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Eingereicht am
03. Juni 2007

Das Schokomonster

© Jürgen Kienzle

Praline war gerade noch einmal entkommen und kam völlig erschöpft bei ihrer Schachtel an. "Wo warst du so lange?" Ihr neuer Schokoriegel klang ernsthaft besorgt. "Las uns erst einmal rein gehen", sagte Praline und schob Snickers raschelnd zurück in die Schachtel. Hier waren sie vorerst in Sicherheit und Praline konnte verschnaufen. Nichts war mehr so wie früher. Seit Januar hatte sich hier im Schrank alles verändert. Früher starben ihre Verwandten meist an Altersschwäche, wurden grau oder setzten Schimmel an, aber seit dieses Schokomonster den Schrank unsicher machte waren die Überlebenschancen dramatisch zurückgegangen. Praline hatte bis heute nur Glück, denn sie sah nicht mehr so frisch aus und hatte auch die eine oder andere Delle. Das war es, was sie bis jetzt vor einem grausamen Tod bewahrte, denn das Monster bevorzugte nur wirklich frische Süßigkeiten.

Praline hatte sich wieder etwas erholt und setzte sich neben ihren neuen Freund. Snickers war erst vor zwei Tagen mit seiner Familie in einer Tüte angekommen und sie verliebten sich gleich ineinander. Drei Brüder von Snickers starben bereits am ersten Tag und seine Familie suchte noch immer ein sicheres Versteck. Praline hatte ihre Schachtel schon vor Monaten hinter ein Glas mit alten Bonbons gezogen und im Laufe der Zeit wurde von dem anderen Schranköffner noch eine Tafel mit Zartbitterschokolade dort abgelegt.

Zartbitterschokolade war die ideale Tarnung, denn für die interessierte sich überhaupt niemand. Leider war hinter dem Glas nicht genug Platz um Snickers und seine Familie zu verstecken, und so musste ihr Freund nach den viel zu kurzen Besuchen bei ihr, immer wieder den gefährlichen Weg, zurück in die Tüte seiner Familie auf sich nehmen. Praline konnte nur hoffen, dass er als Letzter übrig blieb und sie so noch ein paar Tage mit ihm verbringen konnte. An diesem Tag blieb alles ruhig und Praline konnte endlich den Knoppers von ihrem neuen Freund erzählen. Bevor sie ihre Schachtel verließ, hatte Praline wie immer, ihre aus Goldpapier bestehende Verpackung abgelegt und sich sozusagen nackt zwischen den Hustenbonbons und einer neu angekommenen Tüte Gummibären gezwängt um sich dann schnell hinter der Vase zu verstecken. So ohne Goldpapier sah sie richtig schlimm aus, aber das war die einzige Möglichkeit, um in dieser lebensfeindlichen Umgebung zu überleben. Jetzt einmal von den Knoppers abgesehen, denn die hatten wirklich unverschämtes Glück.

Praline besuchte die Packung in der Vase schon gut zwei Monate, und das war in diesem Schrank schon eine Seltenheit. Vor gut fünf Wochen, bei einem ausgiebigen Plausch mit den Knoppers hatte sich ihre Vermutung bestätigt, dass der Schranköffner immer wieder einmal Süßigkeiten scheinbar vor dem Schokomonster versteckte und dem nicht genug, auch noch vergaß sie zu essen. Der Schranköffner liebte Salzstangen und zu deren Pech aß er auch die Alten nicht mehr ganz so frischen Exemplare. Schokolade hingegen brauchte er nur ganz selten und für diesen Fall legte er vermutlich diesen Vorrat an, der komischerweise bis jetzt unentdeckt blieb. Praline klopfte vorsichtig an die Vase. "Wir sind schon abgelaufen" hörte sie eine verschlafene Stimme aus der Vase. "Ich bin es. Praline. Seid ihr noch alle da?" "Ach du bist es. Ja, ja alles bestens. Es gibt Neuigkeiten von außerhalb". "Ja? Bei mir auch. Ich habe einen neuen Freund der heißt Snickers". "Na das ist doch mal eine gute Nachricht. Hoffentlich hält es diesmal länger als mit dem netten Toffi, da war ja schon nach einem Tag wieder Schluss". "Ach erinnere mich nicht daran. Der war wirklich süß, aber mit einem Toffi, das bringt einfach nichts, die sterben hier wie die Salzstangen. Aber erzähl doch, was gibt es bei euch?"

"Wir haben gestern Besuch von einem Ritter bekommen. Der ist echt knackig, das kann ich dir sagen. Wäre wirklich was für dich, aber ich glaube ohne Goldpapier würde das nichts werden". "Ein Ritter? Wie heißt er denn?" "Ich glaube Alpenmilch oder so. Eigentlich ein blöder Name für einen Ritter. Aber knackig". "Ja das sagtest du schon. Wo kommt er denn her?" "Das ist es ja gerade. Du wirst es nicht glauben. Da gab es tatsächlich noch einen Schrank, der nur als Versteck für unseren Schranköffner diente, und jetzt scheinbar vom Monster entdeckt wurde. Unser knackiger Ritter konnte als einziger gerettet werden und liegt jetzt neben uns in der Vase". "Na dann wünsche ich euch noch viel Spaß mit eurem Ritter. Ich muss jetzt wieder zurück in meine Schachtel". Die guten Wünsche der Knoppers wurden vom Öffnen der Schranktüre übertönt und Praline musste die Augen zusammenkneifen, denn draußen war es scheinbar schon wieder Tag und die Sonnenstrahlen drangen bis in den letzten Winkel des Schrankes. Praline duckte sich hinter die Tüte mit den Gummibären und blinzelte vorsichtig zur geöffneten Tür.

Da war es wieder das Monster, gefräßig wie immer schnappte es sich gleich wieder die ganze Tüte mit den Snickers. Praline wurde kreidebleich, ihr Magen verkrampfte sich. "Meine Güte", schoss es ihr durch den Kopf, "schon wieder gleich die ganze Tüte". Ihr blieb auch nichts erspart. Traurig kroch sie zurück in ihre Schachtel und weinte. So konnte es nicht mehr weiter gehen. Jetzt musste sich endlich etwas ändern. Praline wischte sich die Tränen aus den Augen und dachte an Snickers. Was machte es für einen Sinn noch länger alleine in der Schachtel zu warten. Man musste gegen das Monster irgendetwas unternehmen, was ihm ein für alle Mal den Appetit auf Süßes verdarb.

Praline war entschlossen, sich zu opfern. Sie hatte nichts mehr zu verlieren und seit ein paar Tagen, begann sie an der Seite schon Schimmel anzusetzen. Das hatte sie den Knoppers natürlich nicht gesagt, und sie selber hatte das bis jetzt auch recht erfolgreich verdrängt. Aber es nützte ja nichts. Sie war halt schon fast ein Jahr alt, was für eine Schokopraline schon eine kleine Ewigkeit ist, und deshalb wurde es nun Zeit zu gehen. Praline wollte es dem Schokomonster heimzahlen und fasste einen Entschluss.

Zuerst kratzte sie sich den Schimmel von der Seite und begann dann aufwendig sich zu polieren. Danach strich sie sorgfältig ihr Goldpapier glatt und wickelte es dann um ihren glänzenden Körper. Vorsichtig rollte sie aus der Schachtel und legte sich ganz nach vorne an die Tür. Die Stunden vergingen und Praline kamen so langsam die ersten Zweifel, ob das alles wirklich eine so gute Idee war, als plötzlich die Schranktüre geöffnet wurde. Praline wäre jetzt am liebsten wieder in ihre Schachtel verschwunden, aber der Gedanke daran, wie sich das Schokomonster vor Schmerz und Übelkeit später am Boden winden würde bestätigte sie in ihrem Vorhaben, und noch ehe sie sich versah, wurde ihr schon das Goldpapier vom Leib gerissen. Der gierige Rachen des Monsters verschlang sie mit einem Satz und Praline spürte nichts mehr.

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