Haarige Geschichten
Kurzgeschichte - Haar, Haare, Frisur, Friseur, Haarfarben, blond, Blondine, Rothaarige, Glatze, Haarausfall, Bart, Rasur, Zöpfe, Locken, Dauerwellen ...

Unser Buchtipp

Abenteuer im Frisiersalon

Abenteuer im Frisiersalon
Hrsg. Ronald Henss
Dr. Ronald Henss Verlag
ISBN 978-3-9809336-0-5

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Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.

Haare und Seele

© Birgit Fröhlich

Ich sehe die Frau im Spiegel an und frage mich, was aus ihr und ihren Idealen, Wünschen für ihr Leben geworden ist. Die Friseurin fragt mich, wie sie die Haare schneiden soll. Nur die Spitzen. Sie rümpft die Nase ohne dass ich es sehen soll und wir denken beide, die Frau im Spiegel hat mehr nötig, aber wohl nicht verdient.

Ich denke an frühere Zeiten, was ein Besuch beim Friseur damals kosten durfte und dass ich noch mal soviel am Abend ausgegeben habe, meine neuen Haare auszuführen. Nach dem Haarekämmen sieht die Seele der Frau noch nackter aus. Wir waschen erst nach dem Schnitt. Ob mir das etwas ausmachte? Nein. Ich bin froh, meine kaputten Spitzen loszuwerden. Und überhaupt, was soll die Frage? Ihr Job. Die Augenringe im Spiegel verraten schlaflose Nächte. Schlaflose Nächte, weil ich mich diese Fragen nicht loslassen. Wer bin ich? Was kann ich? Was ist in den letzten Jahren passiert?

Das Wetter ist wie im April, man weiß nicht, was man morgens anziehen soll. Die Frau mit der Schere in der Hand stimmt mir zu. Mehr spricht sie nicht mit mir. Das ist in dem Preis nicht drin. Keine Seelenmassage. Nicht einmal die Gelegenheit zu einer Floskel, dass alles gut werden würde. Ich bin mit mir allein und betrachte die Frau im Spiegel. Sie ist nicht Dozentin geworden, die in der Concorde Manager in weiser Unternehmensführung unterrichtet. Die Concorde gibt es nicht einmal mehr. Die Frau ist auch nicht die jüngste Direktorin an einem Gymnasium geworden. Hat weder Haus, noch vier wundervolle Kinder (zwei eigene und zwei adoptierte) von einem emanzipierten Mann. Aber was hat diese fremde Frau erlebt? Was hat sie gelernt? Wer hat sie in all den Jahren begleitet. Sie weiß es nicht. Sie erinnert sich an ein trostloses Studium, das nicht auf das Leben vorbereitet hat, sie erinnert sich an Männer, aber nicht an deren Namen, sie erinnert sich an die Jahre nach dem Studium, die durch Arbeiten und Nachtleben geprägt waren. Beides hatte sie nie befriedigt und doch hat diese Frau immer geglaubt, sie hätte alle Zeit der Welt, den Mann, den Job und all das, was sie glücklich machen würde, zu finden.

Ich sehe durch den Spiegel den Raum an. Das Waschbecken könnte auch mal wieder gereinigt werden. Der Holzboden hat auch schon mal bessere Zeiten erlebt. Kein Hochglanz. Kein Therapiesessel. Weil man mit mir aber nicht spricht, benötige ich den aber auch nicht.

Ich bin Mitte dreißig, habe eine wundervolle Tochter, habe ein wundervolles Verhältnis zu ihrem Vater, stecke in einer bereits gescheiterten Beziehung und bin auf der Suche nach einem Arbeitgeber. Seit Monaten bewerbe ich mich auf Stellen, auf die ich entweder unter- oder überqualifiziert bin. Erkennen kann ich mich allerdings auch in keiner Stellenbeschreibung. Sollte ich eine Assistentin sein? Ich?!? Eigentlich sollte ich auf der Suche nach einer eben solchen sein. Ich sollte eine Firma haben, kreativ sein, andere sollten sich um Papier, Ordnung, Rechnungen kümmern. Ich bin das doch nicht. Ich wollte das nie sein. Ich bin das nicht. Ich lebe mit meinem Kind in einem Paralleluniversum, um den Wahnsinn zu ertragen. Will ich meine Beziehung weiterführen? Mit diesem Mann ein Kind bekommen? Muss ich mich nicht erst selbst gefunden haben? Wäre ein Kind nicht eine Flucht vor dem Leben da draußen? Was soll ich zuerst entscheiden? Und wie?

Die Frau mit der Schere hat nun ein Messer in der Hand. Ich frage nicht, warum. Eigentlich steht mir selbst der Kaffee nicht zu. Dafür schmeckt er bitter. Ausgleichende Gerechtigkeit.

Wer bin ich? Ich will schreiben. Meine Idee für ein Buch trage ich seit Ewigkeiten in meinem Herzen. Ich weiß schon gar nicht mehr, wie lange ich dies tue. Eine andere Idee: Ein Café, das Treffpunkt für alle Suchenden sein sollte. Aber das auf einem schicken Niveau. Ich will helfen. Ich halte mich selbst für eine gute Klugschwätzerin, mische mich ein, helfe anderen bei ihrer Jobsuche. Allein das Wort Job schreit die fehlende Beziehung der Menschen zu ihrer Arbeit heraus. Es ist nicht meine Arbeit, meine Stelle, meine Firma. Es ist mein Job. Und für den, so heuchle ich in jedem Vorstellungsgespräch, sei ich geboren und nur diese Firma sollte von meinen Fähigkeiten, meinem Engagement und meiner Seele profitieren. Jede Stellenbeschreibung, die ich lese, jedes Gespräch, raubt mir einen Teil meiner Seele, weil ich mich verkaufen muss ohne ich selbst zu sein. Man wirft mir mittlerweile vor, ich sähe nur noch das Schlechte in meinem Leben. Ich kann dem nichts mehr entgegensetzen. Meine Tochter ist mein Sonnenschein und sie kann meine Dunkelheit nicht erhellen.

Und nun sitze ich vor dem Spiegel, sehe das Messer blitzen und gebe vor, für eine Farbe heute keine Muse zu haben. Dabei fehlt dieser farblosen Frau auf der Suche Farbe. Die Frau mit dem Messer. Was mag in ihr vorgehen? Kann die farblose Frau nicht auf Muse verzichten, damit es sich für mich auch lohnt, mir hier die Beine in den Bauch zu stehen? Oder steht mir die Leere in meinem Geldbeutel, meinem Herzen und in meinem Leben ins Gesicht geschrieben und sie hat Mitleid mit mir? Mit mir? Ich bin diejenige, die Mitleid hat, sich der Armen und der Verlassenen annimmt und zu einem glücklicheren Leben führt. So war das immer. So war das.

Die Frau im Spiegel sieht traurig aus. Hoffnungslos, und doch erwartungsvoll, als würde sich das Schicksal noch ein bisschen Zeit lassen, damit sich die Frau von den letzten Jahren erholen kann. Sie will sich aber selbst finden, will endlich für ihr Leben Verantwortung übernehmen, sich nicht leiten lassen. Nicht reagieren, sondern agieren. Wenn sie nicht weiß, worin sie gut ist, woher sollten es denn andere wissen? Und wer sollte das denn sein? Jeder ist seines Glückes Schmied? Als ich meinen Lebensunterhalt selbst verdient habe, war ich auch nicht glücklich, ist mir in den letzten Wochen meiner Selbstfindung, die mittlerweile in eine Selbstzerfleischung entartet, bewusst geworden. Wer bin ich?

Die Frau neben mir sieht nicht so aus, wie ich mir mit Anfang zwanzig eine ideale Vierzigjährige vorgestellt habe. Sie lässt sich runderneuern. Neue Länge und neue Farbe. Und ich beneide diese Frau, weil sie sich das leisten kann. Sie wirkt glücklich. Wer ist sie? Nicht schön, aber erfolgreich? Das wäre mir immer zu wenig gewesen und jetzt beneide ich diese Frau. Mit ihr spricht die andere Frau mit Pinsel aber. Auch wenn sie in einem ähnlichen Stuhl wie ich sitzt.

Die Tür geht auf und eine Vertreterin betritt den Salon, der sich bewusst ist, dass er diesen Namen nicht verdient hat und sich deshalb "Cut and go" oder so ähnlich nennt. Geh nur schnell wieder, wenn Du schon zur Happy Hour zum Haare schneiden kommst! Die Verkäuferin, wahrscheinlich eine frühere Friseurin und nun befreundet mit all ihren Kundinnen, schlägt mir auf den Magen. Ich mochte solche Typen von Frauen nie, aber nun scheinen sie mir ins Gesicht zu spucken: "Wir haben wenigstens einen Grund morgens aufzustehen - für den wir bezahlt werden."

Die Frau mit dem Messer betrachtet mich und vergleicht die Längen auf beiden Seiten. Alles klar. Beim Haarewaschen werde ich leicht. Ich schwebe. Der Duft des Shampoos zieht in meine Nase, in mein Hirn, in meine Seele. Die Finger der wortlosen Frau bewegen sich wie die eines Schamanen und bemühen sich redlich, mir die Dämonen auszutreiben. Wie in den Salons. Ich sitze wieder vor dem Fenster zu meiner Seele und sehe nun eine andere Frau. Sie sieht belebt aus. Die Frau mit der Schere ist aber wieder da und hat die Schamanin fortgeschickt. Wortlos kämt sie meine Haare. Ob sie föhnen soll? Ob ich Gel benötige? Noch einen Kaffee? Ich verneine. Das sollte ich in der Happy Hour nicht verlangen. Ich wohne doch gleich um die Ecke, vielen Dank. Während ich meine Haare trockne, spüre ich, wie stark meine Haare sind, wie sie riechen. Meine Kopfhaut fühlt sich auf einmal an, als sei mein Kopf frei. Frei. Ich sehe diese Frau im Spiegel an und sehe das Wunder, das früher in den Salons passiert ist. Die Augenringe verschwinden. Die Haare rahmen ein entspanntes Gesicht und glänzen dabei vor Freude.

Die Frau hat nun einen Becher mit dampfendem Kaffe in der Hand und fragt mich freundlich, ob ich noch einen Wunsch hätte. Sie nimmt mich ungefragt in die Kundendatei auf und streckt mir eine Visitenkarte, auf der ihr Name gekritzelt wurde, entgegen. Sie würde sich freuen, wenn ich zufrieden war und ich wiederkäme. Ich bin zufrieden und werfe ein paar Münzen in die Röhre mit dem Namen der Schamanin und trete auf die Straße.

In der kurzen Zeit hat es aufgehört zu regnen, die Sonne blendet mich. Ich sehe eine Frau im Fenster und bewundere, wie stark sie wirkt. Der schwarze Rollkragenpullover ist zu warm für diesen Sommer, steht mir aber außergewöhnlich gut. Die Hose könnte ein wenig lockerer sitzen, aber ich habe mir schon lange keinen Gedanken mehr darüber gemacht, ob mein Po zu dick, mein Busen zu klein ist. Jeder Mensch ist nur von innen schön. Und stark. Die Haare wehen im Wind, als ich die Straße entlanggehe. Ich habe babyfrei, weil meine Tochter bei ihrem Vater ist. Ich werde mir also noch einen Kaffee bei dem Italiener gönnen, in dem ich vergangene Woche mit der Kleinen war. Ein Pinguin-Eis hatte sie sich ausgesucht und kaum die Waffel essen können, weil der Pinguin sonst keinen Hut mehr gehabt hätte. Mein Sonnenschein!

Die Frau im Schaufenster lächelt voller Stolz bei diesem Gedanken. Ich bin schön und stark. Bald werde ich meinen Platz in der Welt wieder gefunden haben. Dann werde ich wieder wissen, wer ich bin. Bis ich erneut darüber nachdenken muss und mich wieder finden muss. Dann auch wieder in Farbe. Ich bin ich. Eigentlich immer.

Eingereicht am
31. August 2007

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Ein haariges Lesevergnügen
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Hrsg. Ronald Henss
Dr. Ronald Henss Verlag
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