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Bookcrossing

© Birge Laudi


Onkel Michel hatte ein Buch geschrieben. Wessen Onkel er zu seinen Lebzeiten gewesen war, wusste niemand mehr. Alle im Ort aber nannten ihn Onkel Michel und alle waren stolz darauf, dass er ein Buch geschrieben hatte. Irgendetwas war jedoch schiefgegangen mit Onkel Michels Buch. Niemand wusste Genaues darüber. Ruchbar wurde lediglich durch Freunde und Bekannte, die nicht nur bei Onkel Michel ein und aus gegangen waren, sondern später auch bei Verena, dass sich in einer Ecke des Wohnzimmers, ein wenig schamhaft verborgen hinter einer schweren moosgrünen Übergardine aus Samt mit goldgelben Fransen, ein ansehnlicher Turm von Büchern in schwarzem Leineneinband und blutroter Titelprägung stapelte. So sehr auch manch ein Besucher Kopf und Augen verdrehte und sich bemühte, den Buchtitel zu entziffern, keinem glückte dies. Die moosgrüne Übergardine und das finstere Eck blieben Sieger. Und so dämmerte das Lebenswerk von Onkel Michel unerkannt und nie gelesen in Verenas Wohnzimmer dahin. Ob Verena die Nichte von Onkel Michel gewesen war oder seine Tochter oder gar, wie ein Gerücht die Runde machte, seine letzte Geliebte, das blieb genauso verborgen vor der Neugier der Dorfbewohner wie Titel und Inhalt des Buches.
Immer wieder einmal im Verlaufe vieler Jahre versuchte sich ein Neuling auf dem Gebiet des Aushorchens von Verena, doch immer erfolglos. Verena verstand es, ein Geheimnis zu bewahren. Als Verena schließlich ein Alter erlangt hatte, in dem man gerne von früher erzählt und sich über interessierte Frager freut, da wurde es wieder nichts mit der Lüftung ihres Geheimnisses. Erst funktionierte ihr Gehör nicht mehr und dann schloss sich ihr Geist diesem langsamen Verfall an. Verena saß allein und unbesucht in ihrer düsteren Stube mit den moosgrünen Gardinen und wartete auf die Stunde, in der sie in der Ewigkeit dem Onkel Michel gegenübertreten und sagen konnte: Onkel Michel, ich habe dein Geheimnis bewahrt!
Eines Tages nun war es so weit, dass sie dies dem Onkel Michel versichern konnte, sozusagen von Angesicht zu Angesicht. Verena hatte sich am Morgen in ihren Lehnstuhl am Fenster gesetzt und da saß sie noch am Abend und als spät in der Nacht einer der Dörfler vom Wirtshaus nach Hause wankte und kurz seine Nase am Wohnzimmerfenster von Verena plattdrückte, weil diese ganz gegen ihre Gewohnheit die Gardine nicht zugezogen hatte, da sah er im Licht der Straßenlaterne hinter der Scheibe das blasse Gesicht Verenas auf dem gestickten Nackenkissen ihres Lehnstuhles ruhen. Ihr Kopf war ein wenig zur Seite geneigt und eine Strähne ihres grauen Haares hatte sich aus dem stets sorgsam gedrehten Dutt befreit und war ihr übers Gesicht gefallen.
Den Spätheimkehrer aus der Gastwirtschaft packte einerseits das nackte Entsetzen, als er dem Tod so ungeschützt ins Antlitz sah, andererseits aber erfüllte ihn die zweifelhafte Freude, der Erste zu sein, der den Tod Verenas verkünden konnte. Wankend in seiner Trunkenheit, doch so weit ernüchtert, dass er wusste, was nun zu tun war, läutete er Sturm an der Haustüre des Dorfarztes. Als dieser in Schlafanzug und Pantoffeln an der Türe erschien, da sprudelte der alte Süffling seine Entdeckung, geschmückt mit vielen Einzelheiten, hervor.
Der Arzt kam ohne Murren seiner Pflicht nach und da die Türe zu Verenas Häuschen abgeschlossen war, begnügte er sich ebenfalls mit einem Blick durchs Fenster auf das bleiche Antlitz der Toten. Die Kinnlade hatte inzwischen der Schwerkraft nachgegeben und war herabgesunken und gab dem Arzt den Blick frei in den weit geöffneten zahnlosen Mund Verenas. Unzweifelhaft war die Dame tot und ein Arzt kaum mehr vonnöten. Dieser machte sich auf zum Haus des Bürgermeisters, klingelte nun seinerseits einen Schläfer aus dem Bette und berichtete vom Bericht des Süffels und seinem eigenen Augenschein.
Der Bürgermeister eilte, auch er in Schlafanzug und Pantoffeln, in sein Arbeitszimmer und entnahm einer bis dahin verschlossenen Schublade ein vergilbtes Kuvert. Das hatte vor Jahrzehnten Onkel Michel hier hinterlegt mit der Maßgabe, es nach Verenas Tod zu öffnen. Mit einem Taschenmesser schlitzte er das Kuvert auf und las den kurzen Schrieb, erst leise für sich und dann laut für den Arzt.
Ich, Michael Müller, erkläre im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, dass Verena meine Tochter ist. Ihre Mutter Olga Friedlein aus Mümmelsdorf war bei der im Übrigen unehelichen Geburt von Verena durch einen Kunstfehler des damaligen und dortigen Arztes in Tateinheit mit der unfähigen Hebamme verblutet und so zu Tode gekommen. Verena Friedlein wurde eine Weile von der inzwischen verbitterten Mutter Olgas versorgt, dann aber stellte diese mir das Kind nächtens in einem Körbchen vor die Haustüre und so blieb Verena in meinem Hause. Ich habe mir Kummer und Wut über diesen Vorfall in einem Buch vom Herzen geschrieben und als der Inhalt nach Drucklegung bekannt wurde, da durfte das Buch durch einen richterlichen Bescheid nicht verkauft werden. Es wurde als Angriff auf die herrschende Regierung eingestuft, da ich die Wahrheit über Olgas Tod geschrieben hatte, die mit dem falschen Parteibuch an einen Arzt aus der braunen Branche geraten war. Alle 1000 (in Worten: eintausend) Exemplare des ersten Drucks befinden sich in meinem Haus. Nach dem Tode von Verena vermache ich die Bücher der Gemeinde. Möge sie damit tun, was sie will.
Gezeichnet Michael Müller am 15. Mai des Jahres 1940.
'So, jetzt haben wir den Salat', sagte der Bürgermeister und schaute verzweifelt auf den Arzt.
'Was sollen wir nun mit dem Kram machen? Der richterliche Beschluss gilt wahrscheinlich noch immer.'
'Nun, ich würde die Bücher erst einmal aus dem Haus holen, dann Verena in ihrem Wohnzimmer aufbahren, um den Traurigen die Möglichkeit zu geben, Abschied zu nehmen und den Neugierigen ihre Sensationslust zu befriedigen und dann könnten wir den Gottfried Kluge um Rat fragen, was mit den Büchern zu machen sei.'
Gottfried Kluge war ein Schriftsteller der jüngeren Generation und nicht unbedingt verhaftet in althergebrachten Vermarktungspraktiken. Das hatte man in dem kleinen Ort, wo jeder jeden kannte, längst voller Argwohn beobachtet und war auch selbst zu Opfern seines Erfindungsreichtums, was die Vermarktung betraf, geworden. In fast jeder Wohnstube hatte ein Bändchen mit Erzählungen des Gottfried Kluge Platz neben der Familienbibel gefunden. Niemand hatte es gewagt, kein Buch zu kaufen, wenn Herr Kluge am Sonntag nach dem Gottesdienst vor der Kirche mit Billigung des Pfarrers seinen Büchertisch aufgebaut hatte. Da half auch kein Argument der Kirchenältesten, dass Jesus höchstpersönlich einstens die Geldwechsler und Händler mit der Peitsche aus dem Tempel vertrieben hatte. Nun aber war der Bürgermeister froh, ein derartiges, wenn auch unchristliches Verkaufsgenie in den eigenen Reihen zu wissen.
Als die Begräbnisfeierlichkeiten vorbei, kein Erbe gefunden und das Häuschen Verenas und einstens Onkel Michels in den Besitz der Allgemeinheit, will sagen des Staates, übergegangen war, da fand der Bürgermeister endlich Muße, sich um die 1000 schwarzen Bücher mit dem in blutig roten Lettern gedruckten Titel 'Olga F.' zu kümmern. Er suchte nun Gottfried Kluge mit seinem Problem heim und der bat sich eine kurze Bedenkzeit aus.
Lange währte seine Zeit zum Denken nicht. Bereits nach zwei Tagen erschien er im Bürgermeisteramt mit dem folgenden Vorschlag.
'Wir werden die Bücher nicht, weil ja seinerzeit verboten, öffentlich verkaufen, sie jedoch unöffentlich unters Volk bringen. Vielleicht ist eine Regierungsbeleidigung der damaligen Zeit heute gar keine mehr und wir machen uns eigentlich keines Vergehens mehr schuldig.'
Keiner der beiden unerfahrenen Schlitzohren hatte Ahnung, was das Juristische betraf. Um die Sache nicht weiter in die Länge zu ziehen und die 'Olga F.' endlich unters Volk zu mischen, hatten sie auf eine langwierige juristische Einmischung verzichtet. Auch hatten beide 'Olga F.' nicht gelesen, um sich in dieser Beziehung ihre Unschuld zu bewahren. Ihr Gewissen war aber weit genug, sich des Buches ohne juristischen Rat über die Allgemeinheit zu entledigen.
'Ich stelle mir das so vor', sagte Gottfried Kluge und er entwickelte vor dem Bürgermeister eine Strategie, die den Mann des höchsten Amtes im Dorfe ausgesprochen vergnügt stimmte.
Bookcrossing war das Zauberwort. Damit könnte man der armen Olga Friedlein endlich einen gewissen Grad an Wiedergutmachung posthum verschaffen. Außerdem würde die richterliche Entscheidung aus einer Zeit, die braun und, so hoffte man, längst vergangen war, umgangen, weil sie das Buch ja nicht verkaufen würden. Obendrein würde die geniale Idee dem Onkel Michel und seiner einsamen Tochter Verena, beide seinerzeit wohlgelitten im Dorf, zu bescheidenem Ruhm verhelfen. Leider auch erst nach dem Tode und leider auch ohne einen Pfennig in die öffentlichen Taschen zu spülen.
Wie das mit dem Bookcrossing funktioniere, fragte der Bürgermeister.
Gottfried Kluge wühlte in einem Haufen von Zeitungsausschnitten, die ihm immer wieder zu Ideen für seine Geschichten verhalfen und zog ein leicht vergilbtes Stück Zeitung aus dem Wust. Er breitete es vor dem Bürgermeister aus und der las mit großem Interesse, es könne passieren, dass man plötzlich an ungewöhnlichen Orten in der Stadt Bücher finde, die offenbar von ihren Vorbesitzern ausgesetzt worden waren.
'Ha, 'Olga F.' wird ausgesetzt!', rief der Bürgermeister aus. 'Erst die Tochter Verena, nun auch ihre Mutter.'
Ihn schien der Gedanke mit einer Begeisterung zu erfüllen, die neben der Freude um die Lösung eines Problems aber auch einen leicht faden Beigeschmack wegen der unchristlichen Aussetzung von Personen inne hatte.
Wie ein klassisches Bookcrossing funktionierte, das las er nun mit Erstaunen in der alten Zeitungsnotiz.
Was sich anhört wie eine Schnitzeljagd scherzhafter Studenten, hat sich unter dem Begriff Bookcrossing rasend schnell zu einem globalen Phänomen entwickelt. Im April 2001 von Ron Hornbaker, einem Programmierer aus Kansas City gegründet, registriert die außergewöhnliche Leihbibliothek mittlerweile über 125 000 Mitglieder in 130 Ländern. Täglich kommen weltweit gut 200 neue Anmeldungen dazu.
Hornbakers Idee, ausgelesene Literatur nicht länger im Regal verstauben zu lassen, sondern anderen Menschen zur Verfügung zu stellen, hat im Internet eine denkbar einfache Organisationsform gefunden. Der Interessent trägt sich unter einem Decknamen auf der Homepage von www.bookcrossing.com ein und gibt Titel, Autor, Kurzbeschreibung und persönliche Bewertung des Buches an, das er loswerden will.
Das Computerprogramm teilt dem Werk darauf automatisch eine Codenummer zu. Diese elektronische Erkennungsmarke und eine kurze Erklärung zu Sinn und System von Bookcrossing werden zum Klappentext geklebt, dann kann das Buch ausgesetzt werden: im Streugutkasten, auf dem Fernsehturm oder ganz hinten im Schwimmbad-Spind.
Soweit hörte sich die Sache gut an, wenn auch der Aufwand für 1000 Bücher ein wenig groß schien. Auch war ihr Ort, in welchem die Bücher gestreut werden mussten, zu kleinräumig. Es gab nicht so viele Streugutkästen und Schwimmbäder und schon gar keinen Fernsehturm in ihrer Heimatgemeinde. Und was geschah dann, wenn einer eines der Bücher fand?
Ist das Buch versteckt, wird auf der Internetseite notiert, wo es zu finden ist. Der Finder wiederum ist dazu angehalten, eine kurze Notiz zusammen mit der Codenummer zu mailen und das Werk nach eingehender Lektüre selbst wieder auszusetzen. Noch verschwinden jedoch die meisten Bücher spurlos, nur 20 bis 25 Prozent geraten in die Hände eines willigen Internetnutzers, der sich um eine Rückmeldung nicht drückt.
'Nein, das ist zu kompliziert', sagte der Bürgermeister. 'Wir wollen doch gar nicht wissen, wer die Bücher jetzt hat. Schön wäre aber halt schon, wenn bei der ganzen Mühe ein kleiner Bonus zu erwarten wäre'.
Man kam überein, kein klassisches Bookcrossing anzukurbeln. Gottfried Kluge hieß nicht umsonst so wie er hieß. Er traf eine kluge Entscheidung, die obendrein Frieden mit seinem Gott bringen würde nach den rüden Verkaufsmethoden sonntags vor der Kirche. Er schlug vor, die Bücher wie zu einem crossing derselben in Streugutkästen, in Schwimmbadspinden und - so man fände - auf einem Fernsehturm zu verstecken, in jedem Buch aber einen Aufkleber anzubringen mit der Bitte um eine Spende für eine soziale Einrichtung. Der Aufwand für die Aufkleber sei gering und die Arbeit, sie tausendmal in ein Buch zu kleben, sei ebenfalls tragbar.
So wurde es beschlossen und als der Winter vorbei, die schwarzen Bücher nicht mehr gefährdet waren, in Streugutkästen festzufrieren, ließ man 'Olga F.' frei. Helfer trugen sie in alle Winde, suchten nach Fernsehtürmen und Schwimmbädern und fanden darüber hinaus sogar in Eigeninitiative noch manch ein raffiniertes Versteck.
Es wurde nie bekannt, wie viele der 1000 Bücher gefunden, wie viele Menschen das Schicksal von 'Olga F.', beschrieben von Onkel Michel, gelesen hatten. Aus der Presse aber erfuhren der Bürgermeister und der kluge Gottfried Kluge hin und wieder, dass sich ein Kinderheim, ein Waisenhaus oder eine Mutter und Kind - Einrichtung über eine großzügige Spende aufgrund der Lektüre eines zufällig gefundenen Buches erfreut zeigten.

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