Kurzgeschichtenwettbewerb Weg-Kreuzungen
Kurzgeschichte - Als Karl zum Fenster hinaus schaute

Unser Buchtipp

Patricia Koelle: Die Füße der Sterne

Patricia Koelle
Die Füße der Sterne
Dr. Ronald Henss Verlag
ISBN 978-3-939937-04-5

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Notaufnahme

© Greta Schnall

Als Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem Alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.

Zur gleichen Zeit saß Sheryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnelltrasse beträgt die Fahrtzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden.

Im nächsten Moment wurde Sherryl von einem anderen Problem geplagt. Sie spürte, dass ihr Blutzuckerspiegel gerade rapide sank. Als langjährige Diabetikerin war sie sensibilisiert für dieses gefürchtete Schwächegefühl. Sherryl hatte schon ein paar Mal damit zu kämpfen gehabt und bekanntlich war ein zu niedriger Blutzuckerwert gefährlicher als ein zu hoher. Da ihr die Situationen nahezu lebensbedrohlich erschienen waren, hatte sie seitdem immer und überall eine Süßigkeit dabei.

Sie öffnete ihre Handtasche und kramte hektisch darin herum. Wo steckte der Schokoriegel!?

Endlich hatte sie ihn gefunden und biss erleichtert hinein. Bereits ein wenig panisch stopfte sie sich dann gleich den ganzen Rest in den Mund.

Sie konnte beinahe spüren, wie neue Energie in ihre Blutbahn schoss und bereits ein paar Minuten später fühlte sie sich besser.

Nun wollte Sherryl ihr Hirn endlich auf Stand by schalten und nach all den Grübeleien ein paar Minuten entspannen. Sie zwang sich dazu, ihre Augen zu schließen und an nichts zu denken.

Inzwischen erhob sich Karl aus dem gemütlichen Sessel am Fenster. Die entspannten Stunden waren vorbei. Mit einer unwilligen Bewegung wischte er über seine feuchte Stirn.

Es musste wieder einmal sein. Also nahm er seine Jacke von der Garderobe und verließ das Haus.

Karl war fünfundzwanzig Jahre alt und lebte mit seiner Mutter zusammen. Sein Vater war bereits vor mehreren Jahren gestorben. Karl war ein hübscher Bursche, der allerdings selten lachte oder zu Späßen aufgelegt war. Freunde hatte er keine und eine Liebesaffäre, geschweige denn eine Freundin, hatte in seinem Leben anscheinend auch keinen Platz. Er war aber nicht etwa zu beschäftigt. Von seiner schwarzmalerischen, dominanten Mutter seit jeher umgluckt, wurde er mit der Zeit immer gehemmter und vermied es meist, unter Menschen zu gehen. Und da ihm die "Außenwelt" von Jahr zu Jahr mehr Angst machte, blieb er einfach bei ihr.

Absurderweise arbeitete Karl als Krankenpfleger. Denn an seinem Arbeitsplatz war er aus unerfindlichen Gründen in der Lage, wenn auch mit einiger Überwindung, in eine andere Rolle zu schlüpfen.

Diese ständigen menschlichen Kontakte strengten ihn an, trotzdem begegnete er den Patienten stets freundlich und verbindlich. Dass er sich in einer Schicht mehrmals umziehen musste, weil ihn die zwar kurzen, aber häufigen Dialoge jeweils einen kleinen Schweißausbruch kosteten, bemerkte zum Glück kaum jemand.

Karl war am hell erleuchteten Klinikgebäude angekommen. Die Nachtschicht mochte er nicht. Während des Nachtdienstes musste er immer besonders viele Gespräche führen, besonders viele Fragen beantworten und Wünsche erfüllen. Und schon allein das ständige Ansteigen seines Adrenalinspiegels, wenn wieder und wieder die Patienten nach ihm riefen, hielt ihn wacher als ihm lieb war.

Doch das alles gehörte natürlich zu seinem Beruf.

Sherryl wankte regelrecht aus dem Zug, der gerade sanft angehalten hatte. Sie war so unendlich müde. Die äußerst zäh verlaufende Sitzung der Projektleitung am Vormittag hatte sie geschlaucht.

Wahrscheinlich hatte sie aber in der letzten Nacht einfach zu wenig geschlafen. Ihr Nachbar, ein braungebrannter und charmanter James Bond Verschnitt, hatte sie wieder einmal zum Essen mit anschließenden "Zärtlichkeiten" eingeladen. Sherryl kannte und mochte ihn schon lange. Doch mehr wurde einfach nicht daraus. Und das war gut so.

Gestern, als sie nackt und ahnungslos neben ihm lag, hatte er doch tatsächlich versucht, sie zu der ein oder anderen kleinen "Korrektur" zu überreden. Hier ein wenig straffen, da ein wenig absaugen, das wäre sie ihrem doch schon etwas reiferem Körper schuldig, oder? Nicht, dass sie nicht attraktiv wäre… Die peinliche Diskussion dauerte die halbe Nacht.

Ein kleiner Stachel blieb. An schlechten Tagen, die sie, dem Himmel sei Dank, noch regelmäßig einmal im Monat hatte, fühlte sie sich manchmal ein bisschen wie eine alternde Matrone. Mit Diabetes und schlaffer Haut.

Sherryl war eine schöne Frau, wenn auch nicht nach modernen Maßstäben. Mit ihren (wenn auch gefärbten) rotblonden Locken und der wohlgeformten, etwas zu üppigen Figur, wirkte sie wie ein bejahrter Botticelli-Engel. Aber die neunundvierzig Jahre sah man ihr nicht an.

In einem Pulk von Mitreisenden kämpfte sich Sherryl zum Ausgang des Bahnhofs vor und trat erleichtert auf die Straße.

Karl streifte unwillig seine Dienstkleidung über. Dieses Weiß, so makellos und rein. Nicht wie sein Innenleben, durchsetzt mit grauen Flecken.

Er warf noch einmal einen prüfenden Blick in den Spiegel. Sah nicht sein ansprechendes Gesicht, seine ausdrucksstarken Augen. Er bemerkte nur, dass sich auf seiner Oberlippe kleine Schweißperlen gesammelt hatten. Das war jedes Mal vor Dienstbeginn so. Ein gewohntes Symptom der gewohnten Angst.

Er verließ den Umkleideraum und machte sich auf den Weg zur Notaufnahme, seinem Arbeitsplatz.

Bevor Sherryl ihre Wohnung ansteuerte, hatte sie noch ein Bedürfnis: Einen kleinen Abstecher in die Natur.

Als sie den Stadtpark erreicht hatte, beschleunigte sie ihre Schritte, um rasch in das wohltuende Grün eintauchen zu können. Sie liebte den Park. Doch als sie jetzt die knackig jungen Joggerinnen erblickte, begann auch sie schneller zu gehen. Immer schneller, ohne die Umgebung noch richtig wahrzunehmen. Sie musste in Zukunft unbedingt mehr für ihre Fitness tun, dachte sie verbissen.

Wenn sie als die taffe Businessfrau schon auf eine Familie und den ersehnten Sohn verzichtet hatte, wollte sie wenigstens noch einen Mann abbekommen…

Nachdem Sherryl eine halbe Stunde lang fast durch die Anlage gerannt war, hielt sie schwer atmend an. Sie hatte Seitenstechen und zittrige Knie. Auf die nächste Parkbank sinkend fiel ihr ein, dass sie, abgesehen von dem Schokoriegel, seit Stunden nichts mehr gegessen hatte. Ihre täglichen Medikamente, die den Blutzucker senkten, hatte sie jedoch, wie immer, eingenommen…

Da spürte sie auch schon die leichte Übelkeit, die wohlbekannte Schwäche, merkte, wie ihr der Schweiß ausbrach. "Um Gottes Willen, ich brauche sofort was Süßes!", dachte sie voller Panik. Verzweifelt schüttete sie den Inhalt ihrer Tasche aus.

Nichts! Und bis sie zuhause war, wäre es vielleicht schon zu spät.

Hektisch schaute sie sich um. Gerade jetzt war kein Mensch in ihrer Nähe! Benommen vor Erschöpfung und Angst lehnte sie sich zurück. Da entdeckte sie hinter den Baumwipfeln eine Mauer.

Das Krankenhaus! Es befand sich gleich um die Ecke. Wenn sie zwischen den Büschen durchkroch, wäre sie in drei Minuten da. Mit letzter Kraft rutschte sie von der Bank ins Gras.

"Schaust du mal nach der "Unterzuckerten" in Raum drei?", rief ihm sein Kollege in dringlichem Ton zu. Karl sah ihn fragend an. "Die haben wir vor einer Stunde rein bekommen, kam quasi auf allen vieren an gekrochen in ihrem eleganten Kostüm." Der Kollege lachte ein wenig hämisch.

Karl freute sich beinahe über die neue Patientin. Wahrscheinlich war sie nach der Erstversorgung noch ein wenig weggetreten. Er musste sich also nicht groß mit ihr unterhalten.

Er zog die Tür auf und trat in den Raum. Dann blieb er wie angewurzelt stehen.

Er konnte es nicht fassen.

Da lag sie. Die Frau, die er schon so lange begehrte. Die in seinen Träumen zuhause war. Karl fühlte sich plötzlich benommen und gleichzeitig aufgeregt. Das war der Moment, auf den er seit Jahren gewartet hatte. Wie in Trance drehte er den Türschlüssel um. Es geschah ganz unbewusst.

Zögernd trat er zu ihr ans Bett. Schaute auf sie hinunter. Dieses zarte Engelsgesicht, die goldenen Locken… Dass das Objekt seiner Begierde fast doppelt so alt war wie er, registrierte Karl nicht.

Sherryl schlug die Augen auf. Verwundert schaute sie zuerst zur Infusionsflasche, die über ihr hing, dann zu Karl. Langsam realisierte sie, was geschehen war.

Im ersten Moment schämte sie sich, denn soweit war es bisher noch nie gekommen. Sie richtete sich auf und merkte, dass es ihr schon wieder relativ gut ging. Also würde sie gleich aufstehen und von hier verschwinden.

Doch wer war der nette Junge da an ihrem Bett?

"Hallo, schöne Frau, geht`s besser?", sprach Karl sie mit angestrengter Munterkeit in der Stimme an. Mittlerweile war er noch nervöser als sonst und seine Hände waren so feucht wie nie zuvor.

Scheinbar fürsorglich berührte er ihre Schulter und spürte dabei ein leichtes Flattern in seinem Bauch.

Sherryl sah dankbar zu ihm auf. Und mit erwachtem Interesse.

Dieser Junge sah genauso aus, wie sie sich ihren einmal erwachsenen Sohn erträumt hatte. Er wäre genauso hübsch gewesen, genauso charmant, wäre vielleicht auch einmal Arzt geworden…. Augenblicklich wurde sie von einer Woge mütterlicher Gefühle überrollt.

Karl holte theatralisch sein Stethoskop hervor. Er müsse jetzt noch eine kleine Untersuchung machen, erklärte er.

Er ahnte, wofür ihn dieses bezaubernde Geschöpf hielt und dachte gar nicht daran, sich als "einfacher" Krankenpfleger zu erkennen zu geben.

Verstohlen wischte er seine nassen Hände an der noch makellosen Hose ab.

Darauf hoffend, dass sie nichts von seinem inneren Aufruhr bemerkte, schlug er mit einem entschuldigenden Lächeln die Bettdecke zurück. Dann schob er behutsam das Krankenhaushemd beiseite.

Was er jetzt sah, verschlug ihm den Atem.

Diese samtenen Kugeln, wie zwei übergroße Schaumküsse! Die sanfte Rundung des Bauches, die Haut marzipangleich, genau wie die der üppigen Schenkel. Der mütterlich anmutende, doch zugleich so sinnliche Schoß… Und der Geruch, der ganz leicht daraus heraufwehte, süß und gleichzeitig herb. Wäre er selbst unterzuckert gewesen, allein dieser Anblick hätte ihn geheilt.

Der zartrosa Slip, der die Schambehaarung verdeckte, konnte ihn auch nicht mehr retten. Karl war bereits mehr als erregt. Solche extremen Empfindungen waren ihm fremd. Gott sei Dank saß er.

Sanft setzte er mit einer Hand die Membran des Stethoskops auf ihre Brust. Die andere drückte er, scheinbar prüfend, in das weiche warme Fleisch.

In seinen Fingerspitzen kribbelte es. Er wollte tasten, er wollte fühlen, kneten und reiben. Das gebot ihm sein schon so lange verdrängter männlicher Instinkt.

Sherryl bemerkte überhaupt nicht, was sich da anbahnte.

Vertrauensvoll schaute sie zu ihm auf. Fast fühlte sie so etwas wie Stolz auf diesen Jungen. Wie fachmännisch er wirkte, wie souverän. Und dabei war er noch so jung.

Noch leicht angeschlagen und deswegen etwas sentimental gestimmt, schloss sie die Augen und stellte sich vor, er wäre ihr Sohn. Seine Mutter war zu beneiden.

Wegen seiner aufgewühlten Sinne ebenfalls etwas angeschlagen, schloss auch Karl kurz die Augen und stellte sich vor, die Frau wäre seine Geliebte. Am besten jetzt gleich. Denn er war mittlerweile vor Erregung schon schier aus dem Häuschen. Er schwitzte so stark, dass sein T-Shirt regelrecht am Rücken klebte.

Schnell nahm er seine Hände von ihrem Körper und drehte sich ein wenig zur Seite.

"Alles in Ordnung", presste er hervor.

Sherryl ergriff, von spontaner Zuneigung übermannt, seine Hand.

"Danke für alles, Sie werden lachen, aber ich habe mir immer schon einen Sohn gewünscht, der so ist wie Sie!"

Doch Karl lachte nicht. Sohn?! Das war wie ein Schlag in den Magen.

Er drehte sich um und schaute sie ungläubig an. Dann loderte plötzlich eine Flamme in seiner Brust. Zorn.

Als er jetzt auch noch diese ihm so gut bekannte betuliche Miene sah, wurde Wut daraus.

Er brauchte keine Mutter! Er hatte schon eine. Bis zum Überdruss.

Karl ballte die Fäuste. Dann sprang er auf und starrte Sherryl wutentbrannt in die Augen.

Sie starrte zurück, verstand nichts.

"Ich brauche keine Mutter!", knurrte er. "Ich brauche eine Frau, einen Körper. Ich brauche es. Jetzt. Endlich!"

"Nein, so habe ich das nicht gemeint", stammelte Sherryl jetzt mit Angst in der Stimme. "Das können Sie nicht…!"

Doch Karl handelte nun wie im Rausch, wusste nicht mehr, was er tat.

Verzweifelt riss er die Decke weg und ihr Nachthemd nach oben. Er musste sie haben, koste es, was es wolle.

Zuerst war Sherryl wie gelähmt, dann öffnete sie den Mund, wollte schreien.

Panisch drückte Karl seine Hand darauf und sofort gruben sich ihre Zähne hinein. Das war zuviel für ihn.

Wie von Sinnen riss Karl ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und stopfte es in ihren Mund. Jemand klopfte laut an die Tür.

Sherryl schlug wild um sich. Fluchend packte er sie an den Schultern und zerrte sie aus dem Bett auf den Boden. Schwer atmend stemmte er seine Knie auf ihren Oberkörper.

Er bemerkte, wie sie langsam das Bewusstsein verlor. Wahrscheinlich hatte sie sich den Kopf angeschlagen. Egal. Jetzt hatte er sie bezwungen. Er fühlte sich wie ein Held.

Aus dem Klopfen wurde ein Hämmern.

Karl hörte nichts mehr. Er betrachtete nur diesen wunderbaren Körper. Küsste genüsslich ihre Brüste, ihren Bauch.

Dann beugte er sich vor und sah mit zärtlichem Blick in ihr schönes Gesicht. Ein kleines Lächeln huschte über seine Lippen.

Es musste sein. Karl schaute zum Bett hinauf. Dort lag das große Kopfkissen…

Eingereicht am
27. September 2008

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