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bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.

Eingereicht am
21. März 2007

Das Foto

© Enrico Andreas Brodbeck

Sein Zeigefinger und Mittelfinger halten das Bild fest, auf das er in Gedanken versunken schaut. Er hält es mit zittriger Hand hoch und verinnerlicht die Szene. Es ist eine alte Aufnahme aus zurückliegender Zeit - in schwarzweiß.

Einer längst vergangenen Zeit.

Zacken säumen das kleine Rechteck und ein gelblicher Schimmer zeugt vom Zerfall auf der Oberfläche der Fotographie.

Aber nicht nur dort.

In Dreierreihe hatten sie sich seinerzeit für dieses Foto vor ihrer Schule postiert. Sie die Schüler, als Teil dieser Volksschule. Dreiundvierzig an der Zahl - Jungen und Mädchen, die in ihrem Wesen so unterschiedlich waren, wie die Anzahl die sie präsentierten.

Suchend wandern seine müden Augen durch die Reihen der Abbildung und finden sich selbst inmitten der Aufstellung. Klein, unscheinbar und mit krausen Haaren. In seinem müden, vom Leben gezeichneten Gesicht formten sich die Lippen zu einem Lächeln.

Damals hielt die Zeit für eine tausendstel Sekunde inne und erfasste den Moment wie ein Brandmahl, das ewig Spuren hinterlässt ohne zu altern. Für immer verewigt, stehen sie da auf dem Treppenabsatz des westlichen Eingangs der Schule oder sitzen auf Stühlen in der vordersten Reihen. Und rechts von ihnen steht ihre Lehrerin. Ein letztes Mal. Stolz schaute sie mit den Schülern in die Linse der Kamera, deren Klick ein Augenaufschlag bedeutete, um die Erinnerung in sich aufzusaugen. Alle sechsundachtzig Blicke vom Unterschied geprägt, würde man in ihren Augen lesen können. Hoffnung, Zuversicht, Ängste, Trotz und Ablehnung aber blieben im Verborgenen.

Seine müden Augen wandern weiter über dieses Relikt aus einer Zeit als er vor dem Frühling seines Lebens stand. Wie junge Bäumchen stehen sie da, deren Leben aufstrebend und ungewiss zugleich war.

Das eine Leben länger das andere weniger lang.

Namen tauchen in seinen Gedanken auf bei den Gesichtern in deren starren Blicke er sieht, und - er hält inne.

Je länger er auf das Foto schaut, desto mehr verschwinden die Konturen ihrer Gestalt, als hätte sie jemand ausradiert. Die Zeit hat sie alle mitgenommen - nach und nach. Alter und Krankheit dem natürliche Lauf, Kummer und Verzweifelung der Gesellschaft wegen, doch der Krieg verschluckte die meisten von ihnen.

Er senkt den Arm und schaut noch einmal zum westlichen Eingang der kleinen Schule. Verlassen steht sie da. Stolz auf die zurückliegenden Jahre blickend und leer, ohne den Widerhall von Kindergeschrei, welches über Jahrzehnte den Impuls in ihr ausgemacht hatte. Verstummt sind auch die Schreie seiner Tage von einst.

Mit der Zeit legt die Gesellschaft ihre alten Gewänder der Vergangenheit ab. Gewänder die ihr einst neuen Glanz verschafften, und so wandelt sich das Gesicht des Standortes vom Alten hin zum Neuen.

Nur auf seinem Gesicht zeichnen sich weiter die Jahre seines Lebens. Er wirkt sehr müde und sein Blick wandert zum Rande des Schulhofes auf dem sie damals ihre Pausen verbrachten. Mal laut mal leise, aber immer mit einem Knall der von einer zerplatzten Kakao- oder Milchtüte herrührte.

Seine kleinen Augen betrachten die gewaltigen Maschinen, die dort auf dem Hof stehen und in den nächsten Tagen der Schule ihren Gnadenstoß versetzen, mit neuem Lärm - der für immer alles verschlucken wird. Dann wird sie verschwunden sein, und er hat Sie und all die Anderen überlebt, die sich damals mit ihm vor dem westlichen Treppenabsatz aufstellten um für immer verewigt zu werden.

Er stützt sich auf seinen Gehstock und setzt sich unter großer Anstrengung in Bewegung. Ein letzter Blick über seine Schulter und er nimmt Abschied von dem Ort des Lernens - stellvertretend für all jene auf dem vergilbten Foto.

Er nimmt das Foto, steckt es behutsam in seine Manteltasche und geht - bald für immer.

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