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Kurzgeschichtenwettbewerb Weg-Kreuzungen Als Karl zum Fenster hinaus schaute

Tagtraum

© Doris Berger


Als Karl zum Fenster hinaus schaute, konnte er nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden. Sein Blick ruhte auf dem Alten Turm aus dem frühen 14. Jahrhundert. In der späten Nachmittagssonne strahlte das denkmalgeschützte Bauwerk eine besondere Ruhe aus.
Zur gleichen Zeit saß Sheryll im ICE von Köln nach Frankfurt. Seit der Fertigstellung der neuen Schnelltrasse beträgt die Fahrtzeit nur noch 77 Minuten. Aber sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Ihre Gedanken kreisten um die Fertigstellung des Projekts. Auch sie konnte nicht ahnen, in welcher Weise sich ihre Wege kreuzen würden.
Sie arbeitete schon lange an diesem Projekt. Sie war Teamleiterin in einer Baufirma und seit gut einem halben Jahr tüftelte sie mit ihren Kollegen an einem neuen Wohungstower in der Innenstadt von Frankfurt. Ihre Firma war sehr stolz auf diesen Auftrag - der Größten bisher. Die riesige Wohnanlage hatte 19 Stöcke mit insgesamt 150 Wohnungen. Auf dem Dach war eine Sauna und ein Swimmingpool geplant . Der komplette Tower war außen verglast, im Erdgeschoss werden Geschäfte, Boutiquen und Restaurants das Geld der Anrainer und Touristen aus den Taschen locken. Selbstzufrieden blicke sie auf die Bauentwürfe und den säuberlich bereitgelegten Vertrag, der in ihrer Aktentasche nur darauf wartet unterzeichnet zu werden. Andererseits kostete ihr dieser Auftrag auch einiges. Das letzte halbe Jahr hatte ihr Privatleben erheblich gelitten. Sie war seit über einem Jahr Single und die viele Arbeit machte die Partnersuche nicht gerade einfacher.
Zur selben Zeit wurde Karl, durch ein hupendes Taxi aus seinen Tagträumen gerissen. Er blicke auf seine gekonnt gefälschte Rolex und stellte mit entsetzten fest, dass er im Begriff war zu spät zu seinem Termin zu kommen.
Karl arbeitete für eine Immobilienfirma, die in ganz Frankfurt und Umgebung, Wohnanlagen wie Gänseblümchen im Frühling aus dem Boden schießen lässt.
Heute werden für das neueste Projekt die Verträge unterschrieben, und er musste wohl oder übel dabei sein. Er dämpfe seine - ohnehin verrauchte - Zigarette aus und schnappte sich gleich das Taxi, welches sich vorher lautstark im Verkehr bemerkbar gemacht hat.
Etwa 10 Minuten später erreichte er sein Ziel - ein großes Bürogebäude, mit vielen Fenstern, Türen und Gängen, wo man sich sicher verlaufen könnte. In dem Moment, als er aus seinem Taxi stieg, kam ein Zweites vorm Eingang zum Stehen. Ein - für seinen Geschmack - atemberaubendes weibliches Wesen stieg elegant aus dem alten Mercedes. Eine blonde Mähne umrandete ihr zierliches Gesicht. Tiefblaue Augen blitzen in seine Richtung. Er grinste verlegen. Sie wendete sich ab, und beförderte ihren Traumkörper, samt nie enden wollende Beine in Richtung Fahrstuhl. Karls Gehirn schaltete sich wieder ein.
Sheryll war schon genervt über ihren Taxifahrer, der mehr oder weniger die ganze Fahrt am Gaspedal stand und nun, da sie endlich rechtzeitig hier war, grinste sie auch noch so ein - für sie Typ der Klasse "schmieriger Macho" - an. Doch als sie kurz in seine Richtung sah, musste sich eingestehen er war ein Typ der Klasse "gut aussehender schmieriger Macho" Er grinste. Sheryll verschwand schnell in Richtung Fahrstuhl, bevor sie sich den Spruch "ich habe meine Telefonnummer verloren, kann ich deine haben?" oder ähnliches anhören musste. Er ging aber in dieselbe Richtung und nun standen beide vorm Fahrstuhl. Karl wippte nervös vor und zurück. Sheryll blickte demonstrativ auf ihre Fingernägel.
Beide stellten mit erstaunen fest, dass sie im gleichen Stock ausstiegen und auch bei derselben Bürotür standen. "Oh nein!", dachte sich Sheryll. Karl hingegen war um einiges enthusiastischer. Ein kleiner dicker Mann öffnete die Tür. "Frau Schulze! Ich habe sie bereits erwartet!", mit einer einladenden Geste ließ er Karl und Sheryll in sein geräumiges Büro. "Karl, ich dachte du kommst wieder einmal zu spät", grinste der kleine dicke Mann.
Er wuchtete seine korpulenten Körper hinter seinen Schreibtisch, und bot Sheryll einen Sessel gegenüber an. Karl nahm zur Linken des dicken Mannes platz. Sheryll ging ein Licht auf. "Senior und Juniorchef!", dachte sie ganz kleinlaut und bereute, dass sie nicht doch ein paar Worte mit Junior gewechselt hatte, aber wie konnte sie das auch wissen. Der kleine Dicke meldete sich zu Wort. "Mein Name ist Westenhagen" - Sheryll nickte. "Das ist mein Sohn Karl. Er wird bald die Firma übernehmen - die weiteren Geschäfte werden später über ihn abgewickelt werden", erklärte der kleine dicke Mann.
Sheryll und Karl standen auf und gaben sich die Hand. Ein kleiner Stromschlag durchfuhr Karl, Sheryll hingegen war noch immer sehr skeptisch
- jetzt erst recht, wo sie erfahren hat wer er ist. Der kleine Dicke sprach
weiter: "Da unsre Juristen noch nicht da sind, würde ich meinen, wir nehmen einen kleinen Drink zu uns!" Er stand auf und bereitete 3 knallbunte Drinks. Hinter seinem Rücken spielte sich einstweilen interessanteres ab.
Karl versuchte immer wieder Sherylls Blick zu deuten. Sie jedoch hatte sich verbissen auf die Blumenvase vor sich konsentriert, obwohl sie, wie sie zugeben musste, anfing schwach zu werden und ihm ein mattes Lächeln schenkte. Währenddessen wurden die Drinks auf den Tisch gestellt. Sheryll griff nach dem langstieligen Glas. Sie hatte das Gefühl, als bräuchte sie dringend etwas zum Anhalten. Sie hatte sich gerade durchgerungen etwas zu sagen, als es auch schon klopfte. Karl wäre es auch lieber gewesen, wenn jetzt niemand gestört hätte. Die Anwälte traten ein.
Eine halbe Stunde später war der Bauvertrag unter Dach und Fach. Sheryll fühlte sich auf einmal seltsam leer. Alles wofür sie solange gearbeitet hatte, war innerhalb kürzester Zeit erledigt gewesen. Sie trat aus dem Büro und überlegte sich gerade was sie noch machen sollte, bis ihr Zug zurück abfuhr, als Karl an ihre Seite kam. "Hätten wir das auch hinter uns gebracht!", er grinste. Sheryll konnte nicht anders, sie lächelte zurück.
"Ja das ist wahr! Wieder etwas mehr Freizeit!" Karl nickte. "Wie wär´s, wenn wir unsere wiedererlangte Freizeit etwas feiern und Essen gehen?", Karl hörte sich sprechen, aber er glaubte nicht, dass das aus seinem Mund kam.
Die meisten Leute dachten, er wäre ein Macho schlechthin. Gut, er hatte das Aussehen - schwarze Haare, braune Augen, groß gebaut und nicht unsportlich - aber im Grunde war er sehr schüchtern. Karl tat sich als Teenager bereits schwer, Mädchen anzusprechen und das änderte sich auch nicht, als er älter wurde. "Ja, gerne!", antwortete Sheryll und auch sie war von sich selbst überrascht. Normalerweise war sie nicht der Typ, der sich einfach zum Essen einladen oder sich einen Drink spedieren lässt. Sie hatte schon einige Erfahrungen bezüglich solchen Angeboten und mit der Zeit musste sie feststellen, dass es nur um eines ging.
Karl strahlte. "Ich bin gespannt, wie die Wohnanlage wohl in Natura aussehen wird." Sheryll konterte: "Fantastisch, was denkst du? Ich habe es mit entworfen!" Sie grinste. Beide standen wieder vorm Aufzug und stiegen ein.
"Achja, du kannst mich Sheryll nennen!", sie lächelte. Karl blickte sie erstaunt an. "Nenn mich Karl!"
Die Aufzugstur schloss sich.
Und wie ging es mit Sheryll und Karl weiter. Wer weiss?! Vielleicht sind sie nur essen gegangen und Sheryll stieg wieder in den Zug - fort von Karl.
Vielleicht haben sie sich auch eine Wohnung in der Anlage gemietet, die sie zusammengeführt hat. Aber vielleicht war es auch nur ein Tagtraum eines Mannes, der sich gedankenverloren einen Turm aus dem 14. Jahrhundert.



Eingereicht am 06. Juli 2006.
Herzlichen Dank an die Autorin / den Autor.
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