www.online-roman.de
www.ronald-henss-verlag.de

Kurzgeschichte Alltag Kurzprosa Geschichte Erzählung short story

Verloren die Neugier

© Jo Häselbarth


Vor wenigen Tagen erst wieder bohrte mein Schatz mit tausend kleinen Fragen so recht charmant in meiner Kindheit herum. Irgendwie gelang es mir aber auch dieses Mal, meinen Kopf aus der Bedrängnis zu ziehen. Es ist nun mal an dem, dass es mir unsagbar schwer fällt, über manche Dinge frei und offen reden zu können und erst Recht, wenn man eine wunde Stelle in meinem Herzen trifft. Aber ein Recht hat sie sehr wohl darauf, auch davon zu erfahren - schließlich wollen wir unsere fantastische Liebe im kommenden Jahr vor dem Standesbeamten besiegeln lassen und sehr bald ein neues Leben in einer von allen Altlasten befreiten Welt beginnen!
So will ich es wagen, mich von der Last zu lösen, doch auf jene Weise, wie sie mir gegeben, mich unbeschwert zu offenbaren - in der Sprache, die ich so sehr liebe und die von niemandem so gut verstanden, wie von ihr …
Wahrlich habe ich versucht, beim Besinnen auf mir gegeben glückliche Kindheitsjahre nicht all zu weit zurück schwenken zu müssen. Jedoch bleibt mir keine andere Wahl, wenn ich mich solch feinsinniger Begebenheiten, dem Ausgangspunkt folgend grenzenloser Unebenheiten, zu erinnern gedenken will. Lautlos lenke ich deshalb meine besonnenen Sinne in genau jenen Abriss jungen Lebens, von dem es an sich schwerlich denkbar ist, in deutlichen Reminiszenzen schwelgen zu können - nämlich ganz weit zurück bis dicht an den Horizont hinter mir, in die ersten sechs Jahre meines Lebens:
Mein Zuhause war damals eine, so wie ich sie bis heute mit jovialer Unbeschwertheit im Herzen trage, unscheinbar beschauliche Kleinstadt im östlichen Zipfel Thüringens gelegen. Romantisch verwinkelte Gassen vernetzten "mein Städtchen", welches ich zeitlebens viel zu sehr vernachlässigte, in archaischer Gründlichkeit miteinander - denn alle führten sie auf irgendeine geheimnisvolle Weise hin zur einzig geschäftigen Hauptstraße, welche die seinerzeit genügsam gedeihenden Metropolen Thüringens und Sachsens noch auf eine weitaus verkehrsärmere Betriebsamkeit miteinander verband. So gelangte man auch durch eine dieser altertümlich anmutenden Gassen von besagter Hauptstraße aus zu einem breiten, ganz und gar von zwei bis dreistöckigen Mietshäusern umsäumten, talwärts immer schmaler werdenden Platz - dem Kirchplatz. Sonderbare Stille und abgeschiedenes Schattenspiel schien dieser Platz trotz der nicht wenigen Anwohner seit Jahrhunderten für sich gepachtet zu haben. Wie von einem Sockel aus wachte hier unsere mächtige Kirche über das geruhsame Treiben. Und dort, wo der Platz abschüssig, beinahe ehrfurchtsvoll wieder in ein schmales Gässlein überging, sehe ich ein sehr altes, jedoch mitnichten baufälliges Haus mit zwei großen Fenstern rechts direkt neben einer wuchtigen, nur schwerlich von Kinderhänden zu öffnenden Haustür. Hellgrün angestrichen, sauberer glatter Putz und noch einmal genau dieselben großen Fenster in der Etage darüber. Aus dem linken Fenster, eben gleich neben der Haustür, schaut gerade meine Mutter mit ihren wuschelig braunen Haaren und den ebenso braunen runden Augen nach mir - ob ich denn auch noch immer still und brav von der steinernen Treppe aus mit hellwach versunkenem Kinderblick die eher unlebendige Geschäftigkeit hinauf und hinab zur Kirche verfolgte. Genau hier war mein Lieblingsplatz. Stunden konnte ich mit meinen drei oder vier Lenzen auf einer der hohen Stufen sitzend verbringen und dabei mit meinem schaulustigen Köpfchen immer und immer wieder versuchen, auch der kleinsten Beobachtung einen Reiz ab zu ringen. Hinter dem rechten Fenster ward unser Wohnzimmer gelegen, mit zeitgemäßen Schränken, gemütlichen Sesseln und einem noch gemütlicheren Sofa. Dem vis a vis, wo schon wenig später in fast jedem Wohnzimmer ein Fernseher zu stehen pflegte, präsentierte sich ein übergroßes, dumpf dröhnendes Radio. Für mich der eigentliche Mittelpunkt des Raumes. Zu gern hörte ich mir eines der zahlreich gesendeten Kinderhörspiele an, oder lauschte angespannt dem Sandmännchen, von dem ich hieraus jeden Abend wohl oder übel ins Bett geschickt wurde. Einen Fernseher hat wohl seinerzeit noch niemand vermisst - und irgendwie hätte dieser auch partout nicht in jene entspannte Ära gepasst, finde ich. Jedenfalls sollte mir dieser Raum an Behaglichkeit und Wärme spendend schon bald und für den Rest meiner jungen Jahre unerreicht bleiben! Dem Wohnzimmer schloss sich zur Hofseite hin ein fensterloses Zimmer an - das Kinderzimmer. Oder besser gesagt - das Kinderschlafzimmer. Gemeinsam mit meinem älteren und meinem jüngeren Bruder verbrachte ich hier die Nächte und ich kann mich eben nicht daran erinnern, dass wir hier drinnen auch einmal gespielt hätten!? Direkt daneben lag das Schlafzimmer meiner Eltern. Von hier aus konnte man durch ein großes Fenster den lang gezogenen Hinterhof einsehen. Eine Wohnung, wie man sie heute eher selten finden mag, mit quadratisch, hohen Räumen, wo man beim Betreten sogleich in der Küche stand, einer Küche, die im Grunde das Zentrum des Alltags bedeutete - und wo man noch wie selbstverständlich WC und Waschküche über dem Hinterhof in Kauf nahm.
Als unvergesslich belebendes, vor allem friedliches Kleinod habe ich diese frühen Kinderjahre in so arglos genügsamer Umgebung in meinem Gedächtnis verinnerlicht - suche ich doch noch heute rückblickend vergebens danach, irgendeine Form von Unfrieden mit jener Zeit in Verbindung zu bringen…
Wenn man den holperig gepflasterten Hinterhof entlang stolperte, vorbei an Plumpsklo, Waschküche und der (zu meinem Unmut meist) verriegelten Tür hinauf zum "Wäschedach", links an einer hohen Mauer entlang, gelangte man zu einem museal anmutenden Haus. Wie bei einer alten Scheune führte eine hölzerne Treppe hinauf zu einer Wohnung, hinter deren Eingangstür eine unglaublich nette Familie mit einer lustigen, mir gleichaltrigen Tochter wohnte. Oft war ich dort, um mit diesem fröhlichen Mädchen, dessen Name ich leider längst vergessen habe, zu spielen. Ein terrassenartiger Garten mit einer großen Wiese, direkt hinter der "Scheune", gehörte zu dieser Wohnung, wovon man fast so einen vorzüglichen Rundblick über die Dächer meiner kleinen Stadt genießen konnte, wie von besagtem "Wäschedach" aus! Noch heute wird mir ein wenig warm ums Herz, wenn ich mir diesen Flecken samt seiner liebenswerten Bewohner ins Gedächtnis rufe - wenngleich mir ihre Gesichter längst verschwommen sind…
Mehr als ein halbes Menschenleben ist seitdem wie im Fluge verstrichen und doch kann ich jene bildhaften Impressionen der Zufriedenheit noch immer klar und deutlich vor mir sehen. Mein Dasein begann so sanft und friedvoll, so bescheiden und sorglos - wie ich es erst jetzt, seit wenigen Monaten, wieder erfahren darf…
Mein Vater, inzwischen viel zu jung verstorben, schaffte damals als Arbeiter in der größten Fabrik des Ortes. Die Fabrik befand sich genau gegenüber vom Bahnhof, welcher auf meine neugierigen Sinne eine magische Anziehungskraft ausstrahlte. Die vielen Gleise trennten die beiden anziehenden Stätten voneinander und durch einen langen tiefen Tunnel gelangte man zu Fuß oder mit dem Rad hin und her. Einige male habe ich Vater ganz stolz vor dem Fabriktor abgeholt. Hinein durfte ich nie, was mir hingegen auch nicht soviel bedeutete - viel lieber sah ich auf dem Heimweg sehnsüchtig den Zügen mit den dampfend schwarzen Lokomotiven nach, wie sie immer kleiner werdend in der Ferne entschwanden. Vater war ein Einzelkind und ist schon in frühen Jahren mit seinen Eltern aus Niederschlesien hierher vertrieben worden. Meine Mutter, soweit ich mich erinnern kann, arbeitete wochentags lediglich ein paar Stunden vormittags in einer kleinen Textilfabrik, welche sich in einer ebenso kleinen Baracke befand, gleich in der Nähe, wo beiderlei Großeltern wohnten - am anderen Ende des Städtchens. Mehr hätte sie sicher auch nicht arbeiten können, bei drei kleinen Kindern daheim. Geboren und aufgewachsen ist sie mit drei Geschwistern zusammen in einer viel größeren Stadt, als es "mein Städtchen" war, im Harzvorland gelegen. Eine Stadt, die schon bald keine unwesentliche Rolle mehr in meinem Leben spielen sollte. Irgendwann war Mutter von dort aus ihren Eltern, die sich hier nach dem Krieg der Arbeit wegen niederließen, nachgereist und hat dann nicht zuletzt ob der anfänglichen Liebe zu meinem Vater hier ihre neue Heimat gefunden. Vater und Mutter, beides eingewurzelte Arbeiter, genau wie meine beiden Großelternpaare, die sich jedoch im stark subventionierten Bergbau weitaus besser standen. Schon von meiner kindlichen Ebene aus vermochte ich zu erkennen, wie weiträumig das Umland davon geprägt wurde und sich dabei gar immer gieriger in die hügelig grünen Wiesen und Wälder fraß! Überall ragten diese so genannten "Spitzkegelhalden", gewaltiger als jeder Berg, den ich bis dahin zu Gesicht bekommen hatte, in den Himmel - und ich wunderte mich immer wieder darüber, weshalb kein Gras und keine Bäume darauf wuchsen. Nach dem "Warum" jedoch habe ich niemanden gefragt, viel lieber überließ ich die "Antwort" meiner Fantasie - und fühlte mich wohl dabei. Das "Fragen" wollte sich einfach nicht meinem Usus unterwerfen, was sich wie ein abbremsender Faden durch mein ganzes Leben zog und meinen Scharfsinn so manches male in die Enge trieb!
Trotz aller milieuhaften Ungereimtheiten, welche sich ohnehin meist rasch wieder meinem kindlichen Leichtmut unterwarfen, dachte ich nicht ein einziges Mal daran, dass es mir an irgendetwas hätte fehlen können. Im Gegenteil, ich schien sehr früh reif dafür, meine Zufriedenheit förmlich aufsaugen zu können, jeden Tag aufs Neue. Beinahe so, als müsste ich diese wie in einer Vorratskammer tief in mir verwahren. Überhaupt hatte ich doch alles, was man in damaliger Zeit als ein Arbeiterkind hätte erwarten dürfen. Immer gab es reichlich zu essen und auch genügend Kleidung hing für uns Kinder im Schrank bereit, wie auch zu Weihnachten und zu Ostern unsere kleinen Herzen immer aufs intensivste erfreut wurden. Ein Spielzeugnarr bin ich jedoch nie gewesen, denn viel lieber ging ich (am liebsten bei jedem Wetter) im Freien auf Entdeckungstour, wofür mein dunkelgrüner, luftbereifter Roller mit keinem Spielzeug der Welt auf zu wiegen gewesen wäre. Und doch gab es da etwas, was ich niemals hätte hergeben wollen, worauf ich mich liebend gern zurück zog, ob an verregneten Tagen oder halt einfach nur, um mich verträumt in meine frühzeitigen Besinnlichkeiten zurück zu ziehen - mein wackeliges, lustig weißes Schaukelpferd!
Keine Bauklötzer und erst recht keine Spielzeugautos waren es, welche mir besondere Aufmerksamkeit entlockten. Vielmehr bestimmte alternierende Sorglosigkeit, pendelnd zwischen verträumter Zurückgezogenheit und quicklebendigem Bewegungsdrang, meine frühesten Jahre. Sicherlich auch ein Beleg dafür, nicht unbedingt ein "schwieriges Kind" gewesen zu sein, denn so richtig austollen konnte und wollte ich mich nur im Freien. Daheim hockte ich entweder andächtig auf dem Teppichboden vor dem Radio - oder eben mucksmäuschenstill auf meinem geliebten Schaukelpferd.
Das Ganze hatte nun aber auch einen Haken, denn trotz aller Bemühungen sollte ich ganz schnell als "nicht Kindergartentauglich" befunden werden! Kränkelnd hockte ich dort fast den ganzen Tag über in einer Ecke und wartete wie ein Hund im Zwinger nur darauf, wieder "freigelassen" zu werden. Kein anderes Kind und erst recht keine noch so nette Kindergärtnerin schaffte es, dem deprimierten Jungen jenen spartanisch geregelten Tagesablauf auf zu erlegen. Dies war das erste mal in meinem Leben, wo ich es geschafft hatte, mir mit stillen Schreien Gehör zu verschaffen, denn nur wenige male musste ich diese "entsetzliche Prozedur" über mich ergehen lassen. Schon bald durfte ich, solang Mutter bei der Arbeit war, bei meiner Oma frei und ausgelassen herumtollen - und träumen …
Höhepunkte, ja wahre Feiertage, waren für mich die Ausflüge in die mir wie eine stetig blühende Märchenwelt erschienene Umgebung, wie ich diese vom Kindersattel auf Vaters Fahrrad aus erleben durfte. Jenes mir so unendlich weit, still und zauberhaft grün erschienene Tal, welches sich sanft blühend unterhalb des Städtchens entlang der Bahngleise erstreckte, hatte es mir besonders angetan. Schon nach wenigen Augenblicken unbesorgt und frei auf dem riesigen Rad wohl behütet dahin schwebend, wähnte ich mich hier wie in besagter Märchenwelt. Eine erhabene Oase mit endlosen Wiesenfeldern, so erlesen grün, wie sie mir in Kinderjahren nie wieder erschienen sind, umsäumt von undurchlässigen Wäldern, wie ich sie anheimelnder nie wieder wahrnehmen konnte und einem sonnengefluteten Duft, wie ich ihn später gleichsam vergeblich suchte! Zum allerersten male habe ich hier Tiere in freier Natur bewundert und es beeindruckte mich ungemein, wie auch Vater Hase und Reh, in stillem Respekt versunken, beobachtete. Momente der Begegnung, die meine Sinne auch ohne vieler Worte dahingehend formten, die Tiere und Pflanzen zu achten als einen Teil unser aller Lebens. Vater war kein Verfechter großer Worte. Ein Blick von ihm bedeutete manchmal hundertmal mehr als ein gesprochenes Wort! Meine primären Begegnungen mit der Natur - und mit Ehrfurcht langte ich nach dieser mir so jung geschenkten Gabe, jenes Elixier des Lebens auf die sanfteste Weise aufnehmen zu können. Erst wer weiß wann habe ich erkannt, wie sehr mich diese meditativen Eindrücke geprägt haben.
Wenig später schon walzte der Bergbau mein geliebtes "Märchental" mit unfassbarer Rohheit einfach so nieder. In meinem Inneren jedoch entzückt es bis heute mein Gemüt, sobald ich meine Gedanken dorthin schweifen lasse…
Vater hat nie aufgehört, als der gütige Mensch, der er trotz aller gegensätzlichen Behauptungen für mich bedeutet, in meinem Geiste fort zu leben! Auch mit noch so versteinerter Miene erschien er mir nicht ein einziges male bösartig. Obgleich er eher ein "Leisesprecher" war, mochte man sein Wesen nicht unbedingt als verschwiegen und reserviert bezeichnen. Ich jedenfalls suche vergebens nach Gründen, mich ob seines Verhaltens uns Kindern gegenüber zu beschweren. Unumwunden verbiete ich es mir aber auch, die Aussagen anderer Wegbegleiter über ihn zu verurteilen. Schließlich war ich damals kaum reif genug, das Leben auch außerhalb meiner Sichtweite einzuschätzen - ein herzloser Mensch jedoch ist er nie und nimmer gewesen!
Wenn auch leicht verschwommen, so vermag ich mich allerdings auch zu erinnern, dass diese liebevolle Basis keineswegs zwischen ihm und Mutter Permanenz besaß. Doch auch meine Mutter war mir in jener Phase noch ein fürsorglicher Rückhalt gewesen, welcher sich aber fast ausschließlich auf das häusliche Umfeld beschränkte. Bei all dem mir erschienenen Frohsinn glaube ich mich nicht daran erinnern zu können (jedenfalls nicht soweit, wie ich in der Lage bin, es mental zu belegen), wo sie gemeinsam mit Vater, mir und meinen Brüdern einmal einen Ausflug oder Ähnliches unternommen hätte. Ein Umstand, dem mit Gewissheit jedes Kind mit tiefer Dankbarkeit entgegnet, so es diesen erfahren darf! Demnach vermisste ich es auch nicht, zumal ich gerade in jener Hinsicht von meinem Vater niemals vernachlässigt wurde. Und ich liebte diese bescheidene Art, Freude zu empfangen - so wie ich mich selbst zwei Jahrzehnte danach in "ihm" wieder erkennen sollte. Aber auch in Mutters Obhut fühlte ich mich liebevoll umhegt. Ich spürte ihre Freude an meinem Dasein und genoss ihre entschiedene Art, mich von Zwängen zu befreien. Sie war seinerzeit noch eine sehr besonnene, beinahe sanftmütige Frau!
Jene immer wiederkehrenden Freuden wurden nur noch von einem "getopt", nämlich von den sonnigen Tagen im Schrebergarten meiner Großeltern! Idyllisch auf einem gemach aufsteigenden Hang oberhalb des Städtchens gelegen, einzig durch einen mir endlos erschienen schmalen Weg entlang eines wenig befahrenen Eisenbahngleises erreichbar - mit unzähligen kunterbunt blühenden Blumen darin, prallen Früchte tragenden Obstbäumen, einem riesigen Stachelbeerstrauch, dichten Erdbeerreihen, einer lustigen Kinderschaukel inmitten des von rastlos wuchernden Pflanzen eingeengten Gartenweges und einer kleinen, üppig grünen Wiese vor einer farbenfroh bemalten Laube mit wackeligen Gartenmöbeln davor. Immer hielt Oma eine fein schmeckende Überraschung für mich bereit, während Opa wie ein großer, fröhlicher Lausbub mit seinem Enkel über Wiese und Beete tollte (während Vater wegen seiner "ausgewogen floristischen Beschlagenheit" nicht mal in die Nähe eines Beetes kommen durfte!). Vaters Eltern mit ihrem herzend schlesischen Dialekt waren mir die liebsten Menschen weit und breit!
Mutters Eltern waren da aus völlig anderem Holz geschnitzt, obgleich ich auch sehr gern in ihrer Nähe war. Damals lebte sogar noch meine Urgroßmutter bei ihnen, dessen Geburtsjahr auf anno 1880 fiel. Bis heute vergleiche ich bei fast jeder sich bietenden Gelegenheit irgendwelche geschichtlichen Daten mit diesem Jahr und es macht mich auf eine ganz besondere Weise stolz, noch einen Menschen aus dem 19. Jahrhundert gekannt zu haben! Gestrenge Menschen (Urgroßmutter natürlich ausgenommen) mit entschieden kommunistischer Maxime und dabei trotzdem sehr umgänglich. Zum Glück konnte dieses sowjetisch gesinnte Gehabe niemals auf meine etwas leichtfertige, stetig nach Einklang trachtende Wesensart Einfluss nehmen. Schon als kleiner Junge vermochte ich es keineswegs nach zu vollziehen, was denn das Tragen einer Jeanshose, oder damals in jener Region auch "Nietenhose" genannt, damit zu tun haben sollte, ob denn ein Mensch gut oder böse sei? Randbegebenheiten, nach deren Sinn zu erforschen mich längst (noch) nicht drängte - fühlte ich mich doch pudelwohl in deren Wohnung mit den riesigen, hellen Räumen und dem meine Sinne total begeisternden Zigarrengeruch, den ich sonst von nirgends her kannte. Oma und Opa waren beide starke Raucher und obwohl ich niemals selbst diesem Laster verfallen bin, zog es mich als kleiner Junge schier magisch in die Nähe dieser, wie ich es empfand, mystischen Dunstwölkchen. Ausgelassen, wenn auch stets geziemt, durfte ich auf dem fast das gesamte Wohnzimmer ausfüllenden Teppich, dessen Muster mir wie ein endloses Straßennetz erschienen, mit Opas Modellautos spielen. Opa war ein Bastler und Knobler mit Haut und Haaren. Seelenruhig baute er mit stoischer Gelassenheit über Jahre hinweg an einer den gesamten Hobbyraum ausfüllenden Modelleisenbahnanlage herum, welche man dann einfach so an der Wand hochklappen und damit verschwinden lassen konnte. Oder er feilte den ganzen Tag über in seinem engen Kellerchen an irgendwelchen Eisenteilen herum. Sehr genau kann ich mich noch an ein Schwert erinnern, welches fast genau so groß war wie ich selbst und nicht einen Zentimeter von mir in die Höhe gehievt werden konnte. Stillschweigend, beinahe vergötternd (und doch niemals mit einer Frage belastend) beobachtete ich ihn so manche male dabei. Und es waren nicht die technischen Details, welche meine Aufmerksamkeit schürten, vielmehr war es seine unnachahmliche Natur, sein gediegenes Geschick und seine sanftmütig disziplinarische Gelassenheit.
Zu meinem anderen Opa jedoch, dem immer lustigen Gesell, wie er quicklebendig vor mir in der Badewanne herumplanscht oder eben mit mir in seinem farbenfrohen Garten über Rasen und Beete tollt, zog es mich trotzdem tausend mal mehr! Er verkörperte ganz einfach die Art des "Seins", wonach mein kleiner Kopf sich verzehrte - mit der er wahrhaft harmonischen Widerhall bei meiner Oma fand!
Am wenigsten und auch am unliebsamsten fallen für mein eher empfindsames Ego die Erinnerungen an meine "gestrenge" Oma aus, die vielmehr eine herbe Dame mit ebensolcher Stimme samt eisernen Zepter in der Hand, als denn eine liebe Oma darstellte. Allerdings kam sie mit ihrem "Herrscherstab" bei Opas stoischer Gelassenheit und der eher unproblematischen Naturells ihrer Enkel kaum zum Zuge - vielmehr und einzig sollte sie da (wie mir erst später Bewusst werden sollte) bei meiner Mutter immer wieder sattsam Anlaufpunkte finden. Ihre ganz speziellen Vorzüge hatte jedoch auch sie, die zu erfahren es aber noch Jahre des Heranwachsens benötigte.
Eher schwer fällt es mir, in meinem Gedächtnis nach gemeinsamen Erlebnissen mit meinen Brüdern aus jener Zeit zu suchen. Der ältere von beiden verbrachte die meiste Zeit, ich weiß bis heut noch nicht recht den Grund dafür, bei meinen "gestrengen Großeltern" - und der jüngere war eben noch viel zu klein, als dass ich viel mit ihm gemeinsam hätte erleben können. Lediglich, dass jedoch in aller Deutlichkeit, besinne ich mich da an eine "rasende Abfahrt" den Kopfsteinpflaster beschlagenen Kirchberg vor unserer Haustür hinunter, wo wir in einem klapprigen Handwagen hintereinander hockend doch glatt einer älteren Dame nicht mehr ausweichen konnten - worauf wir ihr ungebremst mit dem haltlos umherschwenkenden Lenker voraus zwischen ihre dünnen Beine gerast sind! Plötzlich begrub die erbost wetternde alte Dame mit ihrem hageren Körper längelang zwei kleine Jungen unter sich - ehe das Gefährt direkt vor unserem Küchenfenster zum Stehen kam! Das ganze hätte wohl ohne wenn und aber in jeden heiteren Hollywoodfilm gepasst, da ja vor allem auch der armen Lady bis auf einen riesigen Schrecken nicht das Geringste passiert war. Doch so lustig sich dieses Malheur auch anhören mag - so bitter klang das Nachspiel lange in uns nach! Ein wenig blasser vermag ich mich der Einschulung meines älteren Bruders, der mir eigenartiger Weise immer etwas unzugänglich erschien, zu entsinnen - zu der auch ich eine kleine "Schultüte" überreicht bekam. Glückstrahlend hielt ich die bunt bemalte, prall gefüllte Papptüte in den Händen und schaute wie ehrfürchtig zu meinem großen Bruder auf - fast so, als ahnte ich schon, dass er bald als bester Schüler beider ansässigen Schulen ungeahnten Bekanntheitsgrad erlangen sollte!
Wenige Monate später bekamen wir wieder Zuwachs, nämlich ein kleines Schwesterchen drängelte sich lauthals in unsere bis dahin so stille Kinderstube. Ich selbst war es jedoch, der sich am meisten darauf freute, endlich auch ein kleines Mädchen bei uns begrüßen zu können. So konnte ich es kaum erwarten, bis Mutter mit dem kleinen Bündel aus der Klinik heim kam, durfte ich selbst doch sogar den Namen aussuchen. Mit der friedsamen Gelassenheit jedoch, welche bis dahin unser Dasein regierte, schien es nun mit einem male dahin - denn so, als wolle das kleine Mädchen uns stets aufs Neue ihre "Ankunft" bedeuten, bestimmte von nun an grelles Babygeschrei den Tagesablauf. Schockiert und belustigt zugleich suchten mein Bruder und ich diesen eher unbegreiflichen Neuumstand zu verarbeiten. Wiederum war es uns dann irgendwann Versuchung genug, dem stimmgewaltigen Quälgeist von Zeit zu Zeit zusätzliches Stimulans zu entlocken. So beugten wir uns, natürlich nur, wenn Mutter grad mal nicht in der Nähe war, frömmelnd über das am Tage meist in der Küche stehende Kinderbett, um sie von ihrem "Dauergeschrei" ein wenig ab zu lenken. Dann zogen wir sie bei den dünnen Ärmchen hoch, als wollten wir sie aus dem Bettchen heben - um sie dann einfach wieder, wenn auch behutsam, zurück plumpsen zu lassen. Kichernd huschten wir danach wieder nach neben an, als unser kleiner Quälgeist daraufhin noch heftiger als zuvor zu schreien begann. Mutter hatte nie etwas von unserem Jungenstreich bemerkt, so dass wir uns genüsslich in unserer Schlitzohrigkeit sonnen konnten. Schließlich war es die einzige Art, wie wir uns ein wenig bei dem kleinen Störenfried rächen konnten, so niedlich sie auch immer war. Überhaupt war nun mein jüngerer Bruder endlich soweit, dass ich mit ihm richtig herumtollen konnte, was eben oft in irgendeinen Unfug ausartete. Er war eben genau solch ein quirliger Hüpfer wie ich selbst, wenngleich bei weitem nicht so verträumt - so das geliebte Schaukelpferd auch weiterhin mir allein gehörte…
Bei alledem, fast so, als wäre die Geburt unserer kleinen Schwester der Auslöser dafür gewesen, spürte ich ein seltsam ungutes Lüftchen über mir schweben - das meine heile Welt zu erdrücken drohte! Ein Lüftchen, so unerträglich fremd riechend wie jene unliebsam lästige Frau, viel jünger als Mutter. Ebenso unliebsam klang mir ihr Name wie ein schallendes Unwetter im Ohr. Und das Unverständlichste dabei war, dass ich diese Frau auf Geheiß meiner Mutter auch noch "Tante" nennen sollte! Ich wusste, dass ich eine Tante in ihrer fernen Heimatstadt hatte, wenngleich ich mich einer frühen Begegnung mit dieser nicht entsinnen kann - und ich hatte eine super nette Patentante, direkt über meinen "gestrengen" Großeltern wohnend. Weshalb auch immer, so wusste ich doch, dass jene echte Tante super nett sein würde - wieso also sollte nun diese "fremd riechende" Frau eine Tante für mich sein!? Und ich spürte, von grollenden Bauchschmerzen begleitet, dass an dieser Sache irgendetwas ganz gewaltig st….
Den zu jener unwillkommenen Frau gehörenden Mann fand ich hingegen ganz erträglich. Ein groß gewachsener, immer lustiger Typ, viel dünner als Vater. Pausenlos hat er seine Späßchen mit uns gemacht und sich überhaupt nicht für die lebhaften Dialoge der Frauen, dessen Sinn ich überhaupt nicht verstand, interessiert. Das Ganze ließ ihn mir wie einen großen Bruder erscheinen und ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass er der Mann dieser unliebsamen Frau sein sollte! Ungemein herzlich fand ich es, wie er meinen kleinen Bruder und mich auf sein schwarz glänzendes Motorrad setzte und uns darauf fotografierte. Unzählige male habe ich noch Jahre später mit ganz besonderem Augenmerk jenes Schwarzweißbild betrachtet, auf dem sich mein kleiner Bruder enthusiastisch über den Lenker beugt, während ich selbst kerzengerade auf dem Rücksitz sitzend, fragend in die Kamera starre…
Zwei oder drei mal kamen die Beiden von irgendwo her auf Kurzbesuch zu uns. Aber immer nur, wenn Vater nicht daheim war. Entweder glaubten sie, dass dies einem kleinen Jungen wie mir nicht auffällt, oder es war ihnen völlig egal - aber es ist ihm aufgefallen! Mit Vater darüber reden, habe ich nie gewagt - aber ich habe ihm von nun an sehr oft und sehr tief in die Augen geschaut. Viel tiefer, als ein Erwachsener glauben mag, dass ein Kind dazu fähig sein kann. Und ich habe dieses dumpfe Gleißen in seinen Augen bis heute nicht vergessen, als hätte ich dabei in ein ankündigendes, mir unerklärliche Dinge prophezeiendes Fernlicht geschaut…
Überall in der Wohnung konnte man es förmlich greifen - die Spannung auf eine bevorstehende Reise! Auf eine Reise, welche, wie selbst mein unreifer Instinkt leicht erkannte, mich weit über die Grenzen meines geliebt verträumten Tales hinaus tragen würde. Natürlich lenkte die Neugier hierauf meine gekränkten Sinne ein wenig ab von den ständigen Gedanken an Vater und meine lieben Großeltern…
Vater war seit jenen beängstigenden Besuchen immer erst kurz vor dem zu Bett gehen nach Haus gekommen. Meist hab ich ihn dann gar nicht mehr zu Gesicht bekommen. Wenn ja, dann sah ich ihn lediglich stumm und reglos am Küchentisch sitzen und nicht mehr, als ein müdes und dennoch herzliches Lächeln für uns Kinder aufbringen - während Mutter lustlos und ebenso still im Raum umher hantierte. Zum ersten male erfuhr ich hierbei so etwas Ähnliches wie Unfrieden, welcher jedoch (von schier unheimlicher Verschwiegenheit und Distanz gezeichnet) mein junges Gemüt im Gegensatz zu später noch arg verschonte!
Genau am ersten Geburtstag unserer kleinen, noch immer eifrig kreischenden Schwester sollte die Spannung ihren Höhepunkt erlangen! Beim Aufstehen in der früh bemerkte ich sofort, was Sache war, denn nie vorher habe ich Mutter so hastig umher wetzen sehen - und schon wenig später eilten wir vier, ohne meinen älteren Bruder, hastig mit Koffer und Kinderwagen zur Bushaltestelle. Hin und her gerissen zwischen trauriger Niedergeschlagenheit und angespannter Neugier ließ ich diesen sonderbaren Umstand wie passiv über mich ergehen. Nur auf diese Weise war es wohl meinem kindlichen Gemüt gegeben, dem anstehenden Tränenfluss zu widerstehen. Versteinerte Blicke aus dem Busfenster forderten und prüften meine bislang von Leid verschonte Seele auf eine mir nimmer vergessene Weise:
Obgleich sich der schaurige Wintertag noch immer schwer tat, die lange eisige Nacht hinweg zu wehen - so erkannte ich doch in aller Klarheit auf einem schmalen Weg am Horizont, von wo man ganz sicher mein geliebtes Tal einsehen konnte, Vater auf seinem großen schwarzen Fahrrad uns verzweifelt nachradeln. Behutsam, die kleinen Finger fest an der beschlagenen Fensterscheibe, winkte ich ihm zu - er weinte, zurück gewunken jedoch hat er nicht…
Und meine verschwommenen Augen blickten zurück zu den sich immer weiter entfernenden Lichter meines friedlichen Städtchens. Sie überflogen die zahllosen Dächer hinüber in Opas bunten Garten, wo er soeben lustig zwischen den Erdbeerreihen umher tapste und Oma gerade einmal wieder ganz lieb mit ihm schimpfte. Ich spürte den Sommer - mitten im Winter! Oma und Opa gingen hinaus zu dem langen, schmalen Weg, welcher hinunter ins Städtchen führte - und sie lächelten mir nach, so liebevoll und doch voller Wehmut. Ich winkte auch ihnen zärtlich zu - doch auch sie haben mir nicht zurück gewunken…
Verloren die Neugier, sah ich verwirrt hinüber in das unruhig entschlossene Antlitz meiner Mutter und wagte es doch nicht, sie danach zu fragen:
‚Was nur - wird aus meinem Schaukelpferd???"
Wie nur hätte ich seinerzeit für möglich halten können, was mich erwarten würde?!
Auf ewig unannehmbare, fremde Gerüche…
Menschen, welche mir im Herzen unerreichbar fern…
Schmerzhaft unwirkliche Umstände…
Auferlegte Nähe, so unsensibel und barsch…
Ein massiger Klos im Hals, sich meines Daseins ermächtigend…
Eine Mutter, die zu lieben mir nur noch aus der Ferne gelang…
Wie das vorsichtige Verlangen nach Wärme und Verständnis sich in Luft auflöste…
Die Schmerzen unter der Brust, wenn die Gedanken mich zurück riefen…
Das jedoch, mein Schatz, ist eine ganz andere Geschichte, jedoch ebenso wahr und erschöpfend!

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung der Autorin / des Autors.


»»» Kurzgeschichten   |     Humor   |   Kindergeschichten   |   Gedichte   |   Gedichte   |   Gedichte   |   Gedichte   |   Gedichte   |   Lesebuch   |   Seitenanfang
© Dr. Ronald Henss Verlag