Kurzgeschichtenwettbewerb Weg-Kreuzungen
Kurzgeschichte - Als Karl zum Fenster hinaus schaute

Unser Buchtipp

Der Mann, der vergewaltigt wurde

Der Mann, der vergewaltigt wurde
Hrsg. Ronald Henss
Dr. Ronald Henss Verlag
ISBN 978-3-9809336-8-1

beim Verlag bestellen
bei amazon bestellen

Liebe für eine Nacht

© Stephanie J. Schultz

Als Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem Alten Turm aus dem frühen 14.Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.

Zur gleichen Zeit saß Sheryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnelltrasse beträgt die Fahrzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden.

Karl blickte auf seine Uhr. Es war Freitagnachmittag, kurz nach 17.00. In fünf Stunden würde er am Hauptbahnhof Göttingen ankommen. Als Überraschung zu Biancas 30.Geburtstag. In zwei Wochen zog sie nach Frankfurt zurück. Endlich. Er freute sich sehr darauf, sie wieder in seiner Nähe zu haben.

Sie kannten sich bereits seit Jahren, hatten gleichzeitig nach erfolgreichem Examen im selben Verlag angefangen und einige Zeit gemeinsam gearbeitet. Den Kontakt hatten sie immer gehalten. Seit er sich vor zwei Monaten nach achtjähriger Beziehung von seiner Lebensgefährtin getrennt hatte, hatten sie wieder häufiger miteinander telefoniert. Letzten Samstag hatte sie ihn in Frankfurt besucht, sie waren tagsüber durch die Weinberge im Taunus gewandert und abends hatten sie beim ersten Federweißen der Saison zusammen gesessen. Er spürte noch immer das Kribbeln, das er bei ihrem Anblick den ganzen Tag über empfunden hatte. Er wusste nicht ob es ihr genauso ging. Er hatte sich nicht getraut zu fragen.

Aber bevor er Bianca heute in die Arme schließen konnte, musste er noch zu einer Abschlussbesprechung. Sie hatten ein renommiertes Meinungsforschungsinstitut damit beauftragt, den Markt zu analysieren und eine Studie zu erstellen, in welcher Marktlücke man die neue Wohnzeitschrift ansiedeln könnte. Die Präsentation war heute Abend und die Informationen, die vorab zu ihm durchgedrungen waren, verhießen ein erfolgversprechendes Ergebnis.

Darum hatte er für diesen Tag einen besonderen Rahmen gewählt. Das Lokal im Alten Turm, ein Geheimtipp weit über Frankfurts Grenzen hinaus.

Die 77 Minuten im Zug vergingen wie im Flug. In Gedanken ging Sheryll noch einmal ihre Präsentation durch. Es war ihr erstes Projekt, das sie eigenverantwortlich von Anfang bis Ende geleitet hatte. Sie war mit dem Ergebnis zufrieden, ihr Team hatte sie bei ihrer Feuerprobe die ganze Zeit über nach Kräften unterstützt. Zufrieden klappte sie die Mappe auf ihrem Schoß mit den Unterlagen der Analyse zusammen und schloss für einen Moment die Augen.

Sie war stolz auf sich. Sie war Anfang 50, aber die meisten schätzten sie auf Mitte 40. Vor drei Jahren hatte sie sich kurz vor der Silberhochzeit von ihrem Mann getrennt. Sie hatte all ihren Mut zusammengenommen. Aber es war ihr als einzig möglicher Weg erschienen. Die Monate danach waren schwer gewesen. Sie hatte ihre Kinder, ihr Haus und ihren Job im Büro ihres Mannes zurückgelassen.

Hatte innerhalb von sechs Stunden eine Einzimmerwohnung gemietet und in ihrem Auto nur das Nötigste mitgenommen. Ihre beste Freundin hatte geholfen und abends hatten sie wie in alten Zeiten auf dem Fußboden gesessen, eine Flasche Wein und zwei Gläser in der Mitte, dazwischen einen überquellenden Aschenbecher und Dutzende von Teelichtern im Zimmer, weil der Strom noch abgestellt war. Sie hatten gelacht, geredet, eine Flasche Cabernet Sauvignon ausgetrunken und drei Packungen Gauloises rot weggeraucht.

Ein Gefühl von unbeschreiblicher Freiheit hatte sie durchflutet und sie in all den folgenden Monaten, in denen sie eine größere Wohnung, einen Job und einen neuen Platz im Leben suchte, nie verlassen. Sie hatte den Schritt keine Minute bereut.

Karl tauchte aus seinen Erinnerungen auf, räumte seinen Schreibtisch auf, fuhr den PC herunter, zog sein Jackett an und verließ das Büro. Karl war 1,90 m groß, schlank, hatte kurze, schwarze Haare, die durch das Haargel noch dunkler wirkten und braune Augen. Er war der Schwarm aller weiblichen Mitarbeiter in seiner Abteilung. Karl beschloss, trotz des herrlichen Wetters mit dem Wagen zum Alten Turm zu fahren, dann wäre er später schneller am Bahnhof. Er blinzelte in das warme Licht der untergehenden Sonne, dachte wieder an das Wochenende mit Bianca.

Sheryll kam pünktlich am Hauptbahnhof an, stieg ins Taxi und ließ sich zum Alten Turm fahren. Sie bezahlte, griff nach ihrem Gepäck und öffnete die Beifahrertür. Sie schwang ihre Beine aus dem Wagen, stieg aus - und blickte in ein paar rehbraune Augen, die sie lächelnd ansahen.

"Ich vermute, Sie sind Sheryll Summer vom Ifo-Institut aus Köln?" fragte eine charmante Stimme, die ebenso wie die braunen Augen zu einem hochgewachsenen jungen Mann gehörten, " darf ich Ihnen Ihr Gepäck abnehmen?"

Sheryll erwiderte den Blick und nickte. Sie spürte eine leichte Gänsehaut. Dieses Gefühl hatte sie schon jahrelang nicht mehr erlebt.

Gemeinsam gingen sie ins Lokal. Nach Begrüßung aller Anwesenden präsentierte Sheryll ihre Analyse und die ganze Zeit ruhten Karls Augen auf ihr. Sie spürte seinen Blick und genoss die augenscheinliche Sympathie, die er ihr entgegenbrachte. Am Ende ihres Vortrags bekam sie riesigen Applaus und zufrieden mit sich selbst, sehnte sie sich nach einem Glas Wein und einer Gauloises.

Sie durchwühlte ihre Handtasche zweimal - Frauen wie sie hatten immer viel zu große und unübersichtliche Taschen dabei, aber sie konnte ihre Zigaretten einfach nicht finden.

"Sheryll, kann ich Ihnen helfen?" fragte Karl dicht neben ihr.

"Ach, so ein Mist, ich glaube ich habe meine Zigaretten im Zug liegen gelassen. Ich hole mir schnell neue aus dem Automaten unten im Keller", erwiderte sie.

"Sorry, aber der ist defekt und hier gibt's keine einzige Zigarette zu kaufen. Ich sitze nämlich sozusagen auch schon auf dem Trockenen."

"Ach herrje, was machen wir denn nun so ganz ohne Glimmstängel?"

"Ich habe meinen Wagen direkt vor der Tür, wir könnten schnell zur nächsten Tankstelle fahren und welche besorgen," schlug Karl vor.

"Das Angebot nehme ich nur an, wenn ich Sie zu einer Packung einladen darf."

"Abgemacht," stimmte Karl zu und gemeinsam gingen sie zu seinem Wagen.

Sheryll betrachtete ihn aus den Augenwinkeln. Er sah unverschämt gut aus und während sie sich unterhielten und lachten, spürte sie den unbändigen Wunsch Karl zu küssen. Sie schalt sich eine Närrin, ein Mann der fast ihr Sohn sein könnte. Aber sie genoss einfach das Gefühl dieses Augenblicks. Sie hatte es so lange entbehrt.

Da spürte sie seine Hand auf ihrer, ganz vorsichtig streichelte er ihre Finger, schweigend genossen sie diesen Moment der plötzlichen Vertrautheit. Am Alten Turm zurück, gingen sie Hand in Hand ins Lokal. Sie kümmerten sich nicht um die Blicke all seiner Kollegen, um das Getuschel der Kolleginnen. Entrückt von Zeit und Raum saßen sie händchenhaltend am Tisch und erzählten sich ihr Leben. So gut so etwas in ein paar Stunden eben geht.

Zwischendurch ging Karl vor die Tür, um Bianca eine sms zu schreiben, dass der Geschäftstermin noch dauerte und er es wohl nicht schaffen würde, an ihrem Geburtstag bei ihr zu sein.

Um drei Uhr morgens verließen sie als letzte das Lokal, gingen wie selbstverständlich Arm in Arm zu seinem Wagen. Behutsam nahm Karl Sheryll in seine Arme, sie erwiderte seine Nähe und wie in Zeitlupe legte sie ihre Arme um seinen Hals, zart glitten ihre Finger über seinen Nacken. Ihr Gesicht war dicht vor seinem, fast berührten sich ihre Nasen. Sein Atem streichelte ihr Gesicht, stumm blickten sie sich in die Augen. Es bedurfte keiner Worte, ihre Blicke sagten mehr als sie mit Worten hätten sagen können. Ihre Münder fanden sich und unendlich vorsichtig streichelten und erkundeten sie den anderen. Erst als die Sonne hinter den Bäumen aufging, fuhren sie zum Bahnhof.

Um 6.20 Uhr nahm sie den ersten Zug nach Köln. Ihre Visitenkarte ließ sie in seinem Auto in Frankfurt zurück. Ihr Herz auch.

Sie wartete wochenlang auf seinen Anruf.

Ihre Karte hatte er an die Pinwand neben dem Fenster geheftet. Immer wenn er aufsah, fiel sein Blick auf die Karte und auf den Alten Turm.

Er fand nie den Mut sie anzurufen.

Eingereicht am
09. Juli 2007

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.

Unser Buchtipp
Eine Auswahl der besten Geschichten aus unserem Wettbewerb "Schlüsselerlebnisse".

Schlüsselerlebnisse Plötzlich sah die Welt ganz anders aus
Schlüsselerlebnisse
Hrsg. Ronald Henss
Dr. Ronald Henss Verlag
ISBN 978-3-9809336-6-7

beim Verlag bestellen
bei amazon bestellen

© Dr. Ronald Henss Verlag     Home Page