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Kurzgeschichte Alltag Kurzprosa Geschichte Erzählung short story

Apollina

© Christine Kühnel


Liebe ist es nicht gerade gewesen. Ganz davon abgesehen, dass damals weder die Zeiten, noch sonst irgendwas im Zeichen der Liebeshochzeit standen, hatte sie vermutlich schlicht und einfach Mitleid mit ihm gehabt. Apollina kam aus einer kinderreichen Familie, hatte als ältestes Kind von neun Geschwistern immer jemanden am Rockzipfel hängen gehabt, und war darum aufmerksam und mitleidig, bis hin zur Selbstaufgabe. Sie wusste das, aber es löste nichts in ihr aus, ausgenommen Demut vielleicht. Seine ganze Erscheinung bot schon einen Blick der Trauer und während erster, unschuldiger Spaziergänge durch die Apfelplantagen ihrer Großeltern, erfuhr sie die ganze, armselige Geschichte seines bis dahin jungen Lebens.
Gigi hatte seine Eltern nicht einmal gekannt, es war die Großmutter, die ihn und seinen Bruder aufgezogen hatte, obwohl sie kaum genug hatte, um sich selbst am Leben zu halten. Harte Zeiten in einem kommunistischen Land hatten ihn zu einem großen, unnachgiebigen Mann heranwachsen lassen, der sein Herz nach und nach durch Stein ersetzt hatte. Und doch hatte er etwas, er war gewiss nicht schön, auch nicht charismatisch, aber an jenen Abenden, inmitten der Blüten tragenden Apfelbäume, begann sie etwas für ihn zu empfinden, was ihr ausreichte, um ihn zu heiraten. Vielleicht spürte sie den einsamen, kleinen Jungen in ihm, vielleicht auch den unnachgiebigen Tyrannen, der sie ansprach, weil sie an Dienen gewöhnt war.
"Apollina, wann hast du ihn denn geheiratet, den Gigi?" Ich fragte sie das oft am Anfang, als sie mir ihre Geschichte anvertraute, ich hoffte, sie würde sich vielleicht eines Tages daran erinnern. Sie mochte es nicht, auf das Warum ihrer Ehe angesprochen zu werden, was mich natürlich viel brennender interessiert hätte. Alles, was da war, waren Spekulationen. Tante Apollina wurde lieber auf das Wann angesprochen, obwohl sie daraufhin nie ein Datum nannte. Wie alle in unserer Familie, hatte sie überhaupt kein Gedächtnis für Zahlen. Und wenn, dann merkt man sich doch lieber die schönen Dinge, so sagte sie jedes Mal, nachdem ich meine Frage gestellt hatte. Ihre Hochzeit und die darauffolgende Ehe gehörten gewiss nicht dazu. Trotz dem fehlenden Sinn für Zahlen, war sie gewiss nicht dumm und noch weniger faul. So, wie sie früher zum Lebensunterhalt der Großfamilie beigetragen hatte, tat sie es auch nach ihrer Eheschließung. Allerdings heimlich, denn für alles, was sie fortgab, riss er ihr büschelweise Haare aus, Gigi, der Verrückte, wie ihn alle im Dorf nannten, nur Apollina nicht, denn sie hatte Angst, dass es ihr einmal in seiner Gegenwart heraus rutschen würde.
"Deine Mama und deine Tante habe ich durch ihr Studium gekriegt," sagte sie manchmal und genehmigte sich ein ordentliches Glas Zuica, ein gutes Schnäpschen, hinterher. "Dafür kann ich heute nicht mehr ohne einen Hut auf meinen drei Haaren nach draußen." Dann schämte sie sich, weil sie sich für eine alte Frau hielt, die auf so etwas keinen Wert mehr legen sollte. Ihrer Meinung nach hat Gott das nicht gerne. Ich erwiderte ihr immer, dass in einer Familie, in der alle Frauen volles, lockiges Haar tragen, dass zwar früh ergraut, aber deswegen nicht an Schönheit einbüßt, mit einem Hut herumrennen zu müssen, sicher ein guter Grund wäre, auch vor Gott, ungestraft unzufrieden zu sein. Nun lehnte sie sich zurück an das eine der abgenutzten Rückenkissen auf der rostigen Hollywood-Schaukel in ihrem Garten. Meine Tante war sehr klein und kam mit den Füßen nicht an den Boden, daher war es meine Aufgabe, uns anzustoßen. Wenn ich nicht da war, bediente sie sich einer selbst ausgetüftelten Schaukelvorrichtung, die aber ihre von harter Arbeit gekennzeichneten Arme ermüdete. Während wir vor uns hinschaukelten, streckte ich den Arm aus und pflückte mir Trauben direkt von der Rebe, oh ja, die Abende mit meiner Tante Apollina, stets ein Ausflug in Himmel und Hölle zugleich.
Draußen auf der Straße hörte man die zerlumpten Nachbarskinder schreien und zanken, dass war ihre bevorzugte Art zu spielen. Wenn ich zu Besuch kam, zog ich erst einmal vor dem Gartentor meine Sandale aus und vertrieb damit die Kinderhorden, die streunenden Hunden glichen, aus dem Hof. Sie hatte sich diesbezüglich nicht geändert, meine gute Tante. Ihr Herz war immer dumm und groß gewesen. So auch damals, als Gigi schon nach kurzer Zeit sein wahres Gesicht zeigte. Er hatte nun zwei Frauen im Haus, die er grün und blau schlagen konnte, seine Großmutter - seine Baba, die ihn aufgezogen hatte, und nun auch Apollina, seine Frau.
"Sieh doch mal, Kind. Die Baba war schon so alt und zerbrechlich, die hätte er bald totgeschlagen, die hielt nicht mehr viel aus. Da war es doch gut, dass ich gekommen war. So konnte die Baba sich zwischendurch erholen."
Gigis Bruder hieß Gheorge und schlug genauso ordentlich zu, davon konnte Mirela, seine Frau, ein lautes Liedchen singen. Baba, Mirela und Apollina sassen oft zusammen in der Küche vor dem Ofen, wenn es Winter war und strickten, oder draußen im Hof, im Schneidersitz auf einer Decke und bereiteten Gemüse für's Einmachen vor, wenn es Sommer war. Das waren die einzigen Stunden, in den gelacht und geredet wurde. Gelacht und Geredet. Anstatt Pläne zu schmieden, zu verschwinden?
"Wohin denn verschwinden?" Tante hob ihr Glas und ließ mich einschenken. "Selbst wenn mir das in den Sinn gekommen wäre, wohin denn? Im Gegenteil, dein Onkel ist noch zu mir gekommen! Weil Deine Großeltern Schwierigkeiten mit dem Regime hatten. Wo hätte ich denn hingehen sollen, außerdem war ich da schwanger." Sie nippte an ihrem Glas und schüttelte den Kopf. "Weggehen. Am Anfang schon." Das klang fragend und weniger ungläubig. Sie versank in Gedanken.
Apollina bekam das Kind, meine Cousine Angela, und Baba freute sich, weil sie wieder ein Kind zum aufziehen hatte. Sie war sich auch sicher, dass es besser geraten würde, als die letzten Beiden, die sie durchgefüttert hatte. Baba sagte nur einmal etwas wirklich Schlimmes über ihre beiden Enkel, dann nämlich, als Gigi im Begriff war, ihr mit einer Holzlatte, in der Nägel drin waren, Löcher in den Kopf zu hauen. Da packte sie so ein großer Schreck, dass sie Apollina, die herbei geeilt war, um den Verrückten abzulenken, hinterher sagte, dass sie die Beiden mit der Milch vergiftet hätte, die sie ihnen gab, wenn sie gewusst hätte, was einmal aus ihnen werden würde.
Als mein Onkel Ion ins Haus kam, da wurde es ein wenig ruhiger, mit den Prügeleien, er war nämlich größer, jünger und stärker als der verrückte Gigi und stellte sich ihm oft genug in den Weg. Mein Onkel und meine Cousine bildeten also eine Art zweiblättriges Kleeblatt, dass ein wenig Frieden in's Haus brachte, wenigstens für eine Zeit lang. Gigi fand irgendwann eine gute Anstellung bei der landwirtschaftlichen Gemeinschaft, und war oft und lange nicht mehr zu Hause.
Natürlich kam Gheorge ab und zu vorbei, um nach dem Rechten zu schauen, ein wenig zu klauen, ein Schnäpsen hier, ein Mehlchen da, ein Brotlaib heut', morgen ein Schwein.
"Geklaut, natürlich hat er es geklaut," sagte ich, als meine Tante mir ins Wort fiel, um zu betonen, dass ihr Schwager sich nur borgte. Ich bleibe dabei, er hat es geklaut, wie nennt man es sonst, wenn einer mit vollen Händen nur einpackt und nie etwas wieder bringt?
Apollina war nur manchmal so beherzt, ihm etwas abschlagen zu wollen, dann, wenn es für ihr Mädchen und die Baba knapp zu werden drohte. So lange mein Onkel noch da war, gab Gheorge sich auch einsichtig, später knüppelte er so lange auf sie ein, bis die Baba schließlich brachte, was er wollte. Danach sassen sie zusammen da, Baba, Apollina und Angela. Im Ofen brannte kein Feuer, was der Schwager mitgenommen hatte, musste an anderer Seite eingespart werden. Mirela schaffte es manchmal, das eine oder andere zurück zu hamstern, aber das Risiko war im Verhältnis zu enorm. Nachdem sie nämlich für drei Eier, die sie zurück brachte, zwei Zähne verlor, beschlossen sie, dass es besser sei, das, was Gheorge sich nahm, auch bei ihm zu belassen.
Irgendwann kam der erste Brief vom verrückten Gigi an, in dem er seine Frau anwies, ihm Geld zu seiner Arbeit zu schicken.
"Als ich den Brief der guten Baba vorgelesen habe, find sie an zu kichern und diktierte mir, ich solle zurück schreiben; gerne, das Geld wolle ich schicken, er solle mir nur sagen, von wem ich es besorgen soll, denn selbst habe er ja keine Reserven anwachsen lassen."
Ja, sie war neckisch geworden, im tiefsten Winter ihres Lebens, die alte Frau, die sich die Teufel selbst großgezogen hatte. Um ihr den Spaß zu lassen, tat Apollina, als würde sie ihm tatsächlich schreiben und ging später, als die Beiden schliefen, in dem Dorf herum und bettelte sich Geld zusammen. Die Leute gaben es ihr, obwohl sie selbst nichts hatten. Je ärmer man ist, desto bereitwilliger trennt man sich, von dem Wenigen, dass man hat. Das sagt sie immer, meine kleine Tante, wenn sie erzählt, wie sie betteln ging und dabei vor Scham und Furcht fast ohnmächtig wurde. Geweint hat sie nicht. Die Tränen waren ihr irgendwann fast ausgegangen und kamen nur noch selten hervor. So schickte sie ihm das erbettelte Geld, ihrem Gigi, damit er es durchbringen konnte. Um das Geliehene wieder zu geben, ging sie bei verschiedenen Arbeiten aushelfen, die Baba und Angela nahm sie mit, damit sie leichtere Arbeiten verrichten konnten. Sie versteckten die Vorräte vor dem Onkel Gheorge, zu einem gerade so großen Teil, dass es nicht auffiel und aßen, heizten, lebten wenig. So verging eine Zeit, die trotz allem nicht die Schlechteste war. Sie wurden nicht so oft geschlagen und waren für sich, so wurde wieder mehr gelacht, unter diesem Dach, über das sich jeder wunderte, dass es angesichts all der Tragödien, die sich darunter abgespielt hatten, nicht einfach in Rauch auflöste.
In einem besonders harten Winter fand Apollina eines abends die kleine Angela nicht. Die Baba war schon ins Bett gegangen, um es vorzuwärmen, wie sie sagte, als ob das mit ihren alten, morschen Knochen geglückt wäre. Angela hatte meiner Tante in der Küche dabei geholfen, einige Besen zu binden, doch dann war sie auf einmal fort. Krank vor Angst begann die Tante sie zu suchen und fand sie schließlich draußen, sie lag schnarchend unter dem großen Fass mit Zuica und Apollina stellte fest, dass das Kind solange das kleine Gläschen an dem Faden in das Innere des Fasses herab gelassen haben musste, bis es sturzbetrunken einschlief und sich unter dem großen Behältnis zusammenrollte. So böse sie im ersten Moment auch war, so sehr musste sie dann lachen, als sie Angela aufnahm und ins Bett trug.
"Manchmal, wenn wir meinen, dass es uns allzu schlecht geht, dann wissen wir nicht, wie viel wir doch noch zu verlieren haben. Als ich hineinkam in die Stube, das arme Kind auszog und dann ins Bett steckte, da merkte ich erst gar nicht, dass die Baba nicht mehr aufwachen würde."
Baba war einfach so gestorben und Apollina machte sich Vorwürfe, dass sie ihr ein Glas Milch vorenthalten hatte, dass die Alte vor dem schlafen gehen noch zu sich nehmen wollte.
Woher hätte sie auch ahnen sollen, dass es für die Baba kein Morgen geben würde?
Gigi kam nicht nach Hause, schrieb einen Brief, in dem er sich freute, dass die Meute, die ihm die Haare vom Kopf fräße, nun zusammen geschrumpft sei. Und verlangte nach Geld. Und da geschah es, das erste Mal, dass meine brave Tante Apollina ans Abhauen dachte. Das Haus war wie tot, ohne Baba, und Apollina merkte, dass es nur dieser alte Baum gewesen war, den man nicht mehr hätte umpflanzen können. Sonst hielt sie nichts mehr dort. So schrieb sie an ihren Vater, meinen Großvater, der ihr als erstes eindringlich riet, ja die ganzen Büschel Haare mit sich zu nehmen, die ihr der Verrückte im Laufe der Ehe herausgerissen hatte. Einen solchen Beweis darf man nicht einfach so verkommen lassen. Und er machte Pläne, sie nach Hause zu holen und meine Großmutter weinte vor Glück, denn sie hatten Angst gehabt, weder Tochter noch Enkelin lebend wieder zu sehen.
"Ai, du bist manchmal aber auch zu rabiat, Maria." Meine Frage, warum ihre Eltern sie nicht schon längst aus dieser Hölle befreit hätten, beantwortete sie bis auf diesen Ausruf erst einmal nicht und klopfte sich statt dessen geräuschvoll auf die Brust, der Schnaps brannte die alte Kehle, selbstgemacht, aber vom Nachbarn, der hat schon immer gepantscht. Ich ging ins Haus und holte die selbstgemachte Limonade, die sie für jeden meiner Besuche vorbereitete. "Hörst du denn nicht zu, wenn ich mit dir rede?" In der einen Hand hielt sie die Limonade, mit der anderen fuchtelte sie vor meiner Nase herum. "Wie hätte ich die Baba dort zurück lassen sollen. Außerdem waren meine Eltern gute, gläubige Menschen, die sich in so etwas wie die Ehe niemals eingemischt haben. Erst dann, als ich sie um Hilfe bat." Sie nahm einen Schluck und die Eiswürfel klirrten im Glas. Kalt, bitterkalt war es in dem besagten Winter, in dem die Baba starb. Und so kam es, dass man sie nicht beerdigen konnte. Keiner konnte ein Grab für sie ausheben. Warum Apollina so ein Aufhebens darum machte, verstand keiner so richtig. Natürlich, die geweihte Erde musste noch warten, aber vergammeln konnte die Baba schließlich nicht, bei der Kälte. Apollina hatte die Wahl auf das Auftauen der Erde zu warten, damit sie die Baba beerdigen konnte und dann abzuhauen, oder so schnell wie ihr nur möglich zu verschwinden - ohne Gefahr zu laufen, dass ihr verrückter Ehemann ihr auf die Schliche käme. Sie blieb bei der Baba, ohne die sie eine viel schlimmere Zeit erlebt hätte. Wieder weinte meine Großmutter, diesmal aber, weil sie meinte, dass sie die Beiden nun tatsächlich nie mehr lebend sehen würde. Mein Großvater fuhr einmal die ganzen langen Kilometer hin und zurück, kam aber nur mit Apollinas Haarbüscheln in den Händen zurück. Und einer Brosche von der Baba, die sie von ihr an dem Tag geschenkt bekommen hatte, als Gigi sie ins Haus holte. Ein Engel bist du, hatte sie ihr am Anfang gesagt. Das Einzige, was jemals gut und schön an Gigi gewesen sei, wäre sie, das sagte ihr die Baba, kurz bevor sie in diesem Winter schlafen ging, um dann einfach nicht mehr aufzuwachen.
"Die Nachricht, dass er seine Arbeit verloren hatte, kam natürlich, bevor ich Baba vernünftig beerdigen konnte." Sie ließ sich von mir mit ein paar Trauben füttern, nur wenige, sie hatte Angst um die Verdauung.
Niemand wusste damals, wann er nach Hause kommen würde, viel hing davon ab. Erst als Apollina von der Baba träumte, die ihr die Sachen zusammen packte und eigenhändig die Kutsche vorfuhr, damit sie wegfahren könnte, stand sie am morgen darauf auf, packte zusammen und kaufte eine Fahrt für sich und ihre Tochter bei einem Nachbarn, der einen Kleinbus besass. Er wollte sie zuerst auf das Wochenende vertrösten, es seien noch nicht genug Passagiere zusammen gekommen, willigte aber ein, als sie ihm versprach, ihm noch mehr Geld zu geben, wenn er sie bis zu ihren Eltern fahren würde. Den Tag über verbrachte sie mit Vorbereitungen und damit, die Sachen, die sie mitnehmen wollte, zum Wagen zu bringen. Es war schon spät, als sie sich in der Stube umsah, Angela und sich gut anzog und das Kind an die Hand nahm, um sich von der Baba zu verabschieden, die in einem Hinterzimmer beim Priester aufgebahrt lag. Als sie sie dort liegen sah, die dünnen Finger ineinander geschlungen, ihr Gebetsbüchlein darin und das Foto ihres schon so lange verstorbenen Mannes, da fing Apollina an zu weinen und streichelte so liebevoll das faltige Gesicht, dass das Taschentuch verrutschte, mit dem sie ihr selbst die Kinnlade gebunden hatte. Sie sass eine ganze Zeit da, mit Angela, die auch fürchterlich weinte, im Arm und nahm sich die Freiheit, um die Frau zu trauern, die ihr so viel bedeutet hatte. Danach machte sie sich auf und trug ihr Kind durch den tiefen Schnee, durch die tiefe Dämmerung zum Nachbarn, mit dem Kleinbus. Um die Gestalt, die ihnen entgegen kam, machte sie sich zunächst keine Gedanken, wer kann schon ahnen, dass das Pech so groß sein kann, ausgerechnet dem Mann in die Arme zu laufen, vor dem man gerade flieht, aber genau so war es.
"Oh, was hat er mich geschlagen, da im Schnee, als ich ihm gesagt habe, dass ich ihn verlassen will. Ich habe nicht nachgegeben, nicht ein kleines Bisschen, ich hatte große Angst, aber ich wollte nicht nach Hause zurück."
Bis Gigi anfing, auch auf Angela einzuschlagen. Da kam auch der Nachbar herbei geeilt und ging dazwischen, versuchte das Ganze wie einen dummen Scherz aussehen zu lassen und raunte Tante Apollina dabei zu, dass er sie fahren würde, wann immer sie zu ihm käme, sie solle sich jetzt nur nicht totschlagen lassen, was sollte dann aus dem Kind werden.
Und so taumelte sie, ihr weinendes Mädchen an der Hand, durch den Schnee hinter einem Verrückten in ein Haus zurück, dass nicht mehr ihres war. Vor der Türe angekommen, packte er sie und stieß sie in die Stube hinein, schreiend und fluchend, nun schien er wahnsinnig geworden zu sein. Dann bemerkte er, dass die Stube warm, der Ofen ordentlich aufgeheizt war und der Holzvorrat sauber aufgefüllt. Alles war sauber und ordentlich, wie eine gute Hausfrau eben ihren Haushalt führt. Die Vorratskammer fand er nicht leer, von den Tieren hatte sie nur zwei Hühner mitgenommen sowie drei von den insgesamt sieben Säcken mit getrockneten Hülsenfrüchten darin. Und eine Karaffe Zuica fehlte, die war für ihren Vater gedacht. Sie hatte ihm alles in Liebe und Ordnung zurück gelassen, in der Hoffnung, dass er die Stube wenigstens noch ein wenig warm vorfinden würde. Der verrückte Gigi rannte einige Zeit umher und betrachtete alles genau und als er schließlich wieder zu ihnen kam, schickte er sie nur knapp ins Bett, legte sich aber nicht zu ihnen.
Am nächsten Morgen weckte er sie in aller Frühe auf, deutete ihnen an sich anzuziehen und brachte sie zu dem Nachbarn, wo er die ganze Fahrt bezahlte.
"In jedem Menschen steckt etwas Gutes, sogar in dem Verrückten." Tante Apollina blinzelte und schaut zum Himmel hinauf.
Er ließ sie tatsächlich gehen, zwar nicht, ohne ihr zu drohen, dass er sie umbringen würde, wenn sie es wagen sollte, eines Tages wieder vor seiner Tür zu stehen, aber er ließ sie gehen.
"Du siehst also, liebe Nichte, dass mein 'dummes, großes Herz', wie du es immer nennst, mich zwar in diese ganze Sache hinein geritten hat, aber genauso hat es mich auch immer herausgeritten. Und nun geh' und bring den Kindern den Rest Limonade. Es sind gute Kinder. Die Baba könnte dir erklären, was schlechte sind. Ah, ich muss ihr ihre Milch bringen."
Nein, lass' die Baba ruhen, wundervolle Tante Apollina. Und lass' mich heute an deiner Statt das Glas Milch neben ihr Bild, in dem abgenutzten, ehemals goldenen Rahmen stellen. Ich gehe auch und bringe den Kleinen ihre Limonade, von der du behauptest, dass du sie nur für meinen Besuch vorbereitest. Dabei stehst du jeden Morgen früh auf, presst die Zitronen und machst Limonade. Für die Kinder, denn es sind nur Kinder, arme Kinder. Ich gehe und bringe ihnen ihre Limonade. Ein wenig von deinem großen, dummen Herzen schlägt schließlich auch in mir, Apollina.

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