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Grinsegesichter auf der Autobahn

© Ruedi Baumann


Ich war mit meinem 26-Tonnen-Anhängerzug am Freitagabend auf der Heimfahrt vom Welschland nach Zürich. In Bern-Schönbühl sah die Fahrroute einen letzten Halt beim Migros-Verteilerzentrum vor. Es herrschte bereits Spätherbst und fortgeschrittene Dunkelheit, als ich mit dem Hubstapler die für Bern bestimmten Paletten auslud, den Elektro-Hubstapler anschliessend an die Ladestation anschloss, mir die Hände waschen ging und die Weiterfahrt unter die Räder nahm. Nach etlicher Kurverei über die Migros-Schönbühl-Ausfahrt und die Einfahrt zur A1 befand ich mich im dichten, aber flüssig dahinrollenden Freitagabendverkehr. Ein kurzer Blick auf die Uhr: Alles bestens im Timing.
Nach einer Weile musste ich irritiert feststellen, dass etwas im Verkehrsgeschehen anders, beziehungsweise ganz und gar unüblich war. In sämtlichen mich überholenden Personenwagen bemerkte ich grinsende Gesichter, welche sich unmissverständlich zu mir umgedreht hatten. Das heisst, eigentlich sah ich durch die Fenster in der Dunkelheit nur haufenweise Zahnreihen, die mich offensichtlich angrinsten. Die gesamte Welt schien plötzlich in pure Fröhlichkeit getaucht zu sein, eine an sich erfreuliche Tatsache. Befremdlich jedoch nur deswegen, weil ich mir keinen Grund für diese unerwartete allgemeine Heiterkeit vorstellen konnte. Ein Kontrollblick in die Aussenspiegel erbrachte auch keine Erleuchtung; brav tanzten die Positionslichter des Anhängers hinterher. Soviel ich sehen konnte, waren auch noch alle Räder dran.
Die Grinsegesichter dauerten jedoch an - und ich begann mich der Idee anzufreunden, ein mir unerklärlicher Frohmut habe irgendwie die halbe Welt angesteckt. Vielleicht eine Art Virus oder Sonnenwind. Ich grinste und wedelte mit der Hand sogar zurück, als ich freundlich winkende Hände und Arme bemerkte. Nach der Ausfahrt Kriegstetten überholte mich ein Patrouillenwagen der Autobahnpolizei. Diesmal keine Grinsegesichter, sondern eine weissrote Leuchtkelle aus dem rechten Seitenfenster mit der unmissverständlichen Aufforderung "Polizei. Stop!".
Also Blinker raus und auf dem Pannenstreifen angehalten.
Während der vordere der beiden sich zu Fuss nähernden Polizeibeamten ein bärbeissig-strenges Gesicht aufgesetzt hatte, zeigte sein jüngerer Kollege ganz unverhohlen die mir nun schon bekannten weissen Zahnreihen.
"Finden Sie das etwa komisch?" fragte der mit dem strengen Gesicht, während sein Kollege, noch immer grinsend, meine Ausweispapiere begutachtete. Auf meine Frage, was ich denn - ausser den mir unerklärlichen vielen Grinsegesichtern auf der Autobahn, Polizei inklusive - komisch finden sollte, meinte Polizist Nummer eins: "Das, was Sie hinter Ihrem Lastwagen herziehen!"
Ich trat einen Schritt zurück, bückte mich sogar (um u.a. die Räder zu zählen) und konnte nichts Außergewöhnliches feststellen. "Den ziehe ich doch immer hinterher", erwiderte ich den Polizeibeamten. "Da ist nichts Komisches dran."
Der Polizeibeamte: "Von was reden Sie?"
"Na, vom Anhänger natürlich!"
"Den meinen wir aber nicht - sondern das, was Sie hinter Ihrem Anhänger herziehen!"
Ich muss ein absolut ehrlich-fragendes Gesicht gemacht haben als ich verständnislos stotterte: "Hi…. - hinter dem Anhänger…!? Da ist nichts und da war nie was."
"Soso! Dann kommen Sie doch mal mit und erklären uns das vielleicht genauer." Mit diesen Worten nahm mich der eine Beamte am Arm und führte mich zum Ende des Anhängerzuges.
Da war tatsächlich etwas. In ungefähr zehn Metern Abstand wartete geduldig ein ungefähr 90 Zentimeter hoher, weisser Stoffpudel auf kleinen roten Holzrädern auf die Weiterfahrt… Eine solide Schnur verband das Tier mit dem Anhänger.
Völlig verdutzt starrte ich das Anhängsel an. Im selben Augenblick überkam mich schlagartig die grosse Erleuchtung: "Die Grinsegesichter! Das ist doch die Erklärung!"
"Welche Grinsegesichter?" fragte der Beamte misstrauisch.
"Na, die auf der Autobahn. Seit Schönbühl grinsen mich die Insassen sämtlicher überholender Autos an. Ihr Kollege ja auch." Ich präzisierte: "Bis vorhin."
Ich stellte mir das Bild des hinter dem Anhängerzug herrasenden weissen Pudelhundchens plastisch aus der Sicht der andern Verkehrsteilnehmer vor und musste laut loslachen. Vorsichtshalber setzte ich mich am Strassenrand hin.
"Also Sie haben den Pudel nicht am Anhänger festgebunden?"
"Nein, sicherlich nicht!" antwortete ich und wischte mir mit dem Jackenärmel die Tränen aus den Augen. "Den kann mir nur ein Spassvogel im Migros-Verteilerzentrum Schönbühl während dem Händewaschen klammheimlich am Anhänger angebunden haben."
Ende gut - alles gut. Die Polizisten sahen von einem Rapport mit Verzeigung wegen groben Unfugs, Gefährdung des Strassenverkehrs usw. ab und verzichteten auch auf eine Beschlagnahme des Hundchens. Der Fahrtenschreiber hatte als letzten Halt, das konnte unschwer anhand der zurückgelegten Kilometer abgelesen werden, den Halt in Schönbühl registriert.
Der "Übeltäter" konnte nie eruiert werden. Zwar wirkte der Fröhlichkeitsvirus noch eine Zeitlang nach, denn immer wenn ich in Schönbühl die Rede auf den weissen Pudel brachte, begannen reihum alle zu grinsen.
Was mir jedoch ewig ein Rätsel bleiben wird: Wie zum Kuckuck hat es das Stofftier geschafft, brav auf seinen kleinen Holzrädchen durch alle Kurven zu kommen - und mit immerhin 86 km/h ohne sich zu überschlagen über eine Strecke von beinahe 20 Kilometern hinter mir herzurasen..?
Das Pudelhundchen hatte übrigens noch viele Jahre einen Ehrenplatz in meiner Wohnung.

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