Unser Buchtipp
Karin Reddemann: Gottes kalte Gabe Dr. Ronald Henss Verlag ISBN 3-9809336-3-6
kleine mysteriöse Welten, in denen es sowohl gruselig und unheimlich zugeht als auch ironischwitzig und ein wenig erotisch. Und fast immer raffiniert überraschend.
Westdeutsche Zeitung

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Eingereicht am
11. April 2007

Strandkur

© Onivido Kurt

Wie dichter Nebel, getrieben von einer sanften Brise, wich der Schlaf zäh aus meinem Bewusstsein. Ich sass in einen gepolsterten Sitz geschnallt. Das eintönige Fauchen in meinen Ohren kam von einer Flugzeugturbine.

Ich löste den Sicherheitsgurt, räckelte mich so gut es ging und sann darüber nach wann und wo ich einen Flieger bestiegen hatte. Im Moment konnte ich mich nicht daran erinnern.

Hinter der Blende, die das Fenster bedeckte, strahlte die Sonne, helles Blau oben und unten. Offensichtlich flogen wir über einen Ozean, aber wohin.

Stirnrunzelnd mühte ich mich herauszufinden wo ich an Bord gestiegen war. Schliesslich musste ich mir eingestehen, dass ich das einfach nicht mehr wusste, weniger noch wohin der Flug ging. Schon wollte ich meinen feisten Sitznachbarn danach fragen, hielt mich jedoch dann doch zurück. Der Mann müsste mich ja für geistesgestört halten.

Ich suchte nach dem Boarding Pass und fand ihn in der Brusttasche meines Hemds.

Amsterdam - Curaçao. Was sollte ich in Curaçao? Ja, wie und wann war ich eigentlich nach Amsterdam gekommen? Wohnte ich dort? Wie war doch gleich wieder mein Name? Nicht eimal das kam mir in den Sinn.

Ungläubig starrte ich auf die Rueckenlehe des Sitzes vor mir.

Amnesie! Quatsch, das war doch nur ein kassenwirksames Thema für Actionfilme! Wie auf Knopfdruck flimmerten Szenen von "The Bourne Supremacy", durch meinen Kopf.

Unsinn, ein Alptraum, nicht einmal originell, gleich würde der Wecker läuten. Ich hielt den Atem an und biss mich auf die Zunge, aber ich erwachte nicht.

Lächerlich, nur keine Panik, ganz ruhig bleiben!

Wer bin ich? Ich sah an mir herunter, hellbraune Hose, gleichfarbige Wildlederslippers und ein sandfarbenes, sportliches Hemd mit langen Ärmeln. In der Brusttasche ertastete ich einen Pass. Ich zog ihn heraus. Ein deutscher Pass der Europäischen Gemeinschaft, auf den Namen Anton Sternbeck, Wohnort Regensburg, Augenfarbe grau, Grösse 186 cm, ausgestellt am 7. Februar 1997, dann eine Unzahl von Stempeln. Das Gesicht auf dem Foto kannte ich schon, schmal, kurzgeschittene Haare.

Ich fuhr mir mit der Hand über den Kopf. Ja, die Haare waren kurz. Ich stand auf, blickte meinen Nachbarn entschuldigend an, wartete bis er sich aus dem Sitz gekämpft hatte und zwängte mich dann wortlos an ihm vorbei und ging zur Toilette. Mein Gesicht im Spiegel war zweifelslos mit dem Passfoto identisch. Ich war also Anton Sternbeck. Wieder zog ich den Pass aus der Hemdtasche und sah auf das Foto. Nein, kein Zweifel, das war ich. Ich atmete tief, wusch mir Hände und Gesicht und trocknete mich sorgfältig mit einem Papierhandtuch ab, warf nochmals einen Blick auf mein Spiegelbild, schüttelte den Kopf, entriegelte die Toilettentür und stakte an meinen Platz zurück. Der Dicke erhob sich widerwillig, ich drückte mich wieder an ihm vorbei und liess mich zu einem schüchternen "Danke" hinreissen, .

Die Bordzeitschrift in der Tasche der Rückenlehne vor mir war zweisprachig verfasst, englisch - spanisch.

Ich las beide Versionen mühelos. "Wenigstens ist Anton Sternbeck nicht ungebildet", dachte ich erleichtert.

Die Zeitschrift war von der DCA herausgegeben, der Dutch Caribbean Airline. Ich sass also in einem Flugzeug der DCA. Sehr schön, aber wieso? Wieder zog ich den Pass aus der Brusttasche. Ein Zettel fiel auf den Boden. Ich hob ihn auf. Es war ein ausgefülltes Einreiseformular. Als Grund meiner Einreise nach Curaçao waren Geschäfte angekreutzt. Meine Aufenthaltsdauer war mit einer Woche angegeben, meine Adresse das Howard Johnsson Hotel in Willemstad. Was das wohl für Geschäfte sein mochten? Was war mein Beruf? Ich blätterte im Pass. Einreise- und Ausreisestempel, x-mal Maiquetia-Venezuela, Curaçao, Bonaire, ein Visum der Republic of Suriname, US Immigration Dallas, Aeropuerto Internacional Mexico DF, El Dorado-Bogota-Colombia, ein Residentenvisum der República Bolivariana de Venezuela gültig bis Juni 2007. Welches Datum hatten wir heute. Ich sah auf meine Armbanduhr, eine sportliche Uhr, digital, schwarze Hartgummifassung-, schwarzes Lederarmband. Es war Sonntag, 16-08-03, 14:17. Wieder öffnete ich den Pass. Geburtstag 28/05/61. Schnell errechnete ich mein Alter. Grosser Gott, schon 42 Jahre alt, schon bald schrottreif!

Hatte ich eigentlich Gepäck? Ich fingerte den Flugschein aus der Brusttasche. Kein Baggage-tag. Aber um eine Woche in Curaçao zu bleiben, musste man doch Gepäck haben, vermutlich eine grosse Reisetasche als Handgepäck. Wie sollte ich diese nun identifizieren?

Die Bordsprechanlage begann zu rauschen. Eine weibliche Stimme verkündete, dass wir uns im Anflug auf den Flughafen Hato von Curaçao befänden, und leierte dann die zu diesem Anlass üblichen Floskeln herunter.

Nach der Landung standen die meisten Fluggäste eilig auf und zogen hastig ihr Handgepäck aus dem Gepäckfach über den Sitzen. Ungeduldig warteten sie auf das Öffnen der Kabinentür. Nach ein paar Minuten setzte sich die Menschenschlange endlich in Bewegung. Ich blieb sitzen und wartete ergeben bis alle Passagiere an meinem Sitz vorbeidefiliert waren, erhob mich und sah in die offenen Gepäckfächer. Über mir lag einsam und verlassen eine grosse, braune Reisetasche und ein Laptop.

Ich fasste die Sachen und schleppte sie zum Ausgang.

Die Passkontrolle verlief reibungslos. Aber die Zöllner schnüffelten in meiner Reisetasche.

Hoffentlich, betete ich, ist sie die meinige und enthält keinen Sprengstoff. Zum Vorschein kamen dann auch nur Wäsche und Toilettenartikel.

Die Ankunftshalle kam mir sehr bekannt vor. Als ich den Ausgang passierte, überreichte mir ein reizendes, dunkelhäutiges Mädchen Touristeninformation.

"Masha danki, dushi ", entfuhr es mir.

Bedanken konnte ich mich jedenfalls vielsprachig.

Bei der Rezeption im Howard Johnson fragte ich nach einer Reservation für Anton Sternbeck.

"Ja richtig, von Maduro gebucht," informierte mich der Rezeptionist.

Maduro, hätte er Bayer gesagt, hätte ich gewusst wovon er sprach, aber Maduro sagte mir nichts. Waren das meine Kunden, oder war es die Firma bei der ich mein Brot verdiente? Was machte die Firma?

Ich fuhr mit dem Aufzug in den zweiten Stock und suchte das Zimmer 214. Die Plastik-folie, die den Schlüssel ersetzte, öffnete ein geräumiges Zimmer mit einem kleinen Kühlschrank und Fernseher.

In meinem Laptop war keine Information über Maduro gespeichert. Auch meine Beziehung zu Maduro blieb ein Rätsel. Aber immerhin gab es eine Präsentation einer Kläranlage auf der Festplatte.

Die gelben Seiten des Telefonbuchs von Willemstad halfen nicht weiter. Maduro machte so ziemlich alles, Touristik, Import, Export, Vertretungen.

Was sollte ich tun ? Ich schaltete den Fernseher ein und suchte eine Nachrichtensendung. CNN berichtete pausenlos über Bomben und Explosionen im Irak und in Israel, über den verlogenen Bush, seinen Vasall Blair und den klugen Chirac, der den ganzen Terror schon vor der Invasion Iraks prophezeit hatte, ganz wie jeder andere halbwegs vernünftige Bewohner unseres Erdballs.

Ich musste etwas trinken. Vielleicht würde mich der Alkohol entspannen und hoffentlich konnte ich mich dann wieder daran erinnern was ich hier in Curaçao zu tun hatte.

"Wo kann man denn hier an einem Sonntag Nachmittag hingehen," konsultierte ich den Rezeptionisten.

" Kennen Sie Mambo Beach?" fragte er.

"Nein. Nie gehört."

"Da ist heute was los, Happy Hour, voller Touristen aus Holland und der Karibik, Musik und Romantik und so."

"Hört sich gut an. Wie komme ich denn da hin?"

"Am besten nehmen Sie ein Taxi, 15 Florins."

"O.k. Mambo Beach here I come."

Ein riesiger nicht asphaltierter, staubiger Parkplatz, voll mit Fahrzeugen aller Art war die Endstation der Fahrt. Das Taxi überquerte den Parkplatz und hielt am Ende vor einem Zaun hinter dem ein paar staubige Palmen aus dem daruntergelegenen Strand hervorlugten.

Ich ging durch eine kleine Tür im Zaun, stieg eine Betontreppe hinab und war mitten im Touristentrubel auf einem fast fussballfeldbreiten, langen palmenbestandenen Sandstrand. Dröhnende Salsa übertönte das Rauschen des Meeres. Ich schlängelte mich an den Menschen vorbei, die in dichtgedrängten Gruppen in Strandkluft herumalberten, alle Bierdosen oder Papierbecher mit undefinierbaren Mixgetränken in den Händen. Ich näherte mich einer Bar mit einem Palmwedeldach. Auf halbem Weg stand eine grosse Kühltruhe voller Bierdosen im Eis. Wie Wespen um einen Honigtopf drängten sich die Durstigen um die Truhe, wo sie von zwei gestressten, aber gut gelaunten Blondinen viersprachig bedient wurden.

Ich verlangte ein Heinecken, bezahlte und drängte mich weiter zur Bar. Zwischen der Bar und dem Meer gab es eine runde mit Fliessen belegte Tanzfläche. Nur wenige Paare tanzten. Viele Männer standen noch unentschlossen herum und tranken sich in Stimmung. Die Frauen lauerten auf die Männer und lachten etwas zu laut. Ich genoss den feucht-warmen Meeresgeruch und die ausgelassene Partyatmosphäre. Rot senkte sich die Sonne ins Meer, eine leichte Brise machte das Klima erträglich. Ich setzte mich auf eine kniehohe Steinmauer, die die Tanzfläche zum Meer hin abgrenzte, trank genieserisch mein Heinecken und sah und hörte mich um. Englische, spanische, holländische Sprachfetzen, Papiamentu, Taki-Taki, Creole, ein Gewirr von Nationaltäten, Typen und Hautfarben.

Die Tanzfläche belebte sich. Neben mir nistete sich ein Rudel Südamerikaner ein. Sie hatten einen Stapel Bierdosen gekauft und bauten sie pyramidenförmig auf die Mauer. Offenbar beugten sie mit dieser Massnahme dem Ende der Happy Hour vor. Danach würde das Bier das Doppelte kosten.

"Das Bier wird doch warm", meinte ich .

"Dazu wird es viel zu schnell getrunken", antwortete der junge Mann den ich angesprochen hatte und hielt mir eine Büchse Polar unter die Nase. Er hatte bemerkt, dass meine Dose inzwischen leer war.

Überraschst bedankte ich mich und nahm mir vor bei der ersten Gelegenheit eine Runde auszugeben..

"Wo bist du denn her", fragte mich eine korpulente Schwarze aus der Gruppe.

"Aus Deutschland," antwortete ich vage. Meine fehlendes Erinnerungsvermögen machte mich nervös.

"Einen deutschen Akzent hast du aber nicht ."

Dazu wusste ich nichts zu sagen, aber um das Gespräch nicht abzubrechen stellte ich ihr dieselbe Frage.

"Aus Kolumbien, aus Cartagena", erklärte sie mit Stolz in der Stimme.

"Mach ein wenig Platz, Carmen!" rief eine junge Frau die aus der Menge aufgetaucht war, die aufregenste Mulattin, die ich je gesehen hatte, wenigstens in den letzten vier Stunden an die ich mich erinnern konnte, gross, verführerische Proportionen, schulterlanges, dichtes Kraushaar, hellbraun gefärbt mit blonden Strähnen, hautenge Hose, die nur bis drei Finger unter dem Nabel reichte, ein T-shirt das eine handbreit darüber endete und im Nabel ein Piercing und darum herum vielleicht ein ganz klein wenig zu viel Cholesterin unter der Haut. Winzige Schweissperlen standen auf ihrer Stirn. Wahrscheinlich war sie eben nach einem, eiligen Fussmarsch angekommen, Als ich merkte, dass ich sie anstarrte, streckte ich schnell Carmen die Hand hin und sagte:

"Hola Carmen, ich heisse Antonio. "

"Antonio, das ist Reina," stellte Carmen die Neuangekommene vor.

"Encantado, Reina," strahlte ich.

"Reina gab mir die Hand. Sie war fest und warm und die Berührung ging mir bis in den Unterleib.

"Bist du auch aus Cartagena?"

"Ja, und du?"

"Aus Deutschland."

"Und was machst du in Curaçao? setzte ich das Verhör fort.

"Ich arbeite als Kellnerin."

"Eigentlich habe ich Meeresbiologie studiert, aber das ist lange her," fügte sie hinzu.

"Ich bin Ingenieur," hörte ich mich zu meiner Ueberraschung sagen, wohl weil ich glaubte diese Berufsparte sei für Frauen besonders attraktiv.

Rasch drängte ich mich zur Bar, kaufte zwei Sechser-Packungen Amstel und reichte sie herum.

Reina trank das eiskalte Bier ein bischen zu schnell.

Die Sonne war untergegangen, der Mond hing jetzt riesengross, tief über dem Meer. Der Beat der Salsa Brava hämmerte in meinen Ohren.

"Azuquita mami, azuquita pa' ti", röhrten die Lautsprecher.

Ich fasste Reina bei der Hand und zog sie auf die Tanzfläche.

Danach waren wir wieder zu unserem Platz auf der Mauer zurückgekehrt. Ich hatte sie unbewusst um die Hüfte gefasst und sie hatte sich wie absichtslos ein wenig an mich gedrängt.

Mein Identitätsproblem war unwichtig geworden. Es war mir jetzt egal, dass ich nichts über mich wusste, dass ich keine Ahnung hatte was ich hier in Curaçao sollte.

Mein neues Leben hatte vor fünf Stunden begonnen und sein Mittelpunkt war Reina. Jäh hatte ich mich in sie verliebt.

Spät in der Nacht gingen wir Seite an Seite durch den Sand zum Strandhotel. Jetzt konnten wir das Meer rauschen hören.

"Ich habe zwei Kinder, zwei Mädchen," sagte Reina leise.

"Da fehlt dir ein Junge von mir."

"Meinst du das ehrlich oder machst du dich über mich lustig?"

"Ich meine es ehrlich, von ganzem Herzen."

" Bist du verheiratet," fragte sie unsicher.

"Ja", sagte ich, "ich bin verheiratet."

Und plötzlich wusste ich wieder wer ich war. Ja, ich war Anton Sternbeck, ja, ich wohnte in Regensburg und ich war verheiratet mit Marlene, 39, Rechtsanwältin, die davon überzeugt war, dass sie an meiner Seite vorzeitig alterte, die keine Kinder wollte um ihre Karriere nicht aufs Spiel zu setzen, die mir nach vierzehn Jahren Ehe den Titel des langweiligsten Mannes des Planeten verliehen hatte und mich einen engstirnigen Macho schimpfte. Ich erinnerte mich an das Ritual unseres täglichen Streits und wie wir uns anödeten, wenn wir einmal nicht stritten.

Es war zum aus der Haut fahren.

Und eben das hatte ich für ein paar Stunden getan.

"Ja, ich bin verheiratet ", wiederholte ich und fügte entschlossen hinzu, "Nächste Woche lasse ich mich scheiden."




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