Haarige Geschichten
Kurzgeschichte - Haar, Haare, Frisur, Friseur, Haarfarben, blond, Blondine, Rothaarige, Glatze, Haarausfall, Bart, Rasur, Zöpfe, Locken, Dauerwellen ...

Unser Buchtipp

Abenteuer im Frisiersalon

Abenteuer im Frisiersalon
Hrsg. Ronald Henss
Dr. Ronald Henss Verlag
ISBN 978-3-9809336-0-5

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Das erste Mal

© Mario Petitto

Man kann nichts dagegen machen.

Jeder Jugendliche durchlebt bei seiner Entwicklung zum Manne zahlreiche Veränderungen in seinem Körper. Der Heranwachsende wird dabei vom Treiben seiner eigenen Hormone geradezu überwältigt! Machtlos und verunsichert steht er seinen Mutationen gegenüber. Sogar Schamgefühle kommen in ihm auf, sobald er erkennt, dass auch andere seine körperlichen Veränderungen bemerken.

Es liegt in der Natur der Sache, dass der Jugendliche bei seinem nächsten Artverwandten, dem Vater, nach Rat und Trost sucht. Doch viele Väter stehen dieser Situation - obwohl sie nicht überraschend auftritt - völlig unvorbereitet gegenüber. Fragen werden knapp und ungenügend beantwortet. Häufig reagieren überforderte Väter sogar verärgert auf Juniors verzweifelte Kommunikationsversuche!

Oftmals müssen dann die Mütter in die Bresche springen und die nötige Aufklärung leisten. Und das ist gut so. Denn nur so erhalten die Heranwachsenden Antwort auf ihre wichtigste Frage: Wie führt man die erste Nassrasur durch?

Bei mir war es damals nicht viel anders. So wich mein Vater diesem heiklen Thema aus, indem er, sobald er mich sah, hastig daran ging, den Kunstrasen auf unserem Balkon zu mähen. Zwar erhielt ich von meiner Mutter praktische Rasiervorschläge, diese waren aber eher für die Epilation haariger Waden geeignet. Also versuchte ich, mir selbstständig das nötige Grundlagenwissen anzueignen. Da ich von Gleichaltrigen nichts Brauchbares erwarten konnte, steuerte ich gleich das Internet an.

Ich war erstaunt, wie viele Informationen darin zu finden waren. Sehr interessant fand ich hierbei die Website der Vereinigten Unfallversicherungen (VUV), welche auf die Gefahren unsachgemäßer Rasuren hinwies. Besonders eindrucksvoll war dabei ein Unfall mit einer dieselbetriebenen Kettensäge dargestellt ...

Einen weiteren Aufklärungsschritt unternahm ich, als ich in der Stadt eines der zahlreichen Rasierfachgeschäfte betrat. Neben einer riesigen Ausstellungsfläche mit den verschiedenen manuellen und elektromechanischen Rasiergeräten, wies der Laden auch Kabinen für Proberasuren, eine gut dotierte Literaturecke und hoch qualifiziertes Personal auf. Außerdem bot das Fachgeschäft zu den verschiedenen Rasurarten auch Einführungs- und Weiterbildungskurse an, welche entweder in den hauseigenen Schulungsräumen oder für allein erziehende Väter auch als Fernkurse daheim durchgeführt werden konnten.

Ich hatte weder Zeit noch Geld zu verlieren. Zielbewusst suchte ich deshalb aus dem riesigen Angebot eine Dose mentholhaltigen Rasierschaum und eine Packung Einwegrasierer aus und legte sie in den Einkaufskorb. Nur beim Rasierwasser geriet ich aufgrund der immensen Auswahl ein erstes Mal ins Schwanken. Dann, nach nicht einmal zwanzig Sekunden, wurde ich von einem perfekt rasierten und auf ahnungslose Kunden abgerichteten Verkäufer ins Visier genommen.

"Darf ich Ihnen behilflich sein?"

"Nein danke, ich schaue mich nur um."

"Rasierwasser kann man nicht einfach nur anschauen: Man muss es mit allen Sinnen degustieren! Wollen Sie einige unserer Kreationen ausprobieren?"

"Nein, ich habe mich soeben gewaschen. Welches Rasierwasser können Sie mir so empfehlen?"

"Ein Geschenk?"

"Nein danke, ich kann es mir selbst leisten."

"Wie viel wollen Sie ausgeben?"

"Ich befinde mich noch in der Ausbildung."

"Haben Sie eine Freundin?"

"Nein."

"Dann empfehle ich Ihnen dieses Aftershave: Aviator - die frische Brise der Freiheit."

Ich nahm das vorgeschlagene Rasierwasser sofort an. Der Name klang gut, die Verpackung war ansprechend gestaltet und der Preis erschien moderat. Für den Kauf ausschlaggebend war aber auch die Tatsache, dass der Verkäufer mir plötzlich seltsam zublinzelte und ich deshalb schnellstens den Laden verlassen wollte!

Eines Morgens - nach wochenlangen inneren Auseinandersetzungen und umfassender Vorplanung - war es dann so weit: Zeit für meine erste Rasur!

Ich hatte vorsorglich den ganzen Mittwoch freigenommen. Obwohl so eine Rasur in der Regel ungefährlich vonstattengeht, ist man doch froh, wenn man, im Falle eines Notfalls, an einem Werktag ins Krankenhaus eingeliefert werden kann. An Wochenenden sind die Operationssäle nämlich nur von übermüdeten und unterbezahlten Praktikanten besetzt.

Ich hatte meine Familienangehörigen schon Wochen zuvor über mein Vorhaben orientiert. Trotzdem sah ich es meinem Vater diesen Morgen an, dass er in der vergangenen Nacht kein Auge zugemacht hatte. Und während ich mein Frühstück einnahm, weinte meine Mutter an der Türschwelle. Ich tröstete sie, indem ich darauf hinwies, dass moderne Einwegrasierer sicher in der Handhabung seien und dass auch die Medizin große Fortschritte bei der Blutstillung gemacht habe.

Dann, als wenn eine innere Uhr mir ein unwiderrufliches Signal gegeben hätte, erhob ich mich entschlossen vom Frühstückstisch. Der Zeitpunkt war gekommen!

Mit meinem Erste-Hilfe-Kasten unter dem Arm schritt ich zu unserem kleinen Badezimmer. Die ganze Familie begleitete still meinen Gang von der Küche zur Nasszelle. Dann, an der Türschwelle, stoppten meine Familienangehörigen und wünschten mir alles Gute. Ich kam mir wie ein Astronaut bei seinem ersten Mondflug vor. Einsam durchschritt ich die Schwelle und verriegelte die Tür hinter mir. Der Countdown lief.

Als ich mich so im 1,78 m2 kleinen Badezimmer wiederfand, schloss ich meine Augen. Ich ließ die Höhepunkte meines bisherigen Lebens wie einen Film vorbeiziehen: meine ersten Milchzähne ... mein erster Schultag ... meine erste Velofahrt ohne Stützräder ... mein erster Schultag zu Fuß und mit abgeschlagenen Vorderzähnen ... - kurzgefasst: Eine Tragödie nach der anderen flimmerte vor mein geistiges Auge. Unzählige Misserfolge, die jeden Normalsterblichen zur depressiven Resignation und zur sozialen Ausgrenzung geführt hätten; mich aber in meinem Vorhaben bestärkt hatten, trotz meinem jungen Alter eine Lebensversicherung abzuschließen.

Ich überlegte kurz, ob andere Kulturen ähnliche oder gar schlimmere Rituale aufzuweisen hatten. Mir fiel damals nur der Kuss der Eskimos ein. Ein zugegebenermaßen hinkender Vergleich, da das gegenseitige Reiben der Nasen unmittelbar keine Probleme birgt. Ganz im Gegenteil. Bei ihren eisigen Temperaturen ist diese Prozedur sogar mehr als willkommen.

Nicht so aber bei der Nassrasur: Dort kann jeder Schnitt potenziell der letzte sein! Ich war deshalb zum Schluss gekommen, dass Rasieren etwas Unnatürliches sei. Gleichzeitig war mir aber auch bewusst, dass ich meinem Schicksal nicht entgehen konnte. Was hätte ich sonst meinen Eltern draußen erzählen sollen, wenn ich unrasiert aus dem Bad gekommen wäre? Zu groß wäre die Schmach gewesen!

Nachdem ich mein Gesicht eingeseift hatte, befreite ich sowohl meinen Mund als auch meine Augen vom Rasierschaum. Ich schmunzelte, als ich mich daraufhin im Spiegel sah: Ich ähnelte einem Smile-Abzeichen - nur ohne Gelbsucht.

Dann wurde ich wieder ernst und griff zum Einwegrasierer. Meine Hand zitterte, als der Klingenkopf in die Schaumschicht eintauchte und ich den Rasierer über meine rechte Wange zog. Ich spürte wie die Barthaare schmerzlos am Wurzelansatz gekürzt wurden: ein veritables Gemetzel unterhalb der friedlichen Schaumschicht! Mir schauderte es bei diesem Gedanken - oder war es eher wegen des erfrischenden Mentholzusatzes im Rasierschaum?

Mit jedem Rasierzug wuchs meine Selbstsicherheit - und mein Leichtsinn. So kam es, dass ich die lästigen Schnauzhaare in nur einem Zug abrasieren wollte! Ich setzte deshalb den Klingenkopf über meinem linken Mundwinkel an, mit der Absicht, diesen energisch und horizontal über die Oberlippe zu ziehen. Aufgrund der etwas übertriebenen Schaumschicht hatte ich aber nicht bemerkt, dass die darunter liegende Nase dieses Manöver nicht zulassen würde. Erst als die Doppelklingen schmerzhaft mit meiner Nase zusammenstießen, erkannte ich den Ernst der Lage. Verzweifelt versuchte ich, mit dem Rasierkopf Höhe zu gewinnen, erreichte aber dadurch nur, dass mein gesamter linker Nasenflügel inklusive Nasenspitze wie eine Kartoffel geschält wurde!

Ich biss mir auf die Lippen, um das Schreien zu unterdrücken - schließlich wollte ich meine Eltern draußen im Gang nicht unnötig beunruhigen. Mit unerhörten Schmerzen applizierte ich dann ein großes Heftpflaster um meine Nase. Bluten konnte sie so nicht mehr; leider konnte ich so aber auch nicht mehr atmen ...

Mit doppelter Vorsicht und mit dem Mund nach Luft schnappend, rasierte ich in der Folge meine linke Wange - dies ohne größere Probleme. Doch dann war die Gurgel-Hals-Kinn-Region an der Reihe: eine sehr gefährliche Gegend! Einem Minenfeld gleich verlaufen hier Dutzende von Halsschlagadern knapp unterhalb der Hautoberfläche. Selbst erfahrene Rasierer schaben sich mit Respekt unterhalb des Kinns. Es ist kaum zu glauben, wie viele Rasierunfälle mit tödlichem Ausgang allein diesem Hautbereich zugeordnet werden können. Um in den Statistiken nicht aufzufallen, werden darum viele dieser Unglücke als Jagdunfälle aufgeführt.

Von meinem Selbststudium her hatte ich erfahren, dass eine saubere und gründliche Rasur in der Halsgegend dadurch erreicht wird, dass man sich gegen den Haarverlauf rasiert. Darum hob ich den Kopf, legte den Rasierkopf auf meinen Adamsapfel und zog ihn, einem Skilift gleich, die Gurgel hoch. Alles verlief bestens. Ich glaubte schon, das Gröbste überstanden zu haben, bis ich schließlich zum Kinn gelangte. Ich hatte vergessen, dass mein Unterkiefer eine sehr seltene anatomische Missbildung aufwies, welche sich in einem ausgesprochen ausladenden Kinn manifestierte. So ausladend, dass der Klingenkopf daran hängen blieb und ich ihn ins Fleisch rammte! Abermals musste ich mir auf die Lippen beißen und wieder musste ein Heftpflaster mein Gesicht zusammenhalten!

Mit Müh und Not rasierte ich den restlichen Halsbereich, wohlweislich die Abrisskante meines Kinns meidend. Ich wusch mir danach den restlichen Rasierschaum vom Gesicht weg und betrachtete im Spiegel mein Tagwerk. Ich verstand nun, warum die erste Rasur ein Kind zum Mann macht: Leuchteten noch am Vortag meine rosigen Pausbacken in der Morgensonne, konnte ich nun mein Gesicht nur bei Neumond zeigen: So sehr war es von unzähligen Narben und Abschürfungen gezeichnet! Des Weiteren hatte ich nun ein aufgeschlitztes Kinn, während meine Nase dank einigen noch erhaltenen Sehnensträngen der Schwerkraft trotzte. Es war ein Furcht einflößender Anblick, aber ich lebte!

Ich griff zum Aftershave. So viel Mut und Ausdauer mussten belohnt werden und mit Aviator wollte ich meinem Leben - und auch meinem Körpergeruch - eine neue Ausrichtung geben. Großzügig benetzte ich meine Hände und führte sie zum Gesicht ... Nach einer Schrecksekunde, in der sowohl die Zeit als auch mein Bewusstsein aufgehoben schienen, ging mein Antlitz in Flammen auf - oder so glaubte ich wenigstens. Von wegen frischer Brise der Freiheit! Mir war, als wenn ich, am Steuer eines Düsenjägers sitzend, ohne Frontscheibe gegen den Wind geflogen wäre! Instinktiv entfernte ich die Hände von meinem Gesicht und das Gesicht von meinen Händen. Aufgrund dieser hastigen Doppelbewegung schlug mein Hinterkopf hart gegen die Badezimmerwand. Zwar blutete ich nicht am Kopf, dafür aber an den zerbissenen Lippen. Erst später erfuhr ich, dass Aviator in erster Linie als Flugsprit für Modellflieger verkauft wurde.

Nachdem ich, mich einige Minuten am Wannenrand haltend, mich wieder fassen konnte, kam der Zeitpunkt, mich der Außenwelt und meiner Familie zu stellen. Als ich die Badezimmertür öffnete, wurde ich von zahlreichen Blitzlichtern geblendet. Meine kleine Schwester sah sich nämlich berufen, das Familienalbum mit peinlichen Fotos unser aller ständig zu erweitern. Erschöpft fiel ich in die Arme meiner Mutter, die mich mit Freudentränen küsste. Ich wurde ins Wohnzimmer gebracht, wo ich ausnahmsweise im Fernsehsessel meines Vaters Platz nehmen durfte. Nur am Rande nahm ich wahr, wie meine Mutter unsere unzähligen Verwandten in Sizilien anrief, um sie von meiner geglückten ersten Rasur zu unterrichten.

Meine Gedanken waren aber ganz woanders. Ich musste mich jetzt ausruhen, da mir in naher Zukunft noch weitere Prüfungen bevorstanden. Abwesend lächelte ich meiner strahlenden Mutter zu, während ich das nächste Ziel vor Augen hatte: meine erste selbst geknotete Krawatte! Was würde da wohl alles schiefgehen können?



Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.

Ein haariges Lesevergnügen
Noch mehr haarige Geschichten finden Sie in dem Buch, das aus unserem Wettbewerb "Abenteuer im Frisiersalon" hervorgegangen ist.

Abenteuer im Frisiersalon Abenteuer im Frisiersalon
Hrsg. Ronald Henss
Dr. Ronald Henss Verlag
ISBN 978-3-9809336-0-5

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