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Lene   Teil I: Harveys Mütze

© Christiane Stüber


Lene
Lene ist fünf Jahre alt. Eigentlich heißt sie Marlene. Aber so hat sie noch nie einer genannt. Lene ist ein bisschen pausbäckig, hat kleine blaue Augen und eine winzige Nase, die sich hinter ihren rosigen Bäckchen verstecken. Wenn sie lacht, bleiben von den Augen nur noch fröhliche Schlitze übrig. Augen und Nase sind aber groß genug, um alles Interessante umher in Lene hineinzusaugen. Und davon gibt es eine ganze Menge.
Lene trägt am liebsten einen roten Strickrock. Der ist eigentlich schon ein kleinwenig zu kurz und rollt sich über ihrem runden Bäuchlein. Die Mutter macht ihr manchmal Zöpfe und bindet Schleifen hinein. "Schön schaust du aus", sagt die Mutter dann. Lene steht danach immer ein paar Minuten vor dem alten Spiegel im Kinderzimmer. Sie dreht sich mit Rock und Zöpfen von einer Seite auf die andere und freut sich über ihr Bild.
Lene wohnt mit ihren Eltern auf einem Bauernhof. Dort gibt es ein weißes Haus mit knallroten Ziegeln auf dem Dach, eine grüne Scheune mit Heu, Stroh und Korn darin und einen Stall für die Schweine und Kühe. Der Hof liegt in einem kleinen Dorf. Drum herum gibt es ein paar Hügel und einen Wald, der zu jeder Jahreszeit anders duftet: im Frühling süß, wie die Schneeglöckchen, im Sommer würzig, wie ein bunter Gemüsesalat. Im Herbst riecht es ein bisschen modrig nach Fallobst und im Winter so sauber wie frisch gewaschene Wäsche.
Und dann gibt es noch den riesigen Apfelgarten. Dort leben die Großeltern von Lene. Die sind schon sehr alt. Das kann man an den weißen Haaren sehen. Sie leben dort mit zehn braunen Hühnern, einem Hahn, der borstigen Katze Magda und Theo zusammen. Theo ist ein Dackel. Von ihm sieht man im Sommer oft nur die wehenden Ohren, wenn er durch das hohe Gras unter den Bäumen springt. Er ist schwarz und hat braune Pfoten. Die Katze Magda sieht immer verstrubbelt aus. Im Frühling taucht sie jedes Jahr wieder mit fünf oder sechs kleinen Kätzchen vor der Küche der Großmutter auf und gaumst was das Zeug hält. Die Großmutter seufzt dann einmal tief, holt aber schließlich die Milch aus dem Kühlschrank und macht ein Schälchen für die Katzenkinder warm.
Lene hat auch eine Freundin. Die heißt Franziska. Franziska ist zwei Monate und drei Tage jünger als Lene. Sie hat braune Augen und ein schmales Gesicht. Mit ihr trifft sich Lene oft nach dem Kindergarten. Dann spielen sie Prinzessin und Königin, Hexenküche Zauberschule oder was ihnen sonst noch einfällt. Neulich haben sie sogar einen Schatz gefunden. Franziska hatte es gleich erkannt: "Das sind Diamanten!" Die Edelsteine lagen mitten auf der Straße. Die Eltern hatten gesagt, dass das nur zerbrochenes Glas von der Fensterscheibe eines Autos sei. Lene hätte es fast geglaubt, aber Franziska zischte nur verächtlich: "Was wissen die denn schon?" Lene und Franziska sammelten die Steine sorgfältig auf und steckten sie in drei bunte Blechbüchsen. Auf dem Klettergerüst im Kindergarten berieten sie am nächsten Tag ausführlich, was sie mit dem Schatz machen wollten. Am Nachmittag vergruben sie ihn schließlich feierlich unter einem Haselnussstrauch hinter der Dorfkirche.
Abschied
Am letzten Kindergartentag vor den Ferien rennt Franziska aufgeregt auf Lene zu und ruft: "Wir fliegen auf eine Insel, mitten im Ozean!". Mit "wir" meint sie sich selber, ihre Eltern und den kleinen Bruder Hans. "Wann denn?", will Lene wissen. "Morgen, ganz früh." Lene sieht, dass Franziska sich sehr freut. Ihre brauen Augen sprühen vor lauter Fröhlichkeit. Aber Lene wird traurig. Nicht so schlimm, dass sie weinen muss, aber schon so, dass sie einen kleinen Kloß im Hals spürt. Lene ist noch nirgendwo hingeflogen. Mit den Eltern war sie letztes Jahr an der Ostsee. Das war schon etwas Besonderes, denn eigentlich konnten die Eltern wegen der Tiere nur ganz selten verreisen. Die Kühe und Schweine nahmen auf die Ferien der Menschen keine Rücksicht. Die hatten immer Hunger, wollten ausgemistet oder gemolken werden. Einfach mitnehmen konnte man sie aber auch nicht. Lene faltet ihre Hände über dem roten Strickrock und fragt: "Wann kommt ihr denn wieder?" "Ich weiß nicht", sagt Franziska. Als sie merkt, dass Lene sie ganz traurig anschaut, schlingt sie ihr die Arme um den Hals und flüstert: "Pass gut auf unseren Schatz auf, ja?" Lene nickt stumm. Dann geht sie nach hause. Die Mutter hat einen Schokoladenkuchen gebacken, aber Lene hat gar keinen Appetit. Das ist seltsam, denkt die Mutter. Denn Lene mag Schokoladenkuchen sonst furchtbar gern.
Die Fliegermütze
Am nächsten Tag wacht Lene ziemlich früh auf. Sie hält ihren Teddy Paul im Arm. "Da hast du aber Glück gehabt", murmelt sie. Denn meistens landet Paul nachts irgendwann auf dem Teppich. Lene zieht die blaue Gardine vom Fenster weg. Die Sonne scheint. Kein einziges Wölkchen zeigt sich am Himmel. Die Vögel zwitschern, aber sonst ist es noch ganz ruhig: kein Auto, kein Rasenmäher, nichts. Dann klettert sie unter der rot karierten Decke hervor und deckt Paul damit zu, damit der noch ein bisschen schlafen kann. Sie zieht sich ihren Strickrock und ein gelbes Sommerhemd an, öffnet die Tür und fängt lauthals an in den Tag zu singen. Lene läuft hinunter in die große Bauernküche. Dort kocht die Mutter gerade Kaffee. "Guten Morgen junges Fräulein. Was singst du denn da für ein Lied?" Lene zuckt mitten im Lied mit den Schultern und gibt der Mutter einen Kuss. Die Lieder fliegen ihr einfach zu. Sie weiß auch nicht, woher sie kommen. Für Lene steht schon ein großes Glas frischer Milch auf dem Tisch. Die Milch kommt von Berte, Lenes braun gescheckter Lieblingskuh. Dazu gibt es ein Brötchen mit frischer Himbeermarmelade. Der Vater liest der Mutter aus der Zeitung vor: einen Artikel über die Milchpreise, den Wetterbericht und das Horoskop. Die Mutter lächelt ab und zu. Und Lene trinkt Bertes Milch und träumt vor sich hin.
Nach dem Frühstück nimmt sie der Vater mit in den Garten. Das Gras ist hoch. Von Theo sieht man nur noch die wehenden Ohren über die Halme ragen. "Dann ist es auf alle Fälle Zeit fürs Mähen", lacht der Vater. Er setzt sich auf seinen kleinen Traktor. Der Motor heult krachend auf. Schrecklich laut ist das. Theo versteckt sich mit eingezogenem Schwanz in seiner Hundehütte, die Hühner rennen mit ihrem Hahn gackernd in den Stall. Lene hält sich für ein Weilchen die Ohren zu und beschließt dann ins Haus der Großeltern zu gehen. Wenn der Vater erst mal auf seinen Traktor saß, hörte der Krach so schnell nicht wieder auf.
Im Haus ist es ganz still. Die Großeltern sind im Nachbardorf zum Einkaufen. Lene streift etwas unschlüssig durch die Räume. Dann fällt ihr ein, dass es im Nachtschrank des Großvaters meistens etwas Süßes gibt. Sie steigt also die Wendeltreppe hinauf. Die Stufen sind ziemlich steil. Lene zieht die Schublade heraus und findet einen Riegel Vollmilchschokolade. Sie bricht sich zwei Stückchen ab und steckt sie nacheinander in den Mund. "Mundraub ist erlaubt", erinnert sie sich. Das sagten die Großeltern immer, wenn plötzlich irgendwo ein Stück Kuchen oder ein Kästchen Schokolade fehlten.
Lene tritt durch die Tür ins Blumenzimmer. Die Großmutter liebt Blumen und hat deshalb ein ganzes Zimmer für sie. Stachlige Kakteen, rote Geranien und viele andere Pflanzen, für die Lene die Namen noch nicht kennt. An der Wand steht ein hochbeiniges Sofa. Die Kissen sind mit rotem Samt bespannt. Nur eines ist schwarz. Darauf sind drei weiße Katzen gestickt. Lene schiebt sich am Sofa vorbei. Dahinter gibt es einen unscheinbaren Wandschrank. Der interessiert Lene auf einmal sehr. Neugierig kniet sie sich davor nieder und öffnet die Tür. Drinnen ist es staubig. Spinnweben haben sich über zahllose Plastiktüten und Pappschachteln gebreitet. Lene zieht eine blaue Tüte heraus. Schwer ist sie. Bücher sind darin. Sie müssen alt sein. Die Seiten sind gelb und mit einer seltsamen Schrift beschrieben. Lene kann erst ein paar Wörter lesen, aber sie weiß, dass diese Buchstaben hier anders sind als die in ihren Kinderbüchern. Dann öffnet sie eine der Schachteln. Ein Päckchen mit Fotos und Postkarten kommt zum Vorschein. Da ist ein Mann in Uniform zu sehen. Der Mann sieht dem Großvater ziemlich ähnlich. Lene findet auch das Bild einer schönen jungen Frau im eleganten Abendkleid, dann ein Familienfoto von streng dreinblickenden Herren und Damen. Lene hockt mit offenem Mund auf dem Boden und staunt.
Aber da gibt es noch so viel zu entdecken! Ein Kistchen mit Schmuck, alte Parfümfläschchen, ein kleiner goldner Spiegel, eine Taschenuhr. Zum Schluss bleibt nur noch ein einziger Karton übrig. Hinten in der Ecke. Lene muss sich ganz weit in den Schrank hineinbeugen, um an ihn heranzukommen. Neugierig hebt sie den grauen Deckel ab. Eine Schachtel kommt zum Vorschein. Sie wird mit einem roten Band zusammengehalten. Lene knotet das Band vorsichtig mit ihren kleinen Fingern auf. Als sie es aufhat, kann sie die Buchstaben sehen, die darauf geschrieben stehen: H A R V E Y. Lene hat keine Ahnung, was das heißt. Mit angehaltenem Atem öffnet sie die Schachtel - und ist enttäuscht. Das Ding da drin ist braun und muffig. Trotzdem zieht Lene es heraus. Es ist eine Ledermütze mit Druckknöpfen an den Ohren. Darunter liegt eine kleine Brille, die an Stelle von Bügeln ein Gummiband hat. So ähnlich wie die Taucherbrille von Franziska. Lene dreht ihren Fund hin und her, guckt durch die trüben Gläser der Brille und setzt sich die Mütze schließlich auf den Kopf.
"Was machst du denn da?" Lene ist erschrocken. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass die Großmutter die Treppe heraufgekommen war. Waren die beiden schon zurück? Schuldbewusst schaut sie zu ihr hoch. Die Großmutter sieht aber nicht böse aus. Auch eher ein bisschen erschrocken. Das Durcheinander um Lene herum beachtet sie gar nicht. "Ich, ich habe ...", stammelt Lene, ohne eigentlich sagen zu können, was sie da macht. Aber die Großmutter starrt einfach nur auf die Ledermütze auf Lenes Kopf. Lene nimmt die Mütze ab und sagt zur Sicherheit: "Tut mir leid".
Die Großmutter nimmt ihr die Mütze vorsichtig aus der Hand und greift nach der Brille, die auf dem Fußboden liegt. Dann setzt sie sich auf das hochbeinige Sofa, legt die beiden Sachen in ihren Schoß und guckt aus dem Fenster. Lene wird es unheimlich. Die Großmutter sitzt da und träumt vor sich hin! Schimpfen wäre Lene irgendwie lieber gewesen. Kein Ton kommt über die Lippen der Großmutter. Dafür fängt sie an zu lächeln. Ganz von innen heraus. Und dann werden ihre Augen plötzlich feucht. Lene weiß sich keinen Rat mehr. Soll sie den Vater rufen? Draußen hört man den Traktor unermüdlich auf- und abfahren. Sie zieht an der Schürze der Großmutter: "Was hast du denn? Was ist das für eine Mütze?" Die Großmutter schaut Lene an, so als wäre sie gerade aus einer ganz anderen Welt zurückgekehrt. "Die Mütze hat einem guten Freund von mir gehört, Lene." Dann schweigt sie wieder.
Harvey
Die Großmutter macht Kakao. Dann setzt sie sich mit Lene wieder auf das Sofa. Nur sie beide. Hier oben haben sie noch nie zusammen gesessen. "Harvey war ein ganz junger amerikanischer Soldat, Lene. Er wohnte damals mit seinen Kameraden für ein paar Wochen hier im Dorf. Ich war noch sehr jung, weißt du, vielleicht sechzehn. Wir haben uns bei der Kirmes kennen gelernt." Die Großmutter zieht das Foto mit der schönen jungen Frau im eleganten Abendkleid aus dem Stapel heraus und gibt es Lene. "Das bin ich."
"Wie eine Prinzessin!", staunt Lene. Die Großmutter erzählt weiter: "Wir sind dann manchmal miteinander spazieren gegangen, heimlich, denn eigentlich hat sich das für ein junges Mädchen nicht gehört, so einfach mit einem amerikanischen Soldaten herumzulaufen. Er konnte ein bisschen deutsch sprechen und hat mir die wildesten Geschichten erzählt." Die Großmutter hält kurz inne, als ob sie sich an etwas erinnert. Dann fragt sie: "Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?" Lene nickt aufgeregt und verspricht: "Ehrenwort!". Die Großmutter macht ein feierliches Gesicht. Dann sagt sie: "Weißt du, Harvey konnte Dinge hören und sehen, die kein anderer hören oder sehen konnte." Was sollte das nun wieder heißen? Lene zieht die Stirn kraus. "War er verrückt?", will sie wissen. Die Großmutter lacht: "Ja Lene, ein bisschen verrückt war er schon."
"Hast du auch ein Foto von ihm?" Lene wird mit jedem Satz neugieriger auf diesen Harvey. "Nein", sagt die Großmutter traurig. "Nach ein paar Wochen sind sie weitergefahren, er und seine Kameraden. Er kam eines Morgens angerannt und sagte, dass er gehen müsste. Einfach so. Dann hat er mir die Fliegermütze gegeben. Er hat gesagt, ich soll sie aufsetzen, wenn ich die Welt ein bisschen anders sehen will. Dann ist er gegangen." Wieder verliert sich ihr Blick in der Ferne. "Ich habe keine Ahnung gehabt, was er damit gemeint hat. Ich war einfach nur traurig." Lene muss an Franziska denken. "Franziska ist gestern auch einfach weggegangen", erzählt Lene. Sie weiß nicht, ob ihr die Großmutter überhaupt richtig zuhört. "Sie hat nicht mal gesagt, wann sie wiederkommt!" Der Trauerkloß in Lenes Hals fängt wieder an zu wachsen. Ihre Mundwinkel zucken. Lene und die Großmutter gucken nun beide für eine Weile stumm aus dem Fenster. Es ist still. Der Vater muss mit dem Rasen fertig sein. Da stupst die Großmutter Lene von der Seite an. Sie hält ihr die Mütze und die Brille entgegen und sagt aufmunternd: "Das kannst du haben bis Franziska wieder da ist, Lene. Aber sei vorsichtig, wenn du sie aufsetzt; damit können dir seltsame Dinge passieren. Schön, aber seltsam." Lene nimmt Mütze und Brille ehrfurchtsvoll an sich. Noch bevor sie etwas erwidern kann, ruft der Vater von unten: "Lene, es ist Zeit, wir wollen nach Hause zum Essen!" Lene ist hin- und her gerissen. Sie möchte noch so vieles fragen. "Na geh schon", sagt die Großmutter lächelnd, "Geschichten laufen nicht weg." Wir reden ein anderes Mal weiter." Lene schmiegt sich kurz an das faltige Gesicht der Großmutter und flüstert ihr ein Dankeschön ins Ohr.
Als Lene aus der Tür tritt, fühlt sich der Tag anders an als zuvor. Die Sonne scheint zwar immer noch. Der Himmel ist so blau wie am Morgen. Aber Lene ist so aufgeregt als stünde Weihnachten vor der Tür. "Was ist denn mit dir passiert? Du hast ja ganz rote Backen." Der Vater schaut sie an und wischt sich dabei den Schweiß von der Stirn. Lene will ihm schon von Harvey und der Mütze erzählen. Aber dann fällt ihr ein, dass das ja ein Geheimnis zwischen ihr und der Großmutter ist. "Och nichts", meint Lene "die Großmutter hat einen Kakao gekocht und von früher erzählt." Der Vater nickt. "Das macht sie gern. Aber schau dir doch mal den Garten an", sagt er stolz, "alles schön kurz, jetzt können wir wieder den ganzen Theo sehen." Wie zur Bestätigung kommt der Dackel um die Ecke gerannt. "Lass uns gehen. Die Mutter wird böse, wenn ihr die Kartoffeln kalt werden." Lene drückt das kleine Päckchen unter ihrem Arm fest an sich. Dann marschiert sie hinter dem Vater zum Gartentor. Theo tappt friedlich neben ihr her. Bevor sie das Tor hinter sich schließt, krault Lene Theo noch einmal hinterm Ohr. Der Vater schließt das Auto auf. Sie flüstert: "Machs gut Theo." Das macht sie immer so. Doch als sie sich umdrehen will, hört sie eine dunkle Stimme. Die Stimme kommt ganz deutlich von Theo. Theo sagt: "Ciao Lene!"
Der Apfelgarten
Beim Essen schiebt Lene Bissen um Bissen in den Mund. Aber so richtig schmeckt sie nicht, was sie sich da auf die Gabel gespießt hat. Ihre Gedanken sind bei Harveys Mütze und bei Theo, dem Dackel. Konnte es sein, dass Theo wirklich mit ihr gesprochen hatte? Freilich, sie sprach auch immer mit den Tieren: mit Berte, der Kuh, mit Magda und ihren Katzenkindern, mit den gackernden Hühnern und natürlich mit Theo. Warum sollten die also nicht auch einmal etwas zu ihr sagen. Merkwürdig war es aber auf jeden Fall. Theo hatte ja nicht einfach nur gebellt. Er hatte gesprochen, sogar auf Italienisch. Lene grübelt. Dabei merkt sie erst nach einer ganzen Weile, dass das Gespräch zwischen den Eltern verstummt ist. Der Vater winkt mit seiner großen Hand vor Lenes Gesicht hin und her und fragt "Wo steckst du denn gerade mit deinen Gedanken, junges Fräulein? Bist doch nicht etwa verliebt, was?" Auch die Mutter wundert sich. Lene isst nämlich sonst mit wahrer Begeisterung ihr Mittagessen. "Lenchen, bist du noch traurig wegen Franziska?", will sie wissen und schaut ihrer Tochter forschend in die Augen. "Ein bisschen", sagt Lene. Dabei denkt sie ja an etwas ganz anderes. Dann holt sie tief Luft und fragt: "Darf ich heut Nachmittag noch mal in den Garten? Ich möchte gern mit Theo spielen."
Die Eltern haben nichts dagegen. In Lenes Dorf ist es kein Problem für ein kleines Mädchen, allein durch die Felder zu streifen. Lene packt sich ihren neuen Schatz in die Brottasche und hängt sie sich um den Hals. Dann zieht sie sich ein grünes Baumwollhemd darüber. Die Leute sollen ja nicht gleich neugierig werden. Und in ihrem Dorf, wie in den meisten anderen Dörfern auf der Welt, sind die Leute furchtbar neugierig. Lene läuft die Gasse hinter der Scheune entlang. Hirtengasse heißt die, weil dort früher die Hirten die Kühe und Schafe aus dem Dorf getrieben haben. Nach drei Minuten ist Lene aus dem Dorf heraus. Es folgen ein paar Gärten mit bunten Sommerblumen und Beerensträuchern. Dann gibt es nur noch Wiesen und Felder. Lene stapft über den staubigen Boden. Es hat schon lange nicht mehr geregnet. Trotzdem hat sie ihre Gummistiefel angezogen. Die hat ihr der Vater neulich erst im Gartenladen gekauft. Grün sind sie. Lene findet, dass sie ausgezeichnet zu ihrem roten Strickrock passen. Die Eltern sehen das zwar etwas anders, aber im Dorf ziehen die meisten Leute einfach die Sachen an, die bequem sind. Nach der Mode richtet man sich nicht. Und wenn es doch mal einer macht, dann wird er von den anderen so lange schief angeguckt bis die Sachen nicht mehr modern sind. Lene läuft ein Stückchen auf der Betonstraße. Daneben gluckert ein kleiner Bach. Auf der anderen Seite vom Bach steht eine lange Reihe Pappeln. Die Bäumkronen rauschen im Sommerwind. Ihre Blätter fangen das Sonnenlicht und spielen damit. Lene mag die Pappeln. Schließlich geht sie noch ein Weilchen an der Bahnlinie entlang. Hier fährt jede Stunde ein kurzer rot-grüner Zug, der das Dorf mit der Kreisstadt verbindet. Und schließlich sieht Lene den Hühnerstall der Großeltern vor sich. Sie läuft ein bisschen schneller. Und dann noch ein bisschen schneller bis sie vor der hinteren Gartentür steht. Sie öffnet den Riegel und betritt den Apfelgarten. Diesmal ist alles still. Die Großeltern sind um diese Zeit im Haus und machen ihren Mittagsschlaf. Lene hört nur den Gesang einer Amsel, das Brummen einer Hummel. Sie läuft zur ersten Baumreihe. Dort hat der Großvater eine kleine Bank für die Großmutter aufgestellt. Darauf setzt sie sich, zieht die Brottasche unter dem Hemd hervor und ruft: "Theo!" Es dauert ein paar Minuten bis Theo auftaucht. Als er Lene sieht, wackelt er freudig mit dem Schwanz. "Na mein Kleiner!", ruft Lene. Theo legt sich vor ihr auf den Rücken und lässt sich am Bauch streicheln. Lene fängt an, alles Mögliche zu erzählen. Vom Kindergarten und Franziskas Reise, von den Tieren im Dorf. Und dann erzählt sie von Harveys Mütze, ganz leise, denn es ist ja ein Geheimnis. Theo hört aufmerksam zu. Das macht er immer so. Seine Augen sind fest auf Lene gerichtet. Aber sagen tut er nichts. Lene überlegt schon, ob sie sich nicht doch getäuscht hat. Seufzend zieht sie Mütze und Brille aus der Tasche. Sie setzt sich die muffige Ledermütze auf den Kopf, befestigt die Brille auf ihrer Nase und baumelt mit den Beinen. Die Bank ist eigentlich noch ein bisschen zu hoch für sie. Dann singt sie ein Lied. Eins von denen, die ihr immer in den Kopf fliegen, ohne dass sie wüsste, woher sie kommen. Dieses handelt von Harvey, von einer jungen eleganten Dame und von einem schwarzen Dackel mit braunen Pfoten. Lene singt ein paar Minuten. Theo schaut sie die ganze Zeit an. Als das Lied schließlich zu Ende ist, öffnet er sie Schnauze: "Schönes Lied Bella, wunderschön, bravissimo!" Er stellt sich kurz auf die Hinterfüße, dreht sich einmal um sich selbst und setzt sich dann wieder vor Lene ins Gras. "Und, hat das Mittagessen geschmeckt? Hier gab es nur Rührei und Grünen Salat. Kein einziges Stück Fleisch. Ein Jammer." Lene antwortet wie im Traum: "Ich weiß gar nicht mehr, was es bei uns gab." Dann macht sie eine Pause. "Sag mal Theo, seit wann sprichst du eigentlich?" Theo kratzt sich mit der Hinterpfote an seinem rechten Schlappohr. Dann rechnet er: "Also, ich bin jetzt fünf Jahre alt …". "Genau wie ich!", unterbricht ihn Lene aufgeregt. "Richtig, genau wie du. Na und Dackel fangen so ungefähr mit fünf Monaten zu sprechen an. Also spreche ich schon seit über vier Jahren. Mit dem Italienisch habe ich aber erst vor ein paar Wochen angefangen."
"Italienisch, woher kannst du das denn?"
"Der Rottweiler von drüben" - er deutet mit der Schnauze auf das Haus auf der anderen Seite der Bahnlinie - "hat Verwandte in der Toskana. Wir überlegen schon eine Weile, ob wir nicht mal hinfahren sollten. Sein Herrchen arbeitet bei der Bahn." Lene ist beeindruckt und erschrocken zugleich. Sie hatten also einen sprechenden Dackel, der beim Nachbarshund Italienisch lernte und demnächst verreisen wollte. "Ach Theo", meinte sie "da werden die Großeltern aber traurig sein, wenn du einfach wegfährst - und ich auch." Sie schluckte. Da war er wieder, dieser Kloß im Hals. Theo guckt sie eindringlich aus seinen braunen Augen an. Dann springt er mit einem Satz zu ihr auf die Bank und schiebt seine Nase unter Lenes Arm. "Weißt du Bella, die Welt ist schön. Hier im Apfelgarten ist es auch schön, wunderschön sogar, aber da draußen gibt es noch so viel zu sehen und zu erleben für einen Abenteurer wie mich!" Als er das sagt, springt er energisch auf seine vier Pfoten, hebt den Kopf in den Nacken und singt ein lang gezogenes "ABENTEUER!" in den Sommernachmittag. Wie ein Opernsänger, denkt Lene.
"Was'n das für'n Krach hier?", maunzt es plötzlich ungehalten unter dem Apfelbaum hervor. Magda schreitet verschlafen aus dem Schatten hervor. Erst macht sie einen runden Buckel, dann streckt sie die Vorderpfoten lang vor sich aus und macht den Rücken lang. Als sie sich genügend gedehnt hat, schaut sie die beiden anderen gähnend an. "Na, ihr zwei haltet wohl nichts von Mittagsschlaf, nein? Unsereiner ist aber die ganze Nacht unterwegs gewesen und braucht jetzt seine Ruhe." "Tag holde Magdalena", Theo erhebt sich höflich. Magda ist zwar eine Katze, aber immerhin eine Dame, der man Respekt erweisen muss. Noch dazu eine ziemlich alte. "Und du Giovanni", Magda dreht sich gönnerhaft zu Theo um "lass das Singen, das passt nicht zu dir."
Theo zieht seine Dackelbrauen in die Höhe, verkneift sich aber einen Kommentar. Wenn Magda auf Streit aus war, konnte man eigentlich nur schweigen. Alles, was man sagte, war dann nämlich sowieso falsch. Magda legt sich ins Gras und schiebt sich ihre Pfoten gewichtig unter die Brust. "Wieso nennst du ihn Giovanni?", will Lene wissen. Magda schnurrt und antwortet dann langsam: "Wir nennen ihn Giovanni, seitdem der Kleine denkt, er sei was besonderes. Er hat doch diesen Italienischkurs bei dem schwarzen Ungeheuer gegenüber angefangen. Ein Dackel und Italienisch. Pah!" Magda leckt sich verächtlich das Fell. Lene ärgert sich ein bisschen über Magda. Wie konnte sie Theo nur so schlecht machen? Aber Theo flüstert ihr ins Ohr: "Lass nur, die hat schlecht geschlafen. Außerdem müssen Katzen rummeckern. Hab bis jetzt noch keine erlebt, die das nicht gemacht hätte. Hat's ja auch nicht leicht die Magda, alle halbe Jahre wieder einen neunen Schwung Babys und dann die ganze Bagage immer ohne Mann aufziehen."
"Vielleicht weil sie so garstig ist", überlegt Lene halblaut. Welcher Kater würde da schon dableiben wollen? Doch Theo meint: "deshalb ist sie wohl eher so garstig geworden, Bella. Enttäuschte Frauen, ich sage dir, ein schwieriges Kapitel bei Mensch und Tier." Theo streicht sich wissend mit der Pfote über die Augen. "Aber im Grunde ist sie ein lieber Kerl."
Als Lene noch eine Frage stellen will, geht auf einmal ein fürchterliches Gezeter durch den Garten. Ein Huhn gackert aus Leibeskräften. Ein paar Federn fliegen durch die Luft. Da kommt es gerannt. Eine kleine dicke Henne, verfolgt von einem riesigen Habicht. "Hilfe!", krächzt sie ganz außer Atem. Lene hält die Luft an. Das hat sie noch nie gesehen. Der Raubvogel hat seine Krallen ausgestreckt und schreit: "Attacke!". Theo und Magda sind sofort losgerannt. Theo stellt sich auf die Hinterpfoten und bellt aus voller Kehle: "Alarm, Alarm!". Magda kreischt: "Hau ab, du hässlicher Vogel. Hier ist Mittagsruhe, verstanden?" Die beiden sind ein gutes Team. Der Habicht kreist über ihren Köpfen, traut sich aber nicht näher heran. Das Huhn versteckt sich neben ihnen im Gebüsch. Endlich kommt der Großvater eilig aus dem Haus. Mit einem Stock droht er dem Habicht und donnert ihm mit lauter Stimme einige Verwünschungen hinterher. Der Vogel schwingt sich missmutig wieder in die Höhe. Er kreist noch einmal über dem Garten, aber dann fliegt er davon. "Gott sei Dank, Gott sei Dank!" Lene hört die heisere Stimme der Henne aus dem Gebüsch. Vorsichtig lugt sie zwischen die Zweige. Das arme Huhn hockt noch immer da und zittert. Lene streichelt ihm vorsichtig über die Federn. Es ist Gertrud. Im Apfelgarten hatten alle Hühner einen Namen. Gertrud verwechselt man auch nicht mit den anderen. Sie ist ein bisschen ungeschickt, verläuft sich oft und gerät deswegen manchmal in Schwierigkeiten. Das passiert, weil sie gern vor sich hinträumt. Gertrud hört unter Lenes Hand endlich auf zu zittern. Theo und Magda sind dazu gekommen. "Na Trudchen, das war aber knapp. Wo hast du dich denn rum getrieben?" Theo schnüffelt an Gertruds braunem Federkleid. "Keine Minute kann man dich allein lassen, also wirklich", tadelt Magda, aber sie spricht mit freundlicher Stimme und zupft Gertrud behutsam eine lose Feder vom Flügel. "Ich war mit den anderen zum Nachtisch am Himbeerstrauch", erklärt Gertrud nervös. "Dort hab ich eine so richtig dicke und süße Beere gesehen. Dafür musste ich tief in das Gesträuch hinein. Und als ich wieder draußen war, waren die anderen verschwunden und dieses grässliche Vieh kam im Sturzflug auf mich zu. Grauenhaft!"
"Warum bist du dann nicht in den Busch zurückgelaufen?", fragt Lene. Die Fliegermütze auf ihrem Kopf wird langsam ein bisschen zu warm. Gertrud legt ihren kleinen Kopf schief und überlegt angestrengt: "Ich weiß nicht", sagt sie schließlich nach langem Nachdenken "ich bin einfach losgerannt." Magda hat inzwischen zu ihrer alten Form zurückgefunden und erklärt: "Lene, Gertrud ist ein gutmütiges Federvieh, aber Hühner haben einen winzigen Kopf und ein klitzekleines Gehirn darin, was will man da erwarten?"
"Ja, und Katzen haben ein ziemlich großes Maul, nicht wahr Magdalena?", Theo knufft Magda spielerisch in den Nacken und lacht sein tiefes Lachen. Magda fängt an im Sopran zu jammern: "Ach du ungehobelter Köter!" Weiter kommt sie nicht. Der Großvater hat die Haustür geöffnet und schlurft langsam auf die Bank zu. Dort raucht er jeden Tag seine Nachmittagspfeife. Lene will sich schon die Mütze vom Kopf ziehen. Aber Theo zischt noch schnell: "Hör zu Signorina, morgen, ganz früh, da ist Frühschoppen bei den Wühlmäusen. Da lernst du den Rest kennen. Fünf Uhr. Arrivederci!" Lene hat keine Gelegenheit mehr zu antworten. Sie lässt Mütze und Brille blitzschnell in ihrer Brottasche verschwinden. Theo wedelt mit dem Schwanz. Magda miaut noch vor sich hin und Gertrud läuft gackernd zum Hühnerstall.
Lene setzt sich wieder auf die Bank. Sie wartet auf den Großvater. Als er sich zu ihr gesetzt und seine Pfeife gestopft hat, unterhalten sie sich ein bisschen: über den Habicht und Gertrud und darüber, wie viele Eier die Hühner heute gelegt haben. Der Großvater zieht dabei an seiner Pfeife. Er spricht nicht viel, aber er lächelt fast immer. Ganz besonders, wenn er von seinen Apfelbäumen und den Hühnern spricht. Er ist ein richtiger Bauer, mit großen schweren Händen. Die Finger sind gekrümmt, die Haut ist rau. Er trägt eine Schirmmütze auf dem Kopf, hat eine gestopfte blaue Leinenhose und ein Baumwollunterhemd an. Seine Füße stecken in abgeschnittenen Gummistiefeln. So läuft er den ganzen Sommer durch den Garten, gießt, hackt, schneidet die Zweige seiner Bäume und kümmert sich um die Hühner. Als der Großvater und Lene schon ein Weilchen miteinander geplaudert haben, ertönt ein lauter Pfiff vom Häuschen. Es ist Kaffeezeit. Die Großmutter steht mit ihrer Trillerpfeife vor der Tür. Damit ruft sie den Großvater jeden Tag zu den Mahlzeiten. "Na Lenchen, ein Stück frischen Rhabarberkuchen?" Der Großvater fährt Lene mit seiner großen Hand über den Rücken. Das kratzt angenehm. "Au ja!", freut sich Lene. Der Tag hatte schon so viel Neues gebracht, dass eine kleine Stärkung jetzt gerade recht kommen würde.
Der Kuchen der Großmutter schmeckt herrlich. Hefeteig, Rhabarber und eine süße Quarkdecke. Dazu gibt es eine Tasse Kakao. Lene vergisst Harveys Mütze für einen Moment. Erst als die Großmutter sie beim Abschied verschwörerisch anlächelt, denkt sie wieder an die Verabredung für morgen. "Sagt mal, wo sind denn eigentlich die Wühlmäuse hier im Garten?", fragt sie beiläufig. Der Vater hatte schon häufig von diesen Tiere geredet. Nicht gerade freundlich, wie sich Lene erinnert. Der Großvater verliert sein Lächeln für eine Sekunde. Er antwortet. "Hinten an der Kastanie hat sich die Bande zusammengerottet. Die fressen die ganzen Wurzeln von den Bäumen an. Fürchterlich." Aha, denkt Lene, das würde ja eine interessante Bekanntschaft werden. Dann drückt sie den Großvater und die Großmutter und geht nach Hause. Die Großeltern stehen vorm Gartentor. Sie winken Lene hinterher bis sie ihr rotes Röckchen nicht mehr erkennen können. Hinter dem Zaun sitzen Theo und Magda. Sie beobachten die Menschen aufmerksam. "Sind sie nicht niedlich?" fragt Magda. "Si, naturalmente!" erwidert Theo und singt: "La mia famiglia!" Magda wirft ihm einen mitleidigen Blick zu und fängt an sich zu putzen. Mit diesem Hund ließ sich manchmal kein vernünftiges Wort wechseln.
Zum Frühschoppen
Der Wecker klingelt 4:30 Uhr. Lene ist sofort putzmunter. Leise zieht sie sich ihren roten Strickrock an. Die Mutter hatte ihn gestern noch schnell gewaschen und getrocknet. Von unten hört Lene das Klappen der Hoftür. Der Vater ging in den Kuhstall zum Melken. Nun muss sie sich beeilen. Lene hängt sich die Brottasche um den Hals und streift das grüne Hemd über. Dann drückt sie Paul noch einmal an sich und flüstert: "Wünsch mir Glück!" Sie schleicht die Treppe hinunter, putzt sich im Bad schnell die Zähne, schlüpft in die grünen Gummistiefel und verlässt das Haus durch die Vordertür. Die Luft ist frisch. Lene atmet einmal tief durch. Dann läuft sie mit großen Schritten in den Garten.
Am hinteren Gartentor holt sie Mütze und Brille aus ihrer Tasche und setzt sie auf. Theo wartet schon. "Buon Giorno Bella!", flüstert er freudig. "Schon in Partylaune?" Lene krault ihm die Ohren und lacht: "Buon Giorno Giovanni!"
"Wir lernen aber schnell, junges Fräulein." Magda kichert in sich hinein. Lautlos ist sie hinter einer Konifere aufgetaucht. "Aber keine langen Schmeicheleien. Wir sind spät dran." Sie dreht Lene und Theo den Rücken zu und marschiert los. Zu dritt laufen sie im Gänsemarsch durch das kurze Gras. Ein ganz sachter Wind weht durch die Blätter der Apfelbäume. Noch ist es kühl und still. Doch wie aus dem Nichts hört Lene plötzlich den entfernten Klang eines Schlagzeugs. Als sie sich der Kastanie nähern, kommen Bass- und Gitarrentöne dazu. Sie klingen aus der Erde herauf. Aber man sieht nichts. Rein gar nichts. Dabei ist die Sonne mittlerweile schon ein ganzes Stück aus den Wolken gekrochen. "Wo sind sie denn?" Lene stupst Theo an. "Ich kann überhaupt keinen sehen." Theo läuft noch ein Stück nach vorn und setzt sich dann ruhig neben Magda ins Gras. Mit der Nase deutet er auf einen Holzstapel. Lene weiß zuerst nicht, was er meint. Aber dann erkennt sie eine niedrige Tür. Die ist einen spaltbreit geöffnet. Auf einem Holzscheit davor lümmelt sich ein merkwürdiges Tier. Es ist zu groß für eine Maus. Doch für eine Ratte ist der Schwanz eindeutig zu kurz. Die Arme hat es übereinander geschlagen. Auf seiner Nase trägt es eine dunkle Sonnenbrille. Um den Kopf hat es ein Tuch gewickelt. Das ist also eine Wühlmaus, denkt Lene und wundert sich. "Hier sind wir", sagt Theo endlich. "Darf ich bekannt machen: Rodney, der Türsteher vom Klub; Lene, die Tochter vom Bauer." Rodney nimmt ganz langsam seine Sonnenbrille ab. Seine kleinen Augen heften sich auf Lene: auf die grünen Stiefel, den roten Rock und auf Harveys Mütze. "Sieh an", sagt er dann mit einer dünnen Fistelstimme, die gar nicht so recht zu seiner dunklen Sonnenbrille passen will. "Ist sie in Ordnung?" Theo nickt heftig mit dem Kopf. "Na dann rein mit euch, die Jungs da unten sind schon gut drauf." Rodney stößt die Tür auf. Magda springt als erste hinein. Als Theo hinterher will, hält ihn Lene am Schwanz zurück. "Theo, ich bin doch viel größer als ihr. Wie soll ich denn da reinpassen?" Aber Theo beruhigt sie: "Keine Sorge Bella, die Wühlmäuse bauen so groß, dass auch ein Menschenkind bequem Platz da drin hat. Na komm schon: wir sind doch bei dir." Theo zieht seine Lefzen nach oben und lächelt Lene aufmunternd an. Dann geht er durch die Tür. Lene seufzt. Dann legt sie sich flach of den Boden. Mühsam schiebt sie sich durch die enge Öffnung. Doch tatsächlich: Theo hat recht. Auf der anderen Seite der Tür ist so viel Platz, dass sie sich wieder aufrichten kann. Zusammen laufen sie durch einen engen Gang. Es geht immer tiefer in den Erdboden hinein. Lene muss den Kopf einziehen, um nicht gegen die Decke zu stoßen. Es gibt nur ganz wenig Licht und es ist furchtbar heiß. Lene fürchtet sich ein bisschen. Keiner sagt ein Wort. Aber die Trommeln und Gitarren werden immer lauter. "Gleich sind wir da Bella", ruft Theo von vorn. Und tatsächlich: es wird etwas heller um sie herum. Der schmale Gang weitet sich, wird breiter und höher bis Lene schließlich ganz bequem stehen kann. Als sie sich umschaut, traut sie ihren Augen nicht. Vor ihr tanzen ungefähr hundert Wühlmäuse zu einem wilden Rhythmus. Sie stehen dabei auf den Hinterbeinen, wiegen sich in den Hüften, gehen in die Knie und fuchteln mit ihren Vorderpfoten in der Luft herum. Sie tragen dunkle Sonnenbrillen. Die ein oder andere hat sich ein rotes oder schwarzes Tuch um den Kopf gewickelt. Einige stehen an der Wand und trinken. Lene kratzt sich am Hinterkopf. Das war nun das Eigenartigste, das sie in den letzten zwei Tagen gesehen hatte. Theo schmiegt sich von unten an ihr Bein. "Das ist der Wühlmaus-Frühschoppen, Bella. Einmal im Monat wird hier unten gefeiert, immer zu Vollmond."
"Aha", sagt Lene. Mehr kriegt sie nicht heraus. Ihre Kehle ist schon ganz trocken von der heißen Luft. Da fällt ihr Blick auf die Bühne. Dort stehen vier Mäuse in geringelten Hemden. Auch sie tragen dunkle Sonnenbrillen. Sie machen Musik. Es gibt zwei Gitarren, einen Bass und ein Schlagzeug. Die Maus am Bass singt, aber der Lärm der anderen übertönt ihre Stimme. "Wer ist das?", flüstert Lene. "Die Band? "Los Ratones" heißen sie. Wühlmäuse stehen auf Rock´n Roll, wusstest du das nicht?" Theo lacht. "Katzen scheinbar auch", erwidert Lene trocken. Sie hat Magda erspäht. Mitten auf der Tanzfläche springt die hingebungsvoll im Kreis, mal auf zwei Beinen, mal auf allen Vieren. "Magda liebt diesen Krach. Erinnert sie wahrscheinlich an ihre Jugend. Und bei Vollmond ist sie sowieso kaum zu halten."
"Und was ist mit dir, tanzt du nicht Theo?"
"Nicht sofort, Bella, wir gehen erst mal zur Bar. Ich habe Durst. Andiamo!"
Hinter der Theke steht eine ganz besonders dicke Wühlmaus. Die karierten Hemdsärmel hat sie aufgekrempelt. Theo springt auf den Barhocker. "Hey Amigo, wie steht's?" Auf dem Gesicht der Wühlmaus breitet sich ein freundliches Grinsen aus. "Don Giovanni, alter Köter, sieht man dich auch mal wieder hier unten. Wen hast du denn da mitgebracht?"
"Ah scusi, das ist Lene, die Tochter vom Bauer. Lene, das ist Harald, der Wirt." Harald reicht Lene die kleine Pfote. "Sehr angenehm, junges Fräulein. Wünsche gute Unterhaltung. " Haralds Pfote liegt für ein Weilchen weich und kühl in Lenes warmer Hand. Theo schaut Lene an: "Möchtest du etwas trinken? Hier gibt es etwas ganz Spezielles." Bevor Lene antworten kann, hat Harald schon einen kleinen Becher vor sie hingestellt. "Das Rezept hat mir ein Freund aus Südamerika mitgebracht: Pfirsichsaft mit Weizenkörnern. Sehr erfrischend bei diesen Temperaturen." Lene nippt vorsichtig an ihrem Becher. Gut schmeckt es, süß und fruchtig. Lene beobachtet wieder die Tänzer. Die Musik ist schon etwas ruhiger geworden. Einige der Mäuse halten sich eng umschlungen. Auch Magda springt nicht mehr wild umher, sondern dreht sich verträumt im Kreis. Dann wandern Lenes Augen an der Theke entlang. Am anderen Ende hockt ein schwarzer Vogel, ganz allein. Irgendwie sieht er einsam aus, findet Lene. Sie stupst Theo an. "Und wer ist der Vogel da drüben?"
"Der Rabe? Das ist Ralf, unser Philosoph. Kommt meistens nur auf eine Saftschorle vorbei, brabbelt unverständliches Zeug und verzieht sich wieder." Theo wendet sich Harald zu, der gerade einen Becher mit einem Stofffetzen trockenreibt. "Und wie geht's der Familie?"
Aber Lene hört schon nicht mehr auf das Gespräch zwischen Theo und Harald. Sie nimmt ihren Becher und schiebt sich langsam die Theke entlang. Ralf starrt vor sich hin. Mit den Flügeln stützt er sich auf die Theke. "Verzeihung", Lene räuspert sich und zupft den Vogel zaghaft an einer Schwanzfeder. Ralf dreht sich langsam zu ihr um. "Nichts zu verzeihen Gnädigste", krächzt er. "Was verschafft mir die Ehre?" Lene entdeckt eine Träne auf seinem Schnabel. "Ich bin Lene. Du siehst ein bisschen einsam aus. Ist alles in Ordnung?" Ralf wischt sich die Träne weg und antwortet: "Alles bestens. Danke der Nachfrage." Dann kehrt er Lene wieder den Rücken zu und starrt auf seine Apfelschorle. Lene lässt nicht locker. "Aber du weinst doch. Bist du traurig?"
"Ich bin immer traurig, meine Liebe, kein Grund zur Sorge". Ralf spricht mit gleichgültiger Stimme. Das hatte Lene noch nicht gehört. Gewiss, auch sie war manchmal traurig, aber immerzu? "Warum bist du denn traurig?", fragt sie weiter. Ralf zieht die Flügel nach oben. "Ich weiß nicht, es ist einfach so. Es war immer so und wird wohl auch immer so sein."
"Aber freust du dich denn nie über etwas, über die Musik zum Beispiel?" Ralf schaut lange zur Bühne hinüber. "Nein", sagt er dann. "Warum bist du dann überhaupt hier?" Lene wird langsam ein wenig ungeduldig. Diese Unterhaltung war wirklich nicht einfach. Ralf schaut sie beleidigt an und fragt: "Warum, junges Fräulein, soll ich denn bitteschön nicht hier sein? Hier ist es auch nicht trauriger als anderswo." Lene wird rot. Verletzen wollte sie den traurigen Raben nicht. "Tut mir leid", murmelt sie leise. Aber als sie gerade ihren Becher nehmen und zu Theo und Harald zurückkehren will, hält sie Ralf zurück. "Ist schon gut. Du kannst ruhig fragen. Eigentlich wollte ich gar nicht kommen. Ich hatte mich auf meinen Haselnussstrauch gesetzt und war schon fast eingenickt. Da kam auf einmal ein ganzer Haufen junger Menschenkinder angerannt. Ungefähr so groß wie du. Die machten einen Höllenlärm, faselten etwas von Schatz und Diamanten. Dann fingen sie an, Löcher zu graben. Da war an Nachtruhe natürlich nicht mehr zu denken. Also bin ich hierher gekommen - Aber was ist denn mit dir los kleines Fräulein, du bist ja ganz blass?" Lenes Gesicht war bei Ralfs Worten tatsächlich aschfahl geworden. Der Schatz! Jemand musste sie und Franziska belauscht haben. Oder hatte man sie sogar beim Vergraben der Diamanten beobachtet? Vor Schreck konnte sie erst gar nichts sagen. Nachdem sie ein paar Mal tief Luft geholt hatte, stammelt sie schließlich: "Oh mein Gott Ralf, wo steht dein Haselnussstrauch?"
"Gleich hinter der Kirche, meine Liebe. Was hast du denn nur plötzlich?" Aber Lene ist schon verschwunden.
Schatzsuche
"Theo, Magda, der Schatz! Ich muss sofort los!" Lene steht völlig aufgelöst vor dem Dackel. "Ganz ruhig Bella, welcher Schatz?"
"Die Diamanten. Ich hab ich mit Franziska unter einem Haselnussstrauch vergraben. Sie werden sie finden!" Theo versteht noch immer nicht. Lene muss sich anstrengen, in ganzen Sätzen zu sprechen. Sie erzählt Theo davon, wie Franziska und sie die Edelsteine gefunden und in Blechbüchsen getan hatten. Dann wiederholt sie, was Ralf gesagt hatte. Die Tränen stehen ihr in den Augen. Magda, die hinzugetreten war, streicht Lene beruhigend um die Beine. "Nicht weinen, meine Kleine, noch wissen wir ja gar nicht, ob sie euren Schatz überhaupt gefunden haben. Also nicht den Kopf verlieren!"
"Genau." Theo hat die Stirn in Dackelfalten gelegt.
"Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte?" Magda, Theo und Lene drehen sich erstaunt um. Es ist Ralf, der hinter ihnen steht. "Ich könnte zum Haselnussstrauch fliegen und nachsehen, wie die Sache steht. Ihr kommt hinterher. Ich finde euch dann schon." Lene lächelt Ralf dankbar an.
"Dann lasst uns keine Zeit verlieren!" Theo springt von seinem Barhocker. Magda, Lene und Ralf wenden sich ebenfalls zum Ausgang. "Und was ist mit uns?" Harald steht mit grimmiger Miene hinter seinem Tresen. Die Arme hält er auf der Brust verschränkt "Ihr denkt wohl, ihr könnt das Abenteuer ganz für euch alleine haben, was? Nix da!" Zu den anderen Mäusen gewandt ruft er: "Los Jungs, es geht auf Schatzsuche!" Die Wühlmäuse hören sofort mit dem Tanzen auf und verfallen in ein ohrenbetäubendes Gebrüll, das die Musik augenblicklich verstummen lässt. Im Nu versammeln sich all um Haralds Theke. Sogar die Musiker in ihren geringelten Hemden legen ihre Instrumente beiseite.
"Ich danke euch!" Lene ist gerührt. Für einen Moment stehen sie alle stumm da. Dann bellt Theo laut: "Los geht's Amigos. Andiamo!" Mit einem Mal stürmen sie alle durch den engen Gang ins Freie. Nur bei Lene dauert es etwas länger, weil sie sich wieder durch den Ausgang quetschen muss. Rodney wirft die Tür hinter ihnen zu und legt ein paar Äste davor. Die Sonne ist mittlerweile richtig aufgegangen. Ralf fliegt in den blauen Himmel hinein. Lene, Theo und Magda laufen zum Gartentor. Hinter ihnen springen ungefähr einhundert Wühlmäuse mit Stirnbändern und dunklen Sonnenbrillen. Doch bevor sie den Garten verlassen, ertönt eine heisere Stimme aus dem Hühnerhaus. "Wartet auf mich! Ich will auch mit." Es ist Gertrud die Henne. Aufgeregt flattert sie mit ihren kurzen Flügeln und rennt dem bunten Zug hinterher.
Lene ist nervös. Ob der Schatz noch da ist? Doch ihr bleibt nicht viel Zeit zum Nachdenken. Theo bellt sie von unten an: "Wo geht es lang, Signorina?" Lene überlegt kurz. Dann antwortet sie: "Am besten hier gleich über die Bahnschienen und dann am Sportplatz vorbei Richtung Friedhof."
"Bene!" Theo trottet nach vorn. Er gibt Magda und Harald Bescheid. Die Wühlmäuse hüpfen mit eleganten Sprüngen über die Schienen, immer fünf auf einmal, wie die Trampolinspringer. Lene will es ihnen nachtun, schaut sich aber vorher noch einmal um. Da steht Gertrud, mit hängenden Flügeln. "Ich trau mich nicht, Lene. Ich hab furchtbare Angst vor dem Zug. Der hat meine Cousine letzten Sommer überfahren. Lisbeth. Erinnerst du dich nicht?"
"Ach Trudchen", sagt Lene und nickt Gertrud aufmunternd zu, "stell dich nicht so an. Um diese Zeit kommt doch gar kein Zug." Aber als sie Gertruds ängstliche Hühneraugen sieht, packt sie sie einfach unter den Arm und trägt sie auf die andere Seite. Mit der Henne überholt sie die Wühlmausparade und gesellt sich wieder zu Theo und Magda. Der Morgentau liegt noch immer auf den Gräsern. Lene ist froh, dass sie sich ihre Gummistiefel angezogen hat. Das Gras riecht frisch. Der Weg geht durch ein Gerstenfeld. Grünlich gelb ist das. Die Ähren schaukeln im Wind, ganz so wie die Wellen im Meer. Theo und Magda laufen still nebeneinander her. Lene stimmt ein Lied an, um sich Mut zu machen. Es handelt von Mäusen und Raben und von Weizenkörnern in Pfirsichsaft. Hinter ihr summen die Wühlmäuse die Melodie im Chor mit. So trotten sie einträchtig auf das Dorf zu.
"Merkwürdig, dass Ralf noch nicht zurück ist." Magda kratzt sich nachdenklich mit der Hinterpfote am Ohr. "Er wollte doch nur schnell die Umgebung auskundschaften." Mittlerweile sind sie schon längst am Sportplatz vorbei. Der Friedhof liegt vor ihnen. Gleich dahinter ragt der weiße Kirchturm aus den Baumwipfeln. "Sollen wir vielleicht warten bis er wiederkommt?", fragt sie Lene.
"Nein, auf keinen Fall. Dafür haben wir keine Zeit." Lenes Stimme klingt entschlossen. "Wir müssen den Schatz finden!"
"Wie du meinst. Aber wir sollten vorsichtig sein."
"Und leise: Silenzio." Theo schaut die anderen verschwörerisch an. Von den Wühlmäusen kommt ein lang gezogenes "Pssssst". Lene legt sich den Finger auf die Lippen.
Mucksmäuschenstill schiebt sich der Zug am Friedhofszaun entlang. Erst Lene, Magda und Theo, dann Harald und seine Wühlmäuse und schließlich Gertrud, der das Herz schon bis zu ihrem dünnen Hühnerhals schlägt. Lene hat die Lippen aufeinander gepresst. Ihre Fäuste sind geballt. Die Kirchturmuhr schlägt. Siebenmal. Beim letzten Schlag stehen sie alle hinter der Kirche. Es ist still. Kein Mensch ist zu sehen. Unheimlich ist das. Lene geht zu dem Strauch, unter dem sie den Schatz mit Franziska vergraben hatte. Die Erde ist locker. Rundherum ist alles aufgegraben. Ganze Grasbüschel sind aus dem Boden gezogen. Lene schiebt an einer Stelle die Erde beiseite. Sie gräbt mit den Händen. Immer weiter und weiter. Doch so lange sie auch sucht - der Schatz bleibt verschwunden. Dicke Tränen rollen ihr über die Pausbäckchen. Theo legt seine Pfote mitfühlend auf Lenes Fuß. Magda streich ihr um die Beine und schnurrt: "Es hat keinen Zweck, meine Kleine. Lass uns gehen." Lene lässt sich mutlos ins Gras sinken. "Aber das geht doch nicht. Das ist unser Schatz. Den können sie uns doch nicht einfach wegnehmen!" Lene schluchzt laut auf. Die Tränen rinnen und ihre Nase läuft. Rodney, der Türsteher, setzt sich neben sie. Er setzt sich seine dunkle Sonnenbrille ab und lächelt Lene aus seinen winzigen Augen an. Dann bindet er sich das Tuch vom Kopf, rollt es auseinander - für ein Wühlmausstirnband ist es außerordentlich groß - und hält es Lene hin: "Hier - zum Naseputzen." Die anderen Wühlmäuse stehen betreten im Kreis. Da gackert aus einer Ecke plötzlich Gertruds heisere Stimme: "Huch, wer ist denn das?" Ihre Stimme kommt aus einem Himbeerstrauch. Lene schaut sich um. Für einen Moment ist Ruhe. Dann schlüpft Gertrud langsam aus dem Strauch heraus. Sie hat eine Himbeere im Schnabel. Hinter ihr humpelt Ralf. Er stützt sich auf Gertruds Hinterteil. Sein Gesicht ist schmerzverzerrt.
"Was ist passiert?" Lene hat ihre Traurigkeit mit einem Mal vergessen. Ralfs rechter Flügel hängt schief an seinem Körper. "Ich wollte sie aufhalten bis ihr kommt. Bin ganz nah um ihre Köpfe geflogen und habe sie angeschrieen, dass sie sich davon scheren sollen. Da haben sie mich mit Erdklumpen beworfen."
"Und scheinbar gut getroffen." Harald betastet Ralfs Flügel vorsichtig. "Hast du schlimme Schmerzen?"
"Natürlich tut es weh" - Ralf schaut zu Lene hinüber - "aber seltsamerweise bin ich nicht mehr so traurig wie sonst. Ich ärgere mich über diese Saubande! Sechs kleine Jungs gegen einen Raben. Eine Ungerechtigkeit! Aber noch ist nichts zu spät!"
"Wieso? Den Schatz haben sie ja wohl geraubt", sagt Magda mit ernster Miene.
"Aber ich weiß, wo sie ihn hinbringen wollen. Das hat der eine von ihnen gesagt." Ralf macht ein listiges Gesicht.
"Nun rück schon raus mit der Sprache!" Lene ist ungeduldig.
Ralf schaut sie pikiert an. Offensichtlich konnte er die Spannung nicht länger aufrecht erhalten. "Sie haben ihn zum alten Rittergut gebracht."
Lene springt auf und ruft: "Na dann nichts wie hinterher!"
"Nicht so schnell. Erst müssen wir Ralf verbinden!" Harald lässt sich von den anderen Mäusen ein paar Tücher geben. Mit Rodney knotet er sie ordentlich zusammen und macht eine Schlaufe für Ralfs Flügel. Als sie fertig sind, ruft Theo: "Andiamo!"
Das Finale
Das Rittergut ist nicht weit von der Kirche entfernt. Eigentlich ist davon nur noch eine Ruine übrig. Es gibt ein paar Mauerreste und Steinhaufen. Das einzige, was noch nicht zerfallen ist, ist das Taubenhaus. Lene schleicht sich mit den Tieren vorsichtig an. Von weitem kann sie Kinderstimmen hören. Ralf hat sich auf Lenes rechte Schulter gesetzt und flüstert ihr ins Ohr: "Das sind sie!" Die Stimmen kommen eindeutig vom Taubenhaus. Lene erkennt sechs Jungs aus dem Kindergarten. Wütend blickt sie in ihre Richtung. Dem einen hatte sie neulich noch von ihren Erdbeeren abgegeben! Theo stupst sie von unten an und zeigt mit seiner Nase auf einen Steinhaufen: "Los, bevor sie uns entdecken" Lene und die anderen verstecken sich hinter den Steinen. "Hast du einen Plan, Bella?" Lene zuckt mit den Schultern: "Ich weiß nicht. Es sind so viele. Wir müssten sie erstmal vom Taubenhaus herunter bekommen. Was meint ihr?"
"Ich hab da eine Idee!" Harald springt erst auf Lenes Knie und dann auf ihre linke Schulter. Er hält seine kleine Schnauze an Lenes Ohr und tuschelt solange hinein bis Lene über beide Backen strahlt.
"Was ist das denn?" ruft einer der Jungen. Auch die anderen schauen verwundert hinunter. Vor dem Taubenhaus hockt eine struppige Katze und miaut aus Leibeskräften. "Blödes Vieh, hau ab!", raunzt ein kleiner Dicker. Magda kehrt sich nicht daran. Sie singt aus Leibeskräften: "Oh sole mio!" Das hatte ihr Theo noch schnell beigebracht. Dabei stellt sie sich auf die Hinterfüße um die Brust zum Singen freizuhaben. "Klappe halten!" Der, mit dem Lene im Kindergarten die Erdbeeren geteilt hatte, wirft mit einem Stück Holz nach Magda, trifft sie aber nicht. Magda schreit vor Empörung. Theo schaut Lene hinter dem Steinhaufen tief in die Augen und sagt: "So jetzt reicht es. Diesen Banausen muss man eine Lehre erteilen!" Magda hat sich in Deckung gebracht. Noch lauter als vorher singt sie aber weiter ein Lied nach dem anderen. Durch ihr Geschrei werden bald andere Katzen aus dem Dorf angelockt. Sie sammeln sich auf dem Platz, setzen sich und strecken die Hälse in den Himmel. Ein großer dicker Kater mit aufgeplustertem Fell hockt sich neben Magda. Theo raunt Lene zu: "Pass auf Bella, gleich wird es romantisch. Das ist Hugo, der ist für die letzten sechs Katzenkinder von Magda verantwortlich. Ist der große Boss hier im Dorf, wenn du verstehst, was ich meine?" Lene versteht nicht. Aber sie sieht, wie Magda Hugo ins Ohr flüstert. Hugo dreht sich darauf zu den anderen Katzen um und ruft ihnen etwas zu. Blitzschnell formieren sie sich zu drei Blöcken. Hugo stellt sich vor ihnen auf und hebt die Pfoten wie ein Dirigent. Die Katzen verfallen in ein ohrenbetäubendes mehrstimmiges Gebrüll.
Theo lugt zwischen den Steinen hervor. Die Jungs im Taubenhaus sagen nichts mehr. Alle sechs starren sie auf das Katzenkonzert. "Los geht´s Amigos", flüstert der Dackel Harald zu. Unbemerkt trippeln die Wühlmäuse im weiten Bogen zum Taubenhaus hinüber. Eine nach der anderen klettert der Leiter hinauf. Harald läuft an der Spitze. Oben angekommen späht er vorsichtig ins Innere. Vorn kann er die Beine der Jungen ausmachen. Und gleich hinter ihnen stehen die drei Blechbüchsen, die ihm Lene beschrieben hat. Harald lässt die anderen Wühlmäuse herankommen. Dann schleicht er sich zu den Büchsen hinüber. Eine ist schon geöffnet. Etwa ein Dutzend der glitzernden Steine liegen daneben. Mit seinen scharfen Zähnen beißt Harald den Plastikdeckel der zweiten und der dritten auf. Die wilden Gesänge der Katzen draußen übertönen jedes Geräusch. Harald bindet sich sein Tuch vom Kopf und rollt fünf der Edelsteine hinein. Er wickelt es wieder zusammen und legt es sich über den Rücken. Dann tippelt er zur Leiter zurück und macht Rodney ein Zeichen. Von da an geht alles ganz fix. Eine Wühlmaus nach der anderen schleicht sich ins Taubenhaus, füllt ihr Tuch mit ein paar Steinen und verschwindet wieder. Harald steht am Rand und zischt ab und zu eine Anweisung. Plötzlich hört er von vorn einen der Jungen sagen: "Ach was Männer, die hören auch wieder auf. Lasst uns lieber überlegen, wo wir die Steine verstecken." Die Schritte des Jungen kommen in Haralds Richtung. Was nun? Die Wühlmäuse im Taubenhaus drücken sich an die Wand und halten den Atem an. Kleine Jungs können sehr gefährlich werden. Dieser hier ganz gewiss. Es war der, der das Holzstück nach Magda geworfen hatte. Doch als er sich gerade setzen will, bricht vorn ein wildes Lachen aus: "Heh, guckt euch das an!" Der Junge kehrt wieder zum Ausguck zurück. Harald fällt ein Stein vom Herzen. Aber was ist passiert? Durch eine Ritze im Fußboden schaut er auf den Platz hinunter, auf dem die Katzen gerade noch im Chor gesungen haben. Harald grinst. Unten sieht er Gertrud und Ralf. Sie haben sich an den Flügeln gefasst und tanzen - wie im Ballett! Gertrud zählt mit ihrer heiseren Stimme den Takt. Ralf versucht eine Pirouette, kommt wegen des verbundenen Flügels aber ins Schleudern. Harald reist sich mühsam von der außergewöhnlichen Vorstellung los. Er piept leise zu den anderen: "Los Jungs, gleich haben wir es geschafft!" Die letzten sechs Mäuse laden sich je zu zweit eine der Blechbüchsen auf die Schultern und klettern behutsam die Leiter hinunter. Harald schaut sich noch einmal um. "Saubere Arbeit", murmelt er.
Lene kann ihr Glück kaum fassen. Die Wühlmäuse türmen die Edelsteine neben ihr und Theo auf. Einige wischen sich anschließend mit ihren Tüchern den Schweiß von der Stirn. Lene muss sie nur noch in die Büchsen stecken. Theo ist zufrieden. Zu Lene sagt er: "So Bella, jetzt lauf und bring den Schatz in Sicherheit!" Lene krault Theo am Ohr. Dann streicht sie Harald über den Rücken. "Ihr seid die tollsten Freunde der Welt. Danke." Harald kratzt sich verlegen am Hinterkopf. Theo lächelt geschmeichelt. Lene schaut sich nach Magda um. Die Katze sitzt einträchtig mit ihrem schwarzen Kater in der Sonne und schnurrt. "Keine Chance, Bella, gegen den kommst du jetzt nicht an." Theo verdreht seine Dackelaugen und singt: "L'amore!" Mit diesem Wort tritt er hinter dem Steinhaufen hervor. Wie ein berühmter Operntenor schreitet er auf den Platz vor dem Taubenhaus, räuspert sich und stimmt eine Arie aus Don Giovanni an. Die Dorfkatzen finden sich noch einmal zum Chor zusammen. Gertrud und Ralf verneigen sich zum Tanz voreinander. Und schließlich führt Harald seine Mäuseschar auf die Bühne. Auch sie fassen sich an den Pfoten und tanzen zur Musik. Theo dreht sich für eine Sekunde zu Lene um und zwinkert ihr zum Abschied zu. Lene schaut zu den Jungs im Taubenhaus hinauf. Sie muss sich das Lachen verkneifen. Mit offenen Mündern starren die auf die tanzenden und singenden Tiere. "Na ihr werdet euch wundern!", denkt Lene. Dann packt sie den Schatz und läuft gemütlich nach Hause.
Als Lene ankommt, ist es schon fast neun Uhr. Ganz leise öffnet sie das grüne Tor und schleicht sich über den Hof zum Haus. In der Küche hört sie Geschirr klappern. Lene zieht die grünen Gummistiefel in der alten Waschküche aus. Auf Strümpfen steigt sie unbemerkt die Treppe hinauf und huscht schnell in ihr Zimmer. Als die Tür hinter ihr zufällt, atmet sie auf. Puh, das war geschafft! Die Blechbüchsen stellt Lene unter ihr Bett. Sie würde mit Franziska später entscheiden, was sie mit dem Schatz machen wollten. Lene gähnt und merkt plötzlich, wie müde sie ist. Sie zieht den roten Strickrock und das grüne Hemd aus und legt sich zum schlafenden Paul ins Bett. "Nur fünf Minuten", murmelt sie Paul in sein Plüschohr. Paul macht die Augen kurz auf und reibt sie sich mit seiner dicken Teddybärenpfote. Er brummt: "Schlaf schön, Lene."
"Du auch", antwortet Lene ohne sich zu wundern. Ihr fällt ein, dass sie Harveys Mütze ja noch immer auf dem Kopf und die Brille auf der Nase trägt. Gähnend streift sie beides ab, schüttelt ihr rot kariertes Kissen auf und schließt Paul fest in die Arme. Dann schläft sie ein. Sie träumt: von Theo und Magda, der ängstlichen Gertrud und dem traurigen Ralf, von Harald, dem Wirt und Rodney, dem Türsteher. Erst als es laut an der Tür klopft, wacht Lene wieder auf. Die Mutter steht vor ihr und fragt: "Na meine Liebe, du willst wohl heute gar nicht aufstehen?" Lene streckt sich und gähnt herzhaft. "Und übrigens", die Mutter lächelt, "Franziska kommt nächste Woche wieder. Das hat mir ihre Oma gerade beim Bäcker erzählt." Lene freut sich und murmelt: "Na gut, dass der Schatz wieder da ist." Die Mutter schaut sie neugierig an: "Welcher Schatz denn Liebes?" "Ähm - ach nichts Mutz, ich bin nur noch nicht ganz wach." Lene kratzt sich am Hinterkopf. Was war eigentlich passiert? Hatte sie das alles wirklich nur geträumt? Aber da fällt ihr Blick auf den Fußboden. Da liegt sie: Harveys Mütze. Lene atmet tief durch. Als die Mutter wieder gegangen ist, hebt sie Mütze und Brille auf und versteckt sie unter ihrem Kopfkissen. Dann rückt sie Paul zurecht, so dass er es bequem hat, und deckt ihn sorgfältig zu. "Schlaf einfach weiter", flüstert sie. Paul zwinkert müde mit seinen runden Bärenaugen, bevor er sich auf die Seite rollt. Lene schlüpft in ihren roten Strickrock und geht singend zum Frühstück.



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