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Eingereicht am
04. März 2007

Gänse im Nebel

© Achim Stößer

"Il neige sur le maquis
et c'est contre nous chasse
perpétuelle."
René Char, Feuillets d'Hypnos

Dumpfe Schwaden stiegen im Licht der Scheinwerfer aus den Kanaldeckeln wie in einem Batman-Film.

Filiz wischte die beschlagene Windschutzscheibe frei, während Lara versuchte, die Wegweiser in der Dunkelheit zu entziffern. Mitternacht war längst vorüber, sie hatten sich verspätet.

"Du", setzte Filiz an, und ihre Zähne klapperten so sehr, dass sie kaum sprechen konnte. "Du musst unbedingt die Heizung reparieren lassen."

Lara starrte konzentriert nach draußen. "Ja, ja. Hier rechts? Das ist nicht die B36!"

"Doch, sicher, steht dort auf dem Schild. Jetzt links!" Sie grinste. "Besorg dir eine neue Brille, du tust gerade so, als ob die Kiste auch die Sicht nach vorn versperrt." Sie deutete nach hinten, wo ein großer Pappkarton, in den einige faustgroße Löcher geschnitten waren, den Kofferraum bis über die umgeklappten Rücksitze einnahm und das Heckfenster verdeckte.

"Mach dich nur lustig." Sie fuhren an, Schnee rutschte vom Dach des Autos vor ihnen über das Heck und schlug auf die Straße.

Am Armaturenbrett begann etwas zu ticken. Lara fluchte.

"Was ist? Da vorn halb rechts!"

"Der Kilometerzähler hängt fest. Das hat den Vorteil, dass der Kilometerstand nicht so hoch ist, aber den Nachteil, dass die Tachowelle dieses nervenzermürbende Geräusch von sich gibt. Merkwürdig, das passiert sonst nur im Sommer, wenn es ganz heiß ist, nicht bei dieser Kälte."

"Ah, da sind wir!"

***

Lara ließ sich aufs Sofa fallen. "So, sind wir doch nicht die letzten." Sie schob den Ärmel zurück und sah auf ihr nacktes Handgelenk, als ob sie eine Uhr trüge. "Wo die anderen doch sonst immer so pünktlich sind."

Filiz stand noch, und Kira sprang an ihr hoch und begrüßte sie schwanzwedelnd. Filiz streichelte sie und sprach leise mit ihr.

"Nein, ihr seid die ersten", sagte Anke. "Wir sind ja kaum eine halbe Stunde über der Zeit."

Sebastian bot ihnen etwas zu trinken an und stellte ohne eine Antwort abzuwarten ein paar Gläser, Saft und Mineralwasser auf den Tisch. Lara goß sich mit einer Hand ungeklärten Apfelsaft ein und kraulte mit der anderen Kira, die sich jetzt ihr zugewandt hatte, hinter den Ohren. "Wer kommt denn sonst noch?"

"Von Maqi nur noch Sophie." Sebastian runzelte die Stirn und zuckte entschuldigend mit der Schulter, als ob er dafür verantwortlich wäre. "Und dann drei Leute von terre des bêtes, mit einem Bus. Céline kennt ihr glaube ich, sie war neulich bei der Jagdsabo in Würzburg dabei."

"Dann sind wir nur acht? Reichlich dürftig."

"Ja, so sind sie", sagte Filiz gespielt fröhlich, "die Leute von Maqi."

"Habt ihr die Briefe dabei?" fragte Anke.

"Ich wußte doch, wir haben etwas vergessen." Lara zog einen großen Umschlag aus der Leinentasche und warf ihn ihr zu wie eine Frisbee-Scheibe. Anke fing ihn und zog ein Blatt heraus. Lara hob eine Augenbraue. "Wie unvorsichtig. Jetzt sind deine Fingerabdrücke auf dem Original."

Anke erstarrte. "Seit der Demonstration in München letztes Jahr bin ich erkennungsdienstlich behandelt."

"Gegen Zirkus Krone, nicht? Schon gut, keine Angst", beschwichtigte Filiz. "Die Originale werden vernichtet. Damit die Schreibmaschine nicht so einfach identifiziert werden kann, verschicken wir nur Fotokopien, die wir ausschließlich mit Latexhandschuhen angefaßt haben. Die Briefmarken auf den ladenfrischen Umschlägen sind mit Wasser angefeuchtet. Kein Speichel, keine Blutgruppe, keine genetische Identifikation."

"Hach", machte Lara, "was sind wir alle paranoid."

Anke atmete hörbar ein. "'Sehr geehrte Damen und Herren'", las sie. "Guter Anfang. An wen werden die Bekennerschreiben geschickt?"

"Lokalblätter, Bild, dpa, Radiosender, mehr ist nicht drin."

"Bild?" Sebastian schüttelte den Kopf.

"Sicher." Lara wedelte mit der Hand, wie um seine Bedenken wegzuwischen. "Nicht gerade die geeignetste Zielgruppe, aber wir müssen die Informationen so breit wie möglich streuen."

"Na, großartig. Und die Badischen Neuesten Nachrichten könnt ihr gleich vergessen. Tierquäler - Pelzhändler wie Zirkusdompteure - bekommen halbseitige, als Bericht getarnte Gratiswerbung, aber wenn wir uns zwischen Jäger und Opfer stellen und krankenhausreif geschlagen werden: kein Wort."

Es läutete an der Tür, Sebastian öffnete, und Sophie stürmte herein, begrüßte alle überschwenglich und wurde ebenso überschwenglich von Kira begrüßt. "Können wir gleich los? Ich muss morgen früh arbeiten."

"Ich auch", warf Filiz ein. "Um halb sieben muss ich anfangen, also spätestens um sechs wieder in Heilbronn sein."

Lara kniff die Augen zusammen. "Tja, wer nicht?"

"Du hast Urlaub, Basti, oder?" fragte Sophie.

Sebastian nickte: "Wir müssen morgen noch das Diebesgut in Sicherheit bringen, nicht, sind schließlich einige hundert Kilometer." Zu Sophie sagte er: "Céline fehlt noch."

Sophie schlang die Arme um den Körper und saugte Luft zwischen den Zähnen ein. "Ekelhaft kalt draußen." Sie stand auf und ging Richtung Küche. "Noch jemand Tee?" rief sie über die Schulter zurück.

Wieder läutete es, Céline war da und jemand, den niemand von den anderen kannte. Kira begrüßte ihn dennoch wie alle, aufgeregt hüpfend und tänzelnd.

"Was ist denn nun mit den Bekennerbriefen?" fragte Sebastian.

Anke begann vorzulesen: "'Heute nacht befreiten wir neunzehn Gänse aus der Gänsemast des Landwirts -' Wieso habt ihr denn seine volle Adresse und Telefonnummer angegeben?"

"Um es den Journalisten einfacher zu machen. Wenn sie nicht allzuviel Aufwand treiben müssen, raffen sie sich vielleicht eher zu einem Artikel auf. Das Wort Landwirt stört dich auch nicht? Klingt doch viel zu harmlos."

"Was würdest du denn sagen?"

"Du weißt, wie sehr ich Euphemismen verabscheue. Da müßte wenigstens Tierqualprofiteur stehen. Aber auf mich hört ja keiner."

"Wieso neunzehn?" fragte der Unbekannte.

"Weil wir nur neunzehn Plätze zur Verfügung haben, wo wir sie unterbringen können", erklärte Anke. "Ah, steht ja auch hier: 'Anschließend wurden sie an Orte gebracht, an denen sie ein Leben bis zu ihrem natürlichen Ende - Gänse werden bis zu 80 Jahre alt - führen können."

"80, seid ihr sicher?" fragte Céline. Sie sprach ohne Akzent. "Habt ihr das vielleicht mit Papageien verwechselt?"

"Schwarze, Schröder: 'Kompendium der Geflügelanatomie'", sagte Lara. "Zweite Auflage, wenn ich mich recht erinnere. Mittlere Lebenserwartung 31, maximale 80 Jahre. Alles, was nicht sauber recherchiert ist, drückt den Speziesisten ein Messer in die Hand."

"Lasst ihr mich jetzt zu Ende lesen? 'Alljährlich spielt sich kurz vor Weihnachten ein blutiges Massaker ab'", fuhr Anke fort. "'Unzählige Gänse werden getötet, um die sinnlose Fresslust der Menschen zu befriedigen. Das Prinzip der Tierrechte beinhaltet die Gleichbehandlung gleicher Interessen, das heißt, wo und soweit Menschen und andere Tiere gleiche Interessen haben, sollen diese auch entsprechend berücksichtigt werden. Elementarstes Grundinteresse von Gänsen wie Menschen ist neben der Vermeidung von Leid eine Fortsetzung des Lebens. Gegen dieses Interesse wird mit jeder Mahlzeit, die mit Ausbeutung - z. B. Schlachtung - verbunden ist, verstoßen. Rassismus, Sexismus, Faschismus usw. beinhalten Diskriminierung aufgrund ethisch irrelevanter Unterschiede. Speziesismus ebenso. Daher ist es für uns eine ethische und politische Notwendigkeit, Leben zu retten, selbst wenn wir dabei die Grenzen der Legalität überschreiten müssen. Allerdings können wir mit derartigen Aktionen immer nur wenigen einzelnen Individuen zu ihrem Lebensrecht verhelfen. Daher ist eine Bewusstseinsänderung der gesamten Gesellschaft hin zu ethischer Verantwortung erforderlich. Mit freundlichen Grüßen, Aktion 24. Dezember.'"

Sebastian sah skeptisch aus. "Na, ich weiß nicht. 'Aktion 24. Dezember'? Klingt das nicht ein bißchen nach RAF?"

"Hätten wir mit Maqi unterschreiben sollen?" fragte Filiz. "Mich stört mehr, dass wir die Parallelen zu Sklavenbefreiung nicht allzu deutlich gemacht haben."

Anke stand auf. "Was soll's, druckt ohnehin niemand ab. Wir sollten jetzt zur Sache kommen." Sie breitete einen handskizzierten Plan auf dem Tisch aus und deutete auf ein gelb schraffiertes Rechteck. "Das ist die Gänsemast. Das Haus hier daneben ist unbewohnt. Die Besitzer leben da drüben, weit genug entfernt. Wir parken dort auf diesem Waldweg."

"Wie weit ist es von da bis zur Mastanlage?" fragte Lara.

"Nicht allzu weit, kein Kilometer."

Lara raufte sich die Haare. "Wenn du das sagst, sind es sicher drei."

Anke knurrte kehlig in gespieltem Ärger. "Ich bin die Strecke heute vormittag mit Kira noch einmal abgegangen. Fünfzehn Minuten, und wir sind gemütlich gelaufen."

"Mit riesigen Transportkisten voller Gänse wird das alles andere als gemütlich werden."

***

Nebelschwaden wanden sich über die Straße. Die Kolonne fuhr auf der fast leeren Autobahn, es waren nur wenige Minuten bis zu ihrem Ziel. Das Ticken des Kilometerzählers hatte aufgehört. Sie sprachen nicht viel, der fehlende Schlaf machte ihnen zu schaffen.

"Ist hier nicht dieses vegane Restaurant?" fragte Filiz, als sie die Ausfahrt Pforzheim-Ost nahmen.

"Ja, ganz in der Nähe", bestätigte Lara. "In Mühlacker."

Dann schwiegen sie, bis der Kombi auf einen Parkplatz einbog und anhielt. Filiz und Lara zogen ihre Gummistiefel an und stiegen in den Bus. Mit all den Kartons darin war es eng, aber je weniger Fahrzeuge sich in der Nähe der Gänsemast befanden, desto geringer war das Risiko.

"Wolltet ihr nicht zu dritt kommen?" fragte Filiz.

Céline bejahte. "Aber Hervé sagte, er müsse unbedingt schlafen."

"Na, wenn ihm sein Schönheitsschlaf wichtiger ist als Leben zu retten." Sophie seufzte. "Aber bei uns war's genauso, Ulf musste zur Geburtstagsfeier seiner Oma, Walter war seit Tagen überhaupt nicht zu erreichen, Maja ist die Fahrt zu weit ..."

"La qualité des résistants n'est pas, hélas, partout la même", sagte Céline leise.

François fuhr, und sie wandte sich auf dem Beifahrersitz nach hinten. "Apropos, wie seid ihr auf euren Namen gekommen, hat das etwas mit der Résistance zu tun?"

"Auch", antwortete Lara. "Hauptsächlich mit der ursprünglichen Bedeutung, dem Buschwald in Mittelmeerländern als Zufluchtsstätte für Verfolgte."

"Prendre le maquis." Céline nickte. "Sich verbergen."

"Widerstand und Sabotage haben wir natürlich mit den Maquisards gemein. Aber nicht den Militarismus, versteht sich." Lara beugte sich vor und schrieb mit dem Finger "Maquis" auf die beschlagene Seitenscheibe, dann wischte sie das U und das S aus. "Wir streichen zwei Buchstaben aus dem Wort und Waffen und Gewalt aus der Vorgehensweise."

"So wie aus vegetarian durch Streichen von Buchstaben vegan wurde."

Lara schnalzte zustimmend mit der Zunge.

"Verbunden mit dem Streichen von allen Tierprodukten, die mit Gewalt produziert werden, aus Ernährung, Kleidung etc."

"Nun, das Sprengen von Ketten, das Niederreißen von Zäunen, das Durchbrechen von Mauern im wörtlichen wie im übertragenen Sinn ist nicht gerade -" Lara brach mitten im Satz ab, als der Kombi vor ihnen in einen Waldweg einbog und stehenblieb. Sie stiegen aus, Sebastian und Anke ebenfalls.

"Es gibt ein Problem", flüsterte Anke. "In dem unbewohnten Haus brennt Licht."

"Ah ja. Welchen Teil von unbewohnt habe ich nicht verstanden?" fragte Lara.

Der Nebel war dichter geworden, leichter Nieselregen hatte eingesetzt. "Sollen wir es trotzdem riskieren?" fragte Sebastian.

Allgemeine Zustimmung, kaum verbal geäußert, und Sophie bekräftigte: "Wir fangen auf jeden Fall an, und selbst wenn wir nur drei retten, ehe wir weg müssen ..."

Sie nahmen die Transportkisten, deckten sie mit Plastikplanen ab und gingen los, schweigend. Die großen Kartons, obwohl leer, schienen mit jedem Schritt schwerer zu werden. Der kalte Regen legte sich wie ein Film auf ihre Gesichter. Am Waldrand angekommen setzten sie die Kartons ab. Nur wenige Meter entfernte Büsche hoben sich dunkel aus dem Nebel ab.

Plötzlich hörten sie das aufgeregte Schnattern einzelner Gänse. Ein gelblich erleuchtetes Fenster schwebte im Nichts. Es war noch nicht drei Uhr, lange vor Sonnenaufgang, doch ihre Augen begannen sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, und gedämpftes Mondlicht verfing sich im Nebel.

Anke lief voraus, während die anderen warteten. Der Regen wurde stärker, sie rückten die Abdeckplanen zurecht. Minuten schienen sich zu Stunden zu dehnen, Anke blieb verschwunden.

Sie diskutierten, ob die Möglichkeit bestand, dass sich um diese Zeit und trotz des Nebels ein Jäger in dem Hochsitz befand, an dem sie vorüber gekommen waren. Sie waren sich einig, dass es durchaus sein konnte, und da Céline erzählte, sie seien erst vor kurzem beim Aussetzen befreiter Nerze in einem für die Tiere geeigneten Biotop von einem Jäger gestört worden, gingen sie und Sophie zurück.

Als beide nach einiger Zeit wiederkamen und berichteten, die Kanzel sei von außen mit einem Vorhängeschloß gesichert gewesen, hatte Anke sich noch immer nicht gemeldet.

Die Gänse fingen an, Lärm zu schlagen. Anke hatte sie wohl aufgestört, aber es konnte auch ein Fuchs oder ein Fahrzeug auf der Landstraße, die nicht weit entfernt entlang führte, gewesen sein. Blieb nur zu hoffen, dass der Bewohner des unbewohnten Hauses nicht mit einer Schrotflinte herauskam, um nach dem rechten zu sehen, wie das vor kurzem in Finnland geschehen war, wo einige gefährliche Schußverletzungen erlitten hatten.

Es war kalt, Sophie hüpfte auf und ab, um warm zu werden. Der französische Aktivist, dessen Namen immer noch niemand außer Céline kannte, fragte, welche Strafe sie zu erwarten hätten, es sei ja auch nichts anderes als Hühnerbefreiung.

"Diebstahl eben", sagte Sebastian, ohne die Frage direkt zu beantworten.

"Wobei die Rechtssprechung der speziesistischen Willkürjustiz kaum vorherzusehen ist", ergänzte Lara.

"Wenn die Legehennen nach einem Jahr als Suppenhühner enden, kosten sie nur ein paar Mark, hier kommt wohl eine vierstellige Summe zusammen. Hühner haben wir schließlich schon im Beisein eines Fernsehteams befreit und dabei offen unsere Gesichter in die Kamera gehalten, ohne dass auch nur eine Anklage erhoben wurde, aber das ist doch etwas anderes."

"Ja", sagte Lara, "und dann hieß es wieder, wir würden nur etwas für die Tiere tun, wenn die Medien dabei seien, als ob wir nicht jedes Jahr ein Dutzend Mal ohne in der Batterie gewesen wären, ich weiß nicht wie oft allein in dieser, von den andern ganz zu schweigen. Na, was gewisse Leute angeht -"

Ein gedämpftes Klingeln in Sebastians Tasche. Fünf Gesichter wandten sich ihm abrupt zu. Er holte das Mobiltelefon hervor.

"Wer ruft denn um diese Zeit an?" fragte Sophie, ehe ihr klar wurde, dass es Anke sein musste.

"Was macht er?" fragte Sebastian.

Eine Mischung aus Belustigung und Entsetzen sprang über. Halblaut und gedehnt wiederholte Sophie seinen Satz.

"In die andere Richtung?" Sebastian konzentrierte sich auf Anke. "Dort? ... Aufpassen. ... Nein, bleib. ... Genau. ... Ich weiß, nur zu sechst, aber es muss gehen. ... Einfach klingeln, ich werde nicht ... Alles klar." Er drückte die Endetaste und steckte das Telefon weg. "Es geht los. Jemand ist in dem Haus, Anke warnt uns, wenn sich etwas rührt."

Wieder nahmen sie die Kartons, traten aus dem Wald heraus und gingen durch den Nebel in die Richtung, aus der gelegentlich das Geschrei der Gänse kam.

Dann sahen sie sie.

Es war eine große Herde, über hundert Tiere. Unruhig schnatterten sie, drängten sich aneinander. Sie waren sicher hundert Meter vom Zaun entfernt. Trotz des Nebels leuchtete ihr Gefieder weiß im gedämpften Mondlicht.

Die Kisten wurden innerhalb der Umzäunung abgestellt. Die Drähte waren nur hüfthoch über dünne Stäbe gespannt. Lara stieg darüber, Matsch und Kot schlossen sich schmatzend um ihre Gummistiefel. Die anderen folgten ihr, sie gingen durch den nassen Dreck auf die dicht gedrängte Herde zu, dann um sie herum, leiteten die Tiere zu den Kisten. Die Vögel lärmten so laut, dass es im Haus kaum zu überhören sein konnte. Schwerfällig versuchten sie zu entkommen, aber sie nahmen sich gegenseitig den Fluchtweg.

Lara bückte sich, drückte mit der rechten Hand einen Vogel vorsichtig zu Boden und griff mit der linken nach seinem Hals, direkt hinter dem Kopf wie bei einer Schlange. Trotz der dicken Handschuhe spürte sie den sanften Widerstand. Sie legte den rechten Arm um den Körper und hob ihn hoch, so wie Céline es ihnen erklärt hatte.

Der Regen war stärker geworden, durch die Regentropfen auf ihren Brillengläsern konnte sie kaum etwas erkennen. Rasch lief sie in die Richtung, in der sie die Transportkisten vermuteten, sah undeutlich ein paar dunkle Gestalten mit weißen Flecken umherhuschen. Dann erkannte sie Filiz, die neben einem Karton kauerte, die Verschnürung löste und den Deckel hob. Sie setze die Gans hinein, Filiz verschloß den Karton und lief wieder zur Herde, dem Lärm nach.

In kurzer Zeit füllten sie die Kisten. Viele Gänse blieben schon nach wenigen Metern hastiger Flucht verängstigt oder erschöpft sitzen. Als Sebastian nachfragte, sagte Filiz ihm, dass in der großen Kiste fünf, in den beiden mittleren jeweils vier und in den zwei kleinen ebenfalls schon je drei oder vier seien, und er sprang wild gestikulierend auf, um die Aktion zu beenden.

Sophie kam angelaufen. "Eine hat sich im Zaun verfangen", sagte sie, "und da hinten liegt eine tote."

"Die am Zaun lebt noch?" fragte Filiz, und als Sophie nickte, folgten sie ihr querfeldein zur anderen Seite.

Céline und Lara kauerten an der Umzäunung und versuchten die Gans zu befreien. "Die Beine haben wir los", sagte Céline, "aber der Hals hängt noch fest. Kann jemand den Kopf halten?"

Filiz ging in die Hocke, schloß die Hand um den Kopf der Gans. "Stacheldraht", sagte sie.

"Licht, verdammt!" stieß Céline hervor. "Ich kann nichts sehen. Hat niemand eine Taschenlampe? Ein Feuerzeug?"

Sophie faßte den Draht an, der mit dem Hinterkopf der Gans verwachsen zu sein schien. "Eine Drahtschere", sagte sie. "Im Auto? Sebastian?" Er verneinte.

Sie zog die Handschuhe aus. Mit einer Hand hielt sie den Draht, mit den Fingern der anderen strich sie sanft über den Hals der Gans. "Hier! Der Draht hat sich wie eine Schlinge um ihr Genick - autsch! Das ist ein Elektrozaun! Ich habe gerade einen Schlag bekommen."

Die Gans zappelte, schnappte, ihr Schnabel schloß sich vollständig der Länge nach um Filiz' Zeigefinger, weit stärker als der Griff einer menschlichen Faust. Filiz widerstand dem Impuls, ihre Hand wegzureißen. Der Druck des Schnabels war trotz der Schlinge um den Hals der Gans so stark, als ob ein Kind auf ihrem Finger stand, und als er nachließ, zog sie ihn vorsichtig zurück.

Céline tastete den Hals ab. "Ich fühle nichts. Da ist kein Draht."

"Doch, ganz sicher." Sophie legte ihre Fingerspitze darauf. "Hier."

"Wir müssen an beiden Enden des Drahts gleichzeitig ziehen", sagte Lara.

"Aber dann erwürgen wir sie!" protestierte Sophie.

Lara schüttelte den Kopf. "Zu der Gans hin. Von beiden Seiten. Weg von den Stäben, die den Draht spannen. Dann lockert sich die Schlaufe und wir können sie ihr über den Kopf streifen." Lara und Céline zogen links und rechts am straffen Draht, Sophie schob ihn über Kopf und Schnabel und die Gans war frei. Filiz nahm sie auf und brachte sie zu den Kisten.

Sie setzten sie zu den fünf anderen in die größte. "Wir hätten die Folien aufkleben sollen", stellte Céline fest. Die Regentropfen trommelten auf den verrutschten Kunststoff und die Pappkartons. "Die Kisten sind völlig durchweicht, wir können sie keine zehn Meter weit transportieren, ohne dass sie auseinanderfallen. Wir müssen die Autos hierherholen. François?" François nickte, er und Sebastian liefen los, die anderen blieben.

Der Regen wurde noch stärker, der Nebel verflüchtigte sich. Sie warteten.

Scheinwerfer näherten sich auf der Landstraße, sie duckten sich hinter den Kartons.

Als die Rücklichter verschwunden waren, stand Céline auf, bog einen der dünnen Kunststoffzaunpfähle zu Boden und stellte sich darauf, die anderen schleiften vorsichtig die Kartons auf die andere Seite. Der Zaun schnellte zurück und stand wie zuvor.

Eine Gestalt kam aus dem Dunkel auf sie zu, sie erstarrten. "Seid ihr noch immer nicht fertig?" fragte Anke.

Das Aufatmen der anderen schien weiter zu klingen als das Schnattern der übriggebliebenen Gänse. Die Tiere in den Kisten verhielten sich völlig ruhig. Endlich kamen die beiden Fahrzeuge den Feldweg entlang, im Schrittempo, ohne Licht. Sie hielten einige Meter entfernt.

Neben dem Kombi begann jemand zu gröhlen.

"Was soll das denn?" fragte Lara und lief darauf zu. "Seid ihr wahnsinnig, hier so herumzubrüllen? Wenn das jemand hört!"

Das Gröhlen hielt an, und langsam erkannte Lara, dass es niemand von ihnen war. Neben der Beifahrertür stand ein Mann mit einem Fahrrad, der über die Wagendächer hinwegbrüllte, laut, unverständlich, offenbar so betrunken, dass er sich kaum aufrecht halten konnte.

Sebastian hatte das Fenster heruntergelassen. "Fährst du noch ein Stück weiter", sagte Lara, "wir können die Kisten nicht hierhertragen."

"Sicher. Ich will nur warten, bis er eine Weile weg ist. Hoffentlich scheucht das keinen auf."

Der Betrunkene brüllte noch immer seinen Sermon, dann schob er endlich unsicher sein Fahrrad weiter. "Ja, duckt euch nur!" rief er, als er an den anderen vorbeikam, die bei den Kisten warteten und dahinter Deckung suchten.

Im Bus drehte François den Zündschlüssel. Lara lief hin und schlug gegen die Scheibe. "Motor aus!" Sie ging zurück zu Sebastian. "Vielleicht ist das der Bewohner des unbewohnten Hauses", sagte sie, "er hat etwas bemerkt und geht den Besitzer warnen, weil er in seinem Zustand nicht mehr telefonieren kann." Der Betrunkene war längst in der Dunkelheit verschwunden.

"Hoffentlich nicht. Dann sollten wir jetzt nicht mehr zu lange warten, wir müssen weg sein, ehe er etwas unternehmen kann." Sebastian nickte, dann fuhr er das Auto ein paar Meter weiter, der Bus folgte. Sie luden die Kartons ein. Mit den Gänsen waren sie so schwer, dass sie sie unmöglich den ganzen Weg zu den Autos hätten zurückschleppen können, selbst wenn sie nicht völlig durchnäßt gewesen wären, so aufgeweicht, dass sie ihnen unter den Händen zerfielen. Als hätten sie es monatelang trainiert verstauten sie die Kisten, nur gelegentlich waren ein oder zwei Wörter zu hören in der Nacht, sie zwängten sich in die Fahrzeuge und fuhren aus dem Waldweg auf die Landstraße.

Auf dem Parkplatz angekommen, nahmen sie die Gänse in Augenschein.

Im Kombi saß eine ruhig auf den Überresten einer zerfallenen Kiste, rührte sich nicht. "Oh, nein!" rief Sophie. "Ist sie tot?"

Céline untersuchte die Gans und stellte fest, dass sie, wenn auch verängstigt, völlig in Ordnung war.

Sie zerlegten die Ersatzkiste aus dem dritten Auto, nahmen Heftpflaster aus den Verbandskästen und flickten notdürftig die durchweichten Kartons.

***

Der Bus fuhr los in Richtung Autobahn, der Kombi folgte ihm. Die Rücklichter versickerten in der Dunkelheit, und die beiden Frauen, die zurückgeblieben waren, setzten sich ins Auto.

"Nun sind es doch wieder mehr geworden, wie üblich", sagte Lara, während sie die Gummistiefel auszog. "Über zwanzig." Ihre Zehen waren eiskalt, sie begann sie zu kneten, zuckte aber zurück, weil es zu sehr schmerzte.

Filiz ließ sich erschöpft zurücksinken. "Sie haben noch eine lange Fahrt vor sich."

Lara schnaubte. "Eine Fahrt, die den Zorn so manchen Kuscheltierschützers, dem das Töten gleich ist, solange die Folterinstrumente nur angenehm gepolstert sind, auf sich ziehen würde." Sie öffnete die Tür, hielt die Stiefel am Schaft nach draußen und schlug sie gegeneinander, um die größten Schmutzklumpen abzuschütteln. Viel heftiger als nötig, immer wieder. "Schlachtung vor Ort statt Tiertransport." Sie sprach im Rhythmus der aufeinanderprallenden Gummistiefel. "Hauptsache, ihr Gewissen ruht auf Daunenkissen." Dann warf sie die Stiefel nach hinten auf die umgeklappten Rücksitze und begann, Regen und Kondenswasser von ihrer Brille zu wischen.

Filiz hatte den Kopf zurückgelehnt und die Augen geschlossen. "Aber am Ende dieser Fahrt wartet auf unsere Gänse weder der Henker noch der Magen eines besinnlichen Fressers."

Lara fuhr sich mit dem Handrücken übers Gesicht, doch sie verrieb nur den feuchten Schmutz und den Kot, der an ihren Wangen, auf ihrer Stirn und in ihren Haaren klebte. "All die anderen sterben am Wochenende."

***

Eisregen überzog am Montag das Land mit einer Haut, die glitzerte und knisterte wie die eines knusprig gebratenen Vogels, und heftiger Schneefall bedeckte es mit einem Leichentuch.




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