich oft darüber nach, was eigentlich meine Aufgabe ist - welche Spuren ich hinterlassen werde. Seit diesem Tage verfluche ich die grauenhafte Stille meiner Wohnung, wenn ich nachts alleine bin und nicht einschlafen kann oder ich nicht alleine bin und mich die Frage quält, wie ich die fremde Frau, mit der ich es eben getrieben habe, halbwegs charmant wieder aus meinem Bett und meiner Wohnung bekomme.

Ich ließ die Tüte in die Restmülltonne gleiten, zerkleinerte meinen Karton auf ein passendes Format, presste ihn mit aller Kraft in den Papiercontainer und wollte gerade gehen, als mir seitlich hinter der Tonne etwas Metallenes entgegenschimmerte. Es handelte sich um ein altes, aufgeklapptes Taschenmesser mit Kirschholzgriff, dessen Schaft mit einer kunstvollen Handschrift graviert worden war:

In ewiger Liebe
Deine Renate

27.April 1951

Ich klappte das Messer zusammen und steckte es berührt wie traurig in die warm und weich gefütterte Innentasche meines Mantels.




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