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Aussichten

© Sylvia Thomas


Wider besseren Wissens zieht es mich zurück. Zurück zu einem Haus, das es nicht mehr gibt. Übrig geblieben, sind ein großer Haufen Bauschuttrecycling, ein Stapel alter Balken, Türen und Fenster.
Mein Kurt riet mir, es zu lassen. Dorthin zurück zu kehren, führe zu nichts. Nun stehe ich hier und erkenne, dass auch ein Weg, der ins Nichts führt, eine Spur bittersüßer Wehmut in meinem Herzen hinterlassen kann.
Erst jetzt, da ich vor diesen Überresten stehe, erkenne ich, dass ich dieses Haus geliebt habe, dass es ein Teil von mir war.
Ich zwänge mich durch den Bauzaun, der die Menschen vor dem Rest, der von dem Haus übrig blieb, schützen soll. Magisch zieht mich der penibel getrennte Stapel Fenster an, der abseits liegt. Ich knie mich vor ihm hin, wie vor ein Grab. Meine Finger berühren die morschen Fensterflügel. Abblätternde Farbe bohrt sich in meine Fingerkuppen.
Mit Verwunderung erkenne ich eine kleine Gravur, unsichtbar für Anderer Augen. K + K - Kurt und Kriemhild.
Meine Gedanken wandern zurück, in längst vergangene Zeiten.
Als kleines Kind betrat ich an der Hand meiner Mutter die neue Wohnung mit großem, staunendem Blick. Mutter erklärte, dass es unser altes Haus nach dem Krieg nicht mehr gab. Wir hatten nur ein Zimmer zur Verfügung. Drei komplette Familien waren in einer großen Wohnung untergebracht. Enge beherrschte die Zeit, aber auch Glück. Meine Freunde wohnten in der gleichen Wohnung. Das war praktisch. Wir Kinder wuchsen die ersten Jahre wie Geschwister auf.
In diesem einen kleinen Zimmer, das sich unsere ganze Familie, wir waren vier Personen, teilte, existierte genau dieses Fenster. Ich sehe mich noch als Kind am Fenster sitzen, durch die blank geputzten Scheiben sehen, die an diesem einen Tag wunderschöne Eisblumen verzierten. Immer wieder hielt ich meine kleinen Finger an die kleinen Wunderwerke, die unter meiner Körperwärme zu einem Nichts schmolzen und kleine Löcher in der Blumenwiese am Fenster hinterließen. Noch einmal halte ich meinen Finger an das noch intakte Glas. Heute hinterlasse ich nur noch einen schmutzigen Fingerabdruck.
An jedem heiligen Abend lief ich erwartungsvoll von der Kirche nach hause. Vor meinem geistigen Auge schaue ich noch einmal in das Fenster, sehe den hell erleuchteten Weihnachtsbaum. Viele Geschenke gab es zu jener Zeit nicht. Ein paar selbst gestrickte Wollsocken, einen Schal, ein paar Filzschuhe - und das Gefühl, reich beschenkt worden zu sein.
Später zogen meine Freunde mit ihren Familien aus. Ich war sehr traurig, aber meine Eltern
schien es zu freuen. Endlich Platz! Allerdings schlief ich noch immer im Schlafzimmer meiner Eltern, da die große Wohnung zu drei kleinen umfunktioniert wurde. Wir waren stolze Besitzer einer Zwei-Raum-Wohnung!
Auch später, als ich meinen Kurt kennen und lieben lernte, änderte sich an unserer Situation nichts. Wohnraum war knapp. Auch als frisch verheiratetes Paar lebten und liebten wir im Schlafzimmer meiner Eltern. Es kommt mir wie gestern vor, dass wir beide aufmerksam lauschten, um endlich die gleichmäßigen Atemzüge meiner Eltern zu vernehmen. Nachdem sie eingeschlafen waren, begannen wir unser Liebesspiel, vorsichtig und leise, um ja niemanden zu wecken. Ich bete heute noch, dass sie tatsächlich immer schliefen.
Ein paar Monate später zogen meine Eltern aus, und wir hatten eine ganze Wohnung für uns. Das Paradies auf Erden! An den Wochenenden schliefen wir bis zum Nachmittag. Schon allein, wenn ich daran denke, fühle ich wieder die wärmenden Strahlen der Sonne auf meiner nackten Haut, die durch das Fenster auf unser Bett fielen. Ich sehe noch immer den Schatten des Fensterkreuzes auf unseren jungen, verschlungenen Körpern. Ich schmecke noch immer das Salz auf Kurts Haut, spüre noch immer seinen Herzschlag neben den meinem.
Und das war auch der Zeitpunkt für das K + K im Fensterkreuz, geschnitzt von dem liebevollsten Mann als Zeichen ewiger Verbundenheit.
Das Fenster wurde von uns gehegt und gepflegt, wie unsere junge Liebe. Fensterkitt war immer zur Stelle, wenn erste Hilfe notwendig war. Beinahe zärtlich streichelte mein Kurt das Fenster mit dem Pinsel, wenn es alle zwei oder drei Jahre einen neuen Anstrich brauchte.
Unser ganzes Leben spielte sich in dieser Wohnung ab. Ich bekam zwei Kinder, für die wir als Kinderzimmer die Mansarde ausbauten. Not machte erfinderisch.
Nun bin ich Rentnerin und mein ganzes Leben scheint mir plötzlich wie dieses Gemäuer eingerissen. Meine Kinder wohnen in Brüssel und München. Es sind liebe Kinder, die mich täglich anrufen. Aber was ist ein Anruf, wenn das Mutterherz nach Nähe schreit? Ich bin ein verständiger und realistischer Mensch. Die Kinder müssen fort. Natürlich. Ihren eigenen Weg finden, arbeiten, sich ein eigenes Leben aufbauen.
Wenn da nur nicht die vielen anderen lieben Menschen wären, von denen ich mich in letzter Zeit trennen musste. Freunde ziehen weg, Angehörige sterben, was bleibt, bin ich, mein Kurt und ein altes Fenster. Ausgedient. Zum Sterben verurteilt.
Am Bauzaum hängt ein großes Schild, dass diese Maßnahme durch den Bund im Rahmen des Städteumbaus Ost gefördert würde. Einige Prognosen sagen für Ost-Deutschland einen ungebremsten Rückgang der Gesamtbevölkerung voraus. Ironischerweise bekommen die blühenden Landschaften so eine ganz andere, eine neue Bedeutung. Riesige Naturschutzgebiete, so Forscher, könnten entstehen. Eine absurde Vorstellung, dass der Blick aus meinem Fenster plötzlich nicht mehr auf sterile Wohnblöcke, sondern auf Teiche, Wälder und Wiesen fällt.
Einen Augenblick spiele ich mit dem albernen Gedanken, mein Fenster, ein Spiegelbild meiner Vergangenheit und meiner Seele, mitzunehmen. Aufzubewahren, wie einen teuren Schatz. Dazugestellt zu den tausenden Kleinigkeiten, die in meinem Keller lagern, vergessen und irgendwann zu Sperrmüll verurteilt.
Ich erhebe mich schwerfällig. Das Fenster bleibt da. Ich überlege, dass heute ein guter Tag zum Fensterputzen sei. Das neue Fenster aus Kunststoff - praktisch, sauber, ohne Leben.

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